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DOI: 10.1055/s-0031-1276872
Alles gut mit Medikamenten? Oder alles neu?
Publication History
Publication Date:
08 September 2011 (online)
AD(H)S im Erwachsenenalter? Gab es zunächst noch Überlegungen, den Titel dieses Heftes mit einem Fragezeichen zu versehen, so kamen wir rasch zu dem Schluss, dass die große Diskussion um das Thema der Diagnose – ob es ADHS „überhaupt gibt oder nicht” – zumindest in der wissenschaftlich publizierenden Welt abgeschlossen zu sein scheint: und zwar zugunsten der Akzeptanz des Störungsbildes AD(H)S. Die Autoren des Standpunkte-Beitrages stellen dies nicht nur eindrucksvoll dar, sie kommen nach vielen Jahren der Beschäftigung mit dem Thema auch offensichtlich gar nicht mehr auf die Idee, dass man diese Frage noch stellen könnte. Und dies gilt sicher auch für viele Kolleginnen und Kollegen in der therapeutischen Praxis, die mit der steten Nachfrage nach Unterstützung durch von AD(H)S betroffene Erwachsene konfrontiert sind und die dieser Realität schwerlich eine akademische Diskussion um Krankheitsverläufe und retrospektive Erfassung von Symptomen in der Kindheit entgegensetzen können und wollen.
Aber kaum hatten wir uns von einem Fragezeichen befreit, zeigten sich andere: Als wir mit der Heftvorbereitung fast fertig waren, änderten sich die Rahmenbedingungen für die Verordnung von Methylphenidat im Erwachsenenalter. Obwohl dies für Autoren wie Herausgeber mit zusätzlichem Aufwand verbunden war, haben wir uns dazu entschlossen, die Beiträge, die sich auch mit dieser Thematik beschäftigen, entsprechend zu ändern – jetzt stellt sich die Frage: Wird dies in der psychotherapeutischen Praxis auch so sein? Oder kommt es gerade anders herum, wird sich der Aufwand mit diesen Patienten reduzieren? Werden wir künftig bei Menschen, die sich über 18-jährig mit einem ADHS oder einer entsprechenden Symptomatik bei uns vorstellen, als Erstes fragen, ob sie eine Medikation verordnet bekommen haben, dieses schon mal probiert haben, oder sich nicht erst mal bei einem ärztlichen Kollegen oder einer Kollegin vorstellen möchten, um diese Behandlungsoption zu versuchen? Oder werden wir eine Medikation erwägen, wenn „alles andere”, was immer das im Rahmen der eigenen Möglichkeiten auch heißt, ausgereizt ist? Eine dritte Variante wäre, dass wir die „Zweizügeltherapie” – also Medikation und Psychotherapie – zum Standard erklären und jeden Patienten, der eines von beiden nicht erhält oder durchführt, für ungenügend behandelt erachten. Vermutlich werden die Behandlungskarrieren unserer Patienten durch diese Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses bunter werden – ob sie auch zu besseren Effekten führen, wird noch zu zeigen sein.
Auf der anderen Seite könnte es aber vielleicht auch sein, dass sich gar nicht so viel ändert für die Behandlung vieler Betroffener, weil die „off-label”-Verordnung von Stimulanzien in vielen Ambulanzen und Praxen tägliche Praxis war.
Wie auch immer die Zukunft der ADHS-Behandlung aussehen wird, für die Gegenwart wird in diesem Heft deutlich: So sehr die Literatur auch verhaltenstherapeutisch dominiert zu sein scheint, so vielfältig sind die Problemlagen der Betroffenen. Neben einer oft weit in die frühe Kindheit reichenden Geschichte mit Defiziterleben finden wir immer wieder beeindruckende biografische Entwicklungen und alle möglichen Kombinationen aus Stärken und Schwächen, die die Lebenswege unserer Patienten zwischen erfolgreicher Nische und krimineller Delinquenz pendeln lassen. Immer wieder werden daher auf das Individuum zugeschnittene Therapiekonzeptionen in den Mittelpunkt gerückt, wie z. B. in den Beiträgen von Olaf Ballaschke oder Dieter Pütz, und zwar relativ unabhängig davon, ob es um psychosoziale Sichtweisen oder pharmakologische Behandlung geht. Nina Baer macht deutlich, welche Vorteile trotzdem oder gerade deshalb auch gruppentherapeutische Ansätze bieten können.
Viele Leser und Leserinnen werden die für PiD typischen Sichtweisen aus unterschiedlichen therapeutischen Schulen vermissen: Wir haben uns redlich und intensiv bemüht, sind an dieser Front aber kläglich gescheitert! Wenn dieses Heft dazu anregt, dass Kollegen mit psychodynamischem Hintergrund oder Vertreter einer anderen Psychotherapieschule sich zum Thema der Behandlung von Erwachsenen mit ADHS in der Fachöffentlichkeit äußern, wäre das eine wichtige Ergänzung zu unseren Bemühungen und eine erfreuliche Auswirkung unseres Heftes.
Denn unser Interview mit den Mitgliedern eines Qualitätszirkels niedergelassener Psychotherapeuten macht deutlich, dass sich die alltägliche Wirklichkeit in der therapeutischen Praxis von der publizierten Wirklichkeit zwar unterscheiden mag, aber dennoch ähnliche Strukturmerkmale erkennen lässt: Organisation von Behandlung im Sinne von Verbindlichkeit und Konsequenz, Probleme und Ressourcen in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Bedeutung von Resilienz als wesentlicher Faktor in der Therapie von erwachsenen Patienten, die in einer hochkomplexen Welt mit umfangreichen Interferenzanforderungen lernen müssen, ihren Weg zu finden. Spannend ist, wie sehr sich in aller Unterschiedlichkeit die Sichtweisen dann doch in ähnlichen Vorgehensweisen zusammenfinden, übrigens auch im Spannungsfeld zwischen psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Zugangswegen.
Allerdings werden auch Hinweise auf Versorgungsdefizite deutlich, die sich vordergründig am Problem der Diagnostik zeigen, sicherlich aber weit in die Behandlungsangebote hinein fortsetzen: Wenn Kollegen sich nur unzureichend ausgebildet, ausgerüstet und kenntnisreich erleben, sind Fehleinschätzungen sowohl im Sinne einer Überbewertung als auch im Sinne einer Unterbewertung der Beeinträchtigungen des Funktionsniveaus von Patienten vorprogrammiert. Probleme in der Indikationsstellung und im Antragsverfahren sind dann zwangsläufig die Folgen.
Um hier zu informieren, die Diskussion zu fördern und für eine Unterstützung dieser Patientengruppe zu werben, dazu soll dieses Heft anregen. Und möglicherweise liegt eine Lösung ja nicht in einem neuropsychologischen Testlabor für jede psychotherapeutische Praxis, sondern in einer intelligenten Vernetzung von diagnostischen und therapeutischen Angeboten einer Region.
Wir hoffen, Sie ein wenig neugierig gemacht zu haben, wünschen bei allem Bemühen um Wissenserweiterung auch Freude beim Lesen und sind gespannt auf Ihre Reaktionen.