Suchttherapie 2011; 12(2): 55-56
DOI: 10.1055/s-0031-1275722
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die pathologische Nutzung Neuer Medien – Eine neue alte Sucht-Debatte

Pathological Internet Use – A New Old Addiction DebateT. Hayer, M. Rosenkranz
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Publication Date:
16 May 2011 (online)

Dipl.-Psych. Tobias Hayer

Dipl.-Soz. Moritz Rosenkranz

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

technologische Weiterentwicklungen verändern traditionelle Wert- bzw. Normvorstellungen und prägen menschliche Kommunikations- und Interaktionsmuster in substanzieller Weise. So hat in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem das Internet das Alltagsgeschehen nachhaltig transformiert [1]. Während mit dem Cyberspace auf der einen Seite eine Vielzahl an positiven Anwendungsbezügen verknüpft ist, lenken auf der anderen Seite nicht nur Kulturpessimisten die Aufmerksamkeit auf die (Sucht-)Gefahren, die von den sogenannten Neuen Medien ausgehen. An erster Stelle werden die maßlose Beschäftigung mit internetbasierten Computerspielen, das exzessive Chatten und das nicht mehr einzudämmende Surfen im Netz genannt und plakativ mit Begriffen wie „Internetsucht”, „Onlineabhängigkeit” oder „Cyberdisorder” besetzt. Ein Blick in die Kulturgeschichte genügt allerdings, um zu erkennen, dass derartige pathologisierende Zuschreibungsprozesse keineswegs ein Phänomen des 21. Jahrhunderts darstellen: Wurde mit Erfindung des Buchdrucks noch die lesewütige Jugend beklagt und konsequenterweise vor der Lesesucht gewarnt, tauchten im Zuge des technologischen Fortschritts Begriffe wie Telefonsucht, Fernsehsucht oder SMS-Sucht auf. Im Zeitverlauf konnte zugleich aber auch beobachtet werden, dass sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Anpassungsprozesse – vermittelt über eine Abschwächung des Neuigkeitseffekts, soziale Lernmechanismen oder gezielte Präventionsmaßnahmen – die Risiken und Gefahren innovativer Technologien relativieren ließen (vgl. für eine ähnliche Diskussion mit Fokus auf Glücksspiele und Glücksspielsucht mit LaPlante und Shaffer [2]). Demgegenüber kann argumentiert werden, dass gerade das Internet eine Technologie verkörpert, mit der gänzlich neuartige mediale Angebote entstanden sind und weiterhin entstehen werden, die bei entsprechend vulnerablen Personengruppen tatsächlich eine (suchtähnliche) fehlangepasste Nutzung begünstigen können.

Passend hierzu besteht in der Fachliteratur nach wie vor große Uneinigkeit darüber, wie Störungen im Zusammenhang mit den Neuen Medien nosologisch zu fassen sind. Befürworter des Suchtansatzes begründen ihre Sichtweise vornehmlich mit phänomenologischen, symptomatologischen und neurowissenschaftlichen Argumenten; Gegner des Suchtkonzeptes sehen in dem Störungsbild entweder eine eindeutig abgrenzbare psychosomatische Erkrankung oder aber interpretieren die Belastungen der Betroffenen als Ausdruck einer anderen Primärerkrankung (z. B. Depression oder soziale Ängstlichkeit). Bezeichnenderweise spiegelt sich diese Unschärfe – zumindest auf sprachlicher Ebene – bei der augenblicklich diskutierten Neuordnung des psychiatrischen Klassifikationssystems „Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen” (DSM-5) wider. Zwar hat sich die zuständige Arbeitsgruppe Substance-Related Disorders Work Group für den Oberbegriff „Sucht und zugehörige Störungen” (Addiction and Related Disorders) und damit für die prinzipielle Öffnung dieser Rubrik auch für stoffungebundene Suchtformen ausgesprochen [3] [4]. Gleichwohl soll die zukünftig als „Disorded Gambling” gefasste Glücksspielsucht bis dato die einzige Diagnose bleiben, die als Verhaltenssucht den Suchterkrankungen zuzuordnen ist. Zudem deutet sich an, ein als „Internet Addiction” bezeichnetes Phänomen vorläufig im Anhang unter denjenigen Störungskategorien aufzulisten, für die noch gesonderter Forschungs- und Klärungsbedarf besteht. Wenngleich diese Entwicklungen im Kern dem vorliegenden Forschungsstand entsprechen, dürfte das undifferenzierte Label „Internetsucht” ein nicht unbedeutendes Ausmaß an Verwirrung stiften. Augenfällig macht nicht das Internet per se süchtig; allenfalls können bestimmte Anwendungsbezüge, wie etwa Onlinerollenspiele, aufgrund spezifischer Strukturmerkmale mit exzessiv-schädlichen Verhaltensmustern assoziiert werden. Eine präzisere Sprachregelung einschließlich der detaillierten Erforschung derjenigen Komponenten, die webbasierte Fehlanpassungen in signifikanter Weise begünstigen, wäre hier sicherlich zielführend.

Abseits jener wissenschaftstheoretischen Kontroversen existiert ein nicht zu unterschätzender Bedarf an passgenauen und bedürfnisgerechten Präventions- und Interventionsangeboten für Betroffene und Angehörige (z. B. Eltern oder Lebenspartnern). Hauptsächlich das Fehlen von allgemeingültigen Standards sowie unklare Zuständigkeiten im Hilfesystem erschweren derzeit die effektive Versorgung dieser spezifischen Klientel. In diesem Zusammenhang ist explizit darauf hinzuweisen, dass eine pathologische Nutzung des Internets besondere Herausforderungen für die klinische Beratungs- bzw. Behandlungspraxis bedeutet. Zum einen mutet das Abstinenzgebot – im Sinne einer Totalabstinenz – weltfremd und sogar kontraproduktiv an, da es sich kaum ein Mensch heutzutage mehr privat oder beruflich leisten kann, in Gänze auf das Internet zu verzichten. Zum anderen bietet gerade das Internet die einmalige Chance, sich in niedrigschwelliger und relativ unkomplizierter Weise professionelle Hilfe zu suchen (z. B. via Online-Beratung und Einzelchats) oder sich mit Gleichgesinnten in themenspezifischen Foren auszutauschen. Schließlich darf der divergierende Stellenwert der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bei verschiedenen Generationen nicht außer Acht gelassen werden. Facebook, Twitter oder World of Warcraft gehören nahezu selbstverständlich zur Lebenswelt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen dazu, die Gruppe der sogenannten „digitalen Immigranten” (im Gegensatz zu den Digital Natives) lernt indessen derartige Web-Angebote zumeist gar nicht oder bestenfalls oberflächlich kennen. Missverständnisse, Vorurteile und vorschnelle Schlussfolgerungen sind häufig das Ergebnis. Noch stärker als bei anderen Formen von Problemverhalten ist daher auf den Baustein der Prävention zu setzen mit dem Ziel der Förderung eines verantwortungsbewussten und aufgeklärten Umgangs mit den Neuen Medien.

Aufgrund der Aktualität und Komplexität verwundert es kaum, dass sich im deutschsprachigen Raum in jüngster Vergangenheit mehrere Fachzeitschriften diesem Themenbereich angenommen haben. Die vorliegende Ausgabe weist dabei eine Besonderheit auf, da nicht nur bei der inhaltlichen Ausrichtung sondern auch bei den Beitragsformen auf eine gewisse Varianz geachtet wurde. Während das Interview mit Münker u. a. normative und kulturwissenschaftliche Aspekte der Nutzung Neuer Medien berührt, stellen Koch et al. im Rahmen einer Kasuistik die ambulante Behandlung einer süchtigen Online-Rollenspielerin und Schuhler et al. erste Evaluationsdaten eines stationären Behandlungskonzeptes für pathologische PC-/Internetuser vor. Weiterhin fassen Müller und Wölfling den aktuellen Kenntnisstand zur „Computerspiel- und Internetsucht” übersichtsartig zusammen; Rehbein et al. legen hingegen den Fokus auf eigene empirische Befunde zur Risikogruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ergänzend liefern te Wildt und Fischer im Zuge einer konstruktiven Kontroverse Argumente für bzw. gegen die These, dass der pathologische Umgang mit dem Internet als eigenständige Erkrankung im Sinne einer stoffungebundenen Sucht zu diagnostizieren sei. Mit dieser Vielfalt hoffen die Redaktion und die Gastherausgeber, den verschiedenen Implikationen des Phänomens der (pathologischen) Nutzung Neuer Medien gerecht geworden zu sein und einen Beitrag zu einer Debatte zu liefern, die Öffentlichkeit und Fachwelt noch länger beschäftigen wird.

Literatur

  • 1 Kim W, Jeong O-R, So J. The dark side of the Internet: Attacks, costs and responses.  Information Systems. 2011;  36 675-705
  • 2 LaPlante D, Shaffer HJ. Understanding the influence of gambling opportunities: Expanding exposure models to include adaption.  American Journal of Orthopsychiatry. 2007;  77 616-623
  • 3 Rumpf H-J, Kiefer K. DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte.  Sucht. 2011;  57 45-48
  • 4 Hayer T, Meyer G. Pathologisches Spielverhalten als Verhaltenssucht im DSM-5.  Rausch. 2010;  1 20-21

Korrespondenzadresse

Dipl.-Psych. T. Hayer

Universität Bremen

Institut für Psychologie und

Kognitionsforschung

Grazerstraße 4

28359 Bremen

Email: tobha@uni-bremen.de

Dipl.-Soz. M. Rosenkranz

Universität Hamburg

Zentrum für Interdisziplinäre

Suchtforschung

c/o UKE, Klinik und Poliklinik für

Psychiatrie und Psychotherapie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: tobha@uni-bremen.de

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