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DOI: 10.1055/s-0031-1276889
Begegnung und Notwendigkeit[1]
Die Merkmale der Psychotherapie in ChinaPublication History
Publication Date:
08 September 2011 (online)
Im Jahr 1998, als ich eine Phase der Selbsterfahrung in Österreich durchlief, begegnete ich an einem Wochenende zufällig meinem Psychoanalytiker. Er schlenderte gerade gemütlich mit seiner Frau die Straße entlang, doch ich erstarrte und wusste nicht, was ich tun sollte. Ein Schamgefühl stieg in mir auf, ein Schamgefühl wegen der in der Selbsterfahrung herbeigeführten Entblößung. Sich im Badezimmer bis auf die Haut auszuziehen um zu duschen, ist eine ziemlich natürliche Sache, doch in aller Öffentlichkeit splitternackt umherzulaufen, war ich noch nicht gewohnt. Meinem Psychoanalytiker außerhalb der Therapie über den Weg zu laufen gab mir das Gefühl, vor den Leuten auf einmal völlig unbekleidet dazustehen, was mein entstandenes Schamgefühl wohl erklären mag.
Ein anderer Anteil mag vielleicht in der chinesischen Tradition gelegen haben, eine gewisse andere Einstellung zur Bildung, dass man den Lehrer verehren und die Älteren respektieren soll. In China gibt es den Spruch, der da lautet: „Edle und ihre Diener, Väter und ihre Söhne”[2]. Dieser Spruch definiert sehr streng die zwischenmenschliche Hierarchie und die daraus resultierende Haltung, die jeder entsprechend seiner Position einzunehmen hat. Trifft ein Kind auf seinen Lehrer oder die Eltern, so stellt sich bei ihm kein Gefühl von Vertrautheit oder Verbundenheit ein, sondern ein Gefühl der Ehrfurcht. Es stellen sich Fragen wie: War ich als Kind pietätvoll genug, habe ich etwas gemacht, was meine Eltern schlecht dastehen lässt? Als ich meinem Psychoanalytiker auf der Straße begegnete, fragte ich mich genauso, ob ich ihn und seine Ehefrau in Verlegenheit bringen könnte oder sie bei irgendetwas behindere. Könnte er sich freuen mich zu sehen? All diese Gedanken beschämten mich. Als mich mein Psychoanalytiker dann erblickte, lächelte er und stellte mich in ganz natürlicher Manier seiner Frau vor. Danach verabschiedete er sich mit einem „Auf Wiedersehen”. In den Sitzungen danach haben wir diesen Vorfall nie wieder erwähnt, doch diese Szene habe ich in all den Jahren nicht vergessen.
Im Jahr 2008 hatte ich eine 53 Jahre alte Patientin, die ich bereits seit zwei Jahren behandelte. Wir pflegten eine sehr positive Therapeut-Patient-Beziehung. Sie war schon lange alleinstehend und stand damals vor einer großen Entscheidung: und zwar ob sie einen zehn Jahre älteren, sehr an ihr hängenden, sehr geduldigen Italiener, der ihr schon einen Heiratsantrag gemacht hatte, zu ihrem Mann nehmen sollte. Sie berichtete mir, dass er für ein Bauprojekt zwei Jahre in China verweilte und nach Abschluss des Projekts, um ihr den Hof zu machen, jeden Monat nach Wuhan flog, um sie zu sehen. Eines Tages lief ich ihr und ihrem italienischen Freund auf der Straße über den Weg. Sie sahen mich nicht und wieder einmal stand ich da in großer Verlegenheit. Sollte ich sie begrüßen? Würde ich sie in Verlegenheit bringen, weil ich sie mit ihrem Freund sehe? Ich entschied mich zur Flucht. Bei der nächsten Sitzung erzählte ich ihr aus eigener Initiative, dass ich sie mit ihrem Freund gesehen hätte. Meine Patientin war sehr erfreut und fragte mit Bedauern, warum ich sie nicht gegrüßt hätte, ansonsten hätte sie mir sehr gerne ihren italienischen Freund vorgestellt. Sie fragte ganz genau nach all den Details, auf welcher Straße ich mich befunden hätte und wie sie und ihr Freund gewirkt hätten. Es wurde deutlich, dass sie sich darüber, ihrem Therapeuten auf der Straße begegnen zu können, sehr freute.
Ich kann mich immer noch genau an die Situation vor zehn Jahren in Österreich erinnern. Meine Reaktionen während der Ausbildung und später als Psychoanalytiker waren sich sehr ähnlich: um das Gegenüber besorgt sein und mich für mich selbst zu schämen. Meine Patientin ist zwar genau wie ich chinesisch und hat doch etwas Beneidenswertes an sich, eine von meiner abweichende Reaktion: Freude, Offenheit und Akzeptanz.
Ich empfinde ihr gegenüber einen gewissen Neid, dass ich als im Westen ausgebildeter Psychotherapeut nicht so unbefangen sein kann wie meine Patientin. Auf einmal war ich mir der Rolle, die ich während der therapeutischen Ausbildung auszufüllen gelernt habe, nicht mehr sicher: Mäßigung – nicht leichtfertig die eigenen Gefühle zum Ausdruck bringen; Anonymität – die eigene Privatsphäre nicht offenlegen. Das entspricht auch den Ansprüchen der chinesischen Tradition. Doch auf der Straße, bin ich da ein Therapeut oder ein gewöhnlicher Mensch? Oder anders gesagt, sind Therapeuten gewöhnliche Menschen?
In China unterteilt man gewöhnliche Menschen in zwei Kategorien: den „Edlen” und den „kleinen Mann”. Der bescheidene „Edle” ist anderen gegenüber ruhig und gesetzt. Der „kleine Mann” hingegen ist vor allem um seinen eigenen Nutzen besorgt, ist empfindlich und nachtragend. Man sagt, der „Edle” sei großmütig, der „kleine Mann” immer besorgt und bekümmert. Oder man sagt der „Edle” sei mild und einzigartig, der „kleine Mann” sich gleich und nicht mild. Milde und Einzigartigkeit des „Edlen” werden befürwortet, abweichende Gedankengänge sind ihm erlaubt. Er darf sich vom Rest der Gesellschaft abheben. Nun aber ist das Bild des „Edlen” im Spiegel der Gesellschaft gesehen ein sehr hoher Standard. Obwohl der Durchschnittsmensch kein „kleiner Mann” ist, so haben doch viele diese Art von Charakterzügen. Weil das Ideal des „Edlen” für die breite Masse unerreichbar ist, wird umso mehr „dem anderen gegenüber gut zu sein” als Maßstab für die durchschnittliche Bevölkerung befürwortet. „Dem anderen gegenüber gut zu sein” bedeutet, dass man nicht leichtfertig Diskussionen anfängt, Konflikte provoziert, und bei Widersprüchen diese umgeht und erträgt.
Im Jahr 1972 wurde der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni von der chinesischen Regierung eingeladen, eine Dokumentation namens „China” zu drehen. Er drehte viele Szenen, in denen Menschen in kleinen Gruppen Politik diskutierten und studierten. Zu diesen Bildern sagt ein Sprecher einen Satz, der nachdenklich stimmt: „Sie diskutieren lebhaft, man kann sehr viel über Ideen und Vorsätze für die Zukunft hören, aber es gibt keine Diskussionen mit Konflikten.”
Die Therapie schafft eine vom Menschen gemachte Umwelt, in der Konflikte herausragen, die man von einer nicht ganz alltäglichen Einstellung ausgehend diskutieren muss. Man könnte sagen, dass genau diese Einstellung dem „gewöhnlichen Menschen” fehlt.
Im Jahr 1988 veranstaltete eine Repräsentantengruppe deutscher Therapeuten in Qingdao eine erste Demonstration von Familientherapie.
Helm Stierling sagte zu einem körperlich stark behinderten Jungen, dass er es gut hätte so krank zu sein, weil sich dadurch die Eltern gemeinsam um ihn kümmern würden. Anwesend waren viele festländische, berühmte, alteingesessene Fachärzte, die – als sie den Deutschen zu dem kranken Kind diesen Satz sagen hörten – sehr verwundert waren und immer wieder fragten, ob sie sich nicht verhört hätten. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass es kein Missverständnis war, meinten sie, dass man so etwas nicht einfach so übersetzen könnte. Diese alteingesessenen Fachärzte waren es gewohnt Kranke zu heilen, nicht aber die Krankheit an sich noch zu verstärken.
In all ihrer erfahrenen medizinischen Bildung ist des Arztes heilige Pflicht, die Sterbenden zu retten und die Verwundeten zu heilen, in Zusammenarbeit mit den Familienangehörigen den Kranken zu verarzten, sodass die Krankheit schließlich geheilt wird. Wenn man dieses Phänomen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, so wird klar, dass die alteingesessenen Fachärzte und die Eltern den gleichen Wunsch haben. Die Eltern meinen, dass das Kind krank sei, und hoffen, dass diese Krankheit geheilt werden könne. Anders ausgedrückt, die Ärzte wollen mit den Eltern nicht in Konflikt geraten und haben in den meisten Fällen keine Bedenken mit dem Kranken, dem Kind, Differenzen zu haben. Hier spielen zwei Beziehungen eine Rolle: Die eine ist die zwischen gewöhnlichen erwachsenen Menschen, die versuchen Konflikte zu vermeiden. Die andere ist die Beziehung zwischen Autorität und Hilfesuchendem, in der die Autorität keine Hemmungen davor hat den Hilfesuchenden zu kränken.
Vor ein paar Tagen sah ich in der Ambulanz eine Mutter mit ihrem Sohn. Ich bemerkte, wie die Mutter ihm im Wartezimmer Milch und das Frühstück reichte und hinter ihrem 23-jährigen Sohn hinterherlief. Dieser stolzierte umher und aß wie selbstverständlich sein Brot. Als er damit fertig war, schmiss er das Papier einfach auf den Boden und spuckte. Als wir mit der Sitzung begannen, sprach er ohne auch nur Notiz von anderen zu nehmen darauf los, seine Mutter fing an zu weinen, woraufhin er sie entnervt zum Schweigen brachte und sich darüber aufregte, dass sie ihn gestört hatte. Ich sagte zu ihm: „Halt den Mund.” Er sah mich ungläubig an und sprach weiter. Ich wiederholte noch einmal: „Halt den Mund.” Er wurde ganz nervös, sagte, er sei der Patient und wolle nicht so behandelt werden. Ich erhob meine Stimme und wiederholte noch einmal: „Halt den Mund.” Er wurde immer unruhiger und meinte, er sei bereit zu gehen. Ich sagte zu ihm, dass ich hoffe, er mache eine Therapie. Wenn er sich von mir behandeln lassen wolle, sei das Einzige, was er gerade zu machen habe, den Mund zu halten. Am Ende entschied er sich zu bleiben. Er sah aus, als ob es ihm sehr schwerfiele, doch er hielt endlich den Mund. Mit dabei waren noch einige Praktikanten und Ärzte, denen ein Schrecken durch Mark und Bein fuhr. Sie hatten nie darüber nachgedacht, solche Maßnahmen zu ergreifen.
Diese beiden Beispiele zeigen sehr deutlich, wie ein Konflikt in einer vom Menschen geschaffenen Umgebung der Therapie dienen kann. Der deutsche Therapeut versuchte dies durch Lob der Krankheit, er betonte den Nutzen und die Funktion der Krankheit, wodurch die konfliktreiche Beziehung der Eltern zum Kind hervortrat. Ich hieß dieses verhätschelte Kind seinen Mund halten und ließ den Sohn und seine Mutter – nach Fairbairns Beschreibung das libidinöse Objekt – ein künstlich erzeugtes zurückweisendes Objekt erleben.
Können chinesische Therapeuten wirklich eine kulturelle Gewohnheit des „zum anderen gut zu sein” erzeugen?
Chinesen tragen nicht gerne Konflikte aus und versuchen durch das Vertuschen der eigenen Fehler diese zu umgehen. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der modernen chinesischen Geschichte der 50er- bis 70er-Jahre, als das Volk die „Rechtsabweichler-Kampagne” und die „Kulturrevolution” durchlebte. In diesen Jahrzehnten wurden Intellektuelle, die ihre eigenen Ansichten äußerten und akademische Vorschläge darboten, einer falschen geistigen Haltung verurteilt, woraufhin sie in Arbeiterlager verschickt und öffentlich kritisiert wurden. Zur Zeit der Kulturrevolution wurden beim Linienkampf Konflikte und Dispute als Werkzeug missbraucht. Dadurch wurde aus kritischen Stimmen eine grausame körperliche Züchtigung bis hin zu einem misshandelnden Urteil. Andererseits brachten diese Konflikte und Dispute mit sich, dass man von der Position der Regierung abweichende politische Ansichten unterdrückte. Diese anderen Stimmen und Ansichten wurden als falsche innere Einstellung tituliert, was im Laufe der Zeit zu einem System führte, in dem es nur noch eine Art von Stimme und eine Art zu denken gab.
Der Konflikt im oben erläuterten System brachte einen vorhersehbaren Sprachgebrauch hervor, wie:
Der und der hat kapitalistische ungesunde Gedanken! Kapitalismus = ungesund = ein Stück Dreck. Dazu gehört, Gedanken an Liebe, Selbstbefriedigung oder romantische Gemütsstimmungen zu mögen! Der Kampf von Materialismus gegen Idealismus: Ich war früher Neurologe. Meine Lehrerin hatte vor dem Zweiten Weltkrieg an der Universität Moskau Medizin mit Neuropathologie im Hauptfach studiert. Sie beherrschte Deutsch und Russisch. Nachdem sie in den Ruhestand gegangen war, bat ich sie, mir ab und zu bei der Übersetzung von deutscher Fachliteratur behilflich zu sein. Bei der Übersetzung neuropathologischer Schriften war sie mit großer Begeisterung bei der Sache. Einmal ließ ich sie ein Dokument über Psychotherapie übersetzen, doch nach drei Tagen gab sie es mir zurück und sagte: „Das ist alles idealistisches Zeug, ich verstehe davon nichts und ich billige es auch nicht. Davon bekomme ich nur Kopfschmerzen.” Partei- und Gesellschaftsfeindlichkeit: Falls die oben beschriebenen Menschen mit dem System im Widerspruch stehen, dann stehen sie auch im Widerspruch zu mir. Um diesen Widerspruch aufzulösen, nehme ich einen Stock und schlage ihn zu Tode, ohne ihm die Chance zu geben zu entkommen. Natürlich kann man hier nicht mehr von Diskussionen und Disputen reden.
Am Ende der 70er-Jahre durchlief China eine politische Wende. Seit Anfang der 80er-Jahre gewann die Wirtschaft im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik zunehmend Einfluss auf den Bereich der Politik. Heute haben die Menschen eine andere Einstellung zu dem, was sich vor 30 Jahren ereignet hat: Was damals noch als abweichendes Denken und Verhalten galt, wird mittlerweile nicht mehr als Problem des Bewusstseins gesehen. Erste Arbeitsschritte wurden im Bereich psychologischer Beratung und Psychotherapie Anfang der 80er-Jahre an Universitäten und in Krankenhäusern unternommen. Ab Mitte bis Ende der 80er-Jahre nahm die Entwicklung ein so rasantes Tempo an, dass viele Beschäftigte in diesem Bereich keine systematische westliche Ausbildung im Bereich der Psychotherapie erfahren haben. Ihre Denkweise und Einstellungen bewegen sich immer noch in den bestehenden Formen der drei oben beschriebenen Sprachmuster. Um ein Beispiel zu nennen: Homosexualität wird als schlechtes Gedankengut oder Geisteskrankheit angesehen. Entweder wird versucht zu überzeugen zu einem „normalen ungleichgeschlechtlichen Liebesverhalten” zurückzukehren oder es wird als eine Geisteskrankheit gesehen und dementsprechend behandelt. Wenn ein junger Mann und eine junge Frau eine Liebesbeziehung eingehen und der männliche Partner sich nach Bestehen der Universitätseingangsprüfung von der Frau trennen möchte, wird dies als moralisch degeneriert angesehen. Das Ziel der ideologischen Arbeit besteht nun darin diese Sorte von Menschen zu lehren, ihre Meinung zu ändern. Oft beschreibt man diese Sorte von Mensch mit dem Namen „Chen Shimei”. „Chen Shimei” ist ein Charakter aus einem klassischen chinesischen Theaterstück, der von der Familie seiner Frau finanzielle Unterstützung erhält. Nachdem er die Beamtenprüfung bestanden und seinen Posten bezogen hat, verlässt er die Frau, die diese Zeit mit ihm durchgestanden hat. Letztendlich wird er zum Tode durch Enthauptung und 1000 Jahren Schande über seinen Namen verurteilt.
Nach Mitte der 80er-Jahre wurde Homosexualität als Diagnose aus der Diagnoseklassifikation für Geisteskrankheiten gestrichen. Auch heutzutage wird Homosexualität in der Regel nicht mehr als falsches Gedankengut betrachtet. Eine Liebesbeziehung zu beenden ist mittlerweile auch nicht mehr ungewöhnlich. Wenn früher eine Frau vor der Hochzeit schwanger wurde, wurde ihr fehlende Willensstärke unterstellt, die Schuld war sozusagen bei ihr zu suchen. Heutzutage überlegt man mehr, wie man die Rechte von Schwangeren und ungeborenen Kindern besser schützen kann.
Nach den 90er-Jahren gewann die Psychotherapie als Wissenschaft allmählich an Akzeptanz. Sie ist mit ideologischer Erziehungsarbeit nicht zu vergleichen; die Expertise liegt darin, den Menschen bei der Lösung ihrer privaten und beruflichen Probleme zu helfen. Dazu gehört, dass es erlaubt ist, frei über die häusliche Privatsphäre, Arbeitsbeziehungen und andere sensible Themen wie Geschlecht, Affären, bis hin zu Verbrechen oder in der Vergangenheit tabuisierte politische Themen zu sprechen. Das bedeutet, dass die Chinesen bei ihren gesellschaftlichen Beziehungen eine neue Ebene erreicht haben: Willkür und Despotie werden durch Gleichberechtigung, Kontrolle und Zwang durch Akzeptanz ersetzt. Ein pluralistischer Blickwinkel verdrängt die steife und starre Ideologie.
Unter solchen Umständen wird das Element der Ideologie langsam in den Hintergrund gedrängt und abgeschwächt, während die dadurch entstehenden Konflikte bezüglich kultureller Bräuche und Sitten, wie das oben beschriebene „zum Anderen gut zu sein”, bei gleichzeitiger Befürwortung von Wettbewerb und dem Aufprall und Verschmelzen verschiedener Kulturen immer deutlicher hervorstechen. Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im Jahr 2008 stand das Motto unter dem chinesischen Schriftzeichen „he”, was für den Wunsch nach „hexie-Harmonie” bzw. „Streben nach Harmonie” steht. Der Hintergrund dieses Wunsches ist eine Reaktion auf die immer stärker hervortretenden Konflikte, die sich in der chinesischen Gesellschaft unter dem Einfluss der weltweiten Globalisierung und dem Spannungsverhältnis zwischen Ost und West, Markt- und Planwirtschaft, alte Tradition und neue Wertvorstellungen, Kollektivismus und Individualismus, unterschiedlichen Glaubensvorstellungen usw. immer deutlicher abzeichnen.
Wenn man also davon ausgeht, dass das gesellschaftliche Bewusstsein mit der Realität der äußeren Umwelt in Verbindung steht und die Menschen zu einer kontrollierenden, ja geradezu groben Lösungsstrategie der äußeren Konflikte greifen, so weist das darauf hin, dass die Konflikte sich vor dem kulturellen Hintergrund sehr lange akkumuliert haben müssen, der Natur der chinesischen Kultur entspringen und negativ internalisiert wurden. Um es in anderen Worten auszudrücken: Die in der Vergangenheit durch den Kampf um das „richtige Bewusstsein” hinterlassenen psychologischen Traumata verstärken diesen inneren Konflikt und kommen in einer solchen psychotherapeutischen Konstellation zum Ausdruck. Um die von mir beschriebene Ansicht weiter zu verdeutlichen, möchte ich nun ein Beispiel über das Schamgefühl anführen:
Oft wird der Unterschied zwischen Ost und West am Scham- und Schuldgefühl festgemacht. Ersteres verweist auf eine Schamkultur, letzteres auf eine Schuldkultur. Nach Ruth Benedict beruht die Schamkultur auf einer äußeren Instanz, die Fehlverhalten sanktioniert, wobei die Schuldkultur eine innere Überzeugung ist, was so faktisch nicht ganz richtig ist. Der deutsche Philosoph Max Scheler zeigt in seinem Aufsatz „Über Scham und Schamgefühl”, dass, solange der Mensch lebt, er aus der Essenz und der Existenz besteht. Die vollendete Existenz des Menschen wird durch die Ordnung der Essenz, die sich in Form der Seele oder des Geistes äußert, erreicht. Die Existenzordnung ist eine animalische Naturordnung, sodass der Mensch als eine Brücke zwischen dem Animalischen und Geistigen zu verstehen ist. Die Existenz eines Schamgefühls ist vom Menschen und seiner Essenz nicht trennbar, es entspringt aus dem Bewusstsein der eigenen existierenden Essenz. Wie Mencius schon sagte: „Der, der ohne Schamgefühl ist, ist kein Mensch.”
Was haben Scham und Schuld nun gemeinsam und was unterscheidet sie voneinander? Die Psychoanalytikerin Helen Block Lewis schreibt: Scham bezieht sich direkt auf das Selbst, während bei der Schuld nicht das Selbst Objekt der negativen Bewertung wird, sondern der Fokus auf den vollzogenen Taten liegt. Scham ist ein äußerst kritischer Bewusstseinszustand, in dem das Selbst gespalten ist, so als würde man das Selbst durch die Augen eines anderen betrachten. Bei der Schuld dagegen bleibt das Selbst vereint und ungespalten.
Ein Schamgefühl bedeutet, dass wenn ein Individuum die Norm verletzt und sich daraufhin hilflos fühlt, ein auf das eigene Selbst bezogener Schmerz erfahren wird. Sehr starke Schamerfahrungen beinhalten immer zwei Arten von Gefühlen: ein Gefühl der Anomalität und Minderwertigkeit sowie eine Deprivation des Selbst. Eine klassische Beschreibung lautet: „Wenn andere von meinen Mängeln erfahren, lachen sie mich aus, verachten mich und stoßen mich aus.” Das Schamgefühl kann also als ein extremer Ausdruck des Verlusts von Anerkennung gesehen werden.
In China wird im klassischen Sprachgebrauch das Schamgefühl in Verbindung mit dem „Gesicht” benannt. In der Realität beinhaltet das Konzept des Gesichts beispielsweise die Schulnoten der Kinder, die berufliche Stellung, das familiäre Einkommen bis hin zur Wohnung und anderen Äußerlichkeiten. Doch scheinbar sind es meist die armen Leute, die keine hohe gesellschaftliche Stellung genießen, die besonders kleinlich sind und viel Wert auf ihr „Gesicht” legen, wodurch sie besonders leicht verletzlich sind bzw. sie sich besonders schnell verletzt fühlen. Aber auch unter den reichen Leuten, deren gesellschaftliche Stellung hoch genug ist, protzen viele mit ihrem Reichtum, geben an, sind nicht selbstbewusst und fühlen sich minderwertig. Anders gesagt, es gibt zwar in der Realität einen himmelweiten Unterschied zwischen diesen zwei Schichten, aber diejenigen, die ein wirkliches Selbstwertgefühl und Selbstachtung in sich tragen, sind wohl nur die wenigsten.
Hierzu ein Beispiel:
Ein 27 Jahre altes Ehepaar kam wegen des aggressiven Verhaltens ihres zweieinhalbjährigen Sohnes in Behandlung. Das wohl typischste Merkmal für die Aggressivität des Kindes war die Kinder anderer Leute zu beißen. Dies geschah fast jeden Tag, sodass regelmäßig Beschwerden von Lehrern und anderen Eltern eingingen. Die unterschiedlichen Einstellungen der Elternteile, wie nun mit dem Kind zu verfahren sei, wurden nun zum Hauptquell ihres Konflikts. Die Eltern hatten jeweils einen Abschluss in Kindergartenpädagogik und waren beide Kommilitonen aus der Universitätszeit. Nachdem sie vor vier Jahren ihren Abschluss an der Universität gemacht hatten, gründeten sie einen eigenen privaten Kindergarten. Vor zwei Jahren hatten sie geheiratet und bekamen einen Sohn. Da die beiden aus derselben Stadt stammen, hatten sie nach Gründung des Kindergartens ihr Eigenheim direkt im Gebäude des Kindergartens eingerichtet. Der Ehemann war der Direktor des Kindergartens und hoffte, dass noch mehr Eltern ihre Kinder im eigenen Kindergarten anmelden würden. Jedes Mal, wenn andere Kinder vom eigenen Sohn gebissen wurden und dies neue Beschwerden verursachte, schlug und bestrafte er den eigenen Sohn sehr hart, um ihn danach mit Gewalt zu Hause einzuschließen. Jedes Mal, wenn die Mutter ihren Ehemann dabei sah, rannte sie herbei und fing an lauthals mit dem Ehemann zu streiten. Allerdings gab die Mutter auch zu das Kind zu schlagen, wenn sie sah, dass es Fehler machte oder sie selbst zu entnervt war.
Aus einem westlichen Blickwinkel betrachtet trennte der Vater Privates nicht von Geschäftlichem und hatte eine Neigung zur Gewalttätigkeit. Diese Gewalt ist vom Standpunkt der Bindungstheorie aus betrachtet mit der eigenen Erfahrung von Gewalt zu begründen. Der Therapeut führte mit dem Vater während einer Sitzung ein Gespräch, das ungefähr so klang:
Therapeut: Sie beschrieben sich als eine sehr gelassene Person, mit guten zwischenmenschlichen Beziehungen. Trotzdem weisen Sie ihrem Sohn gegenüber ein gewalttätiges Verhalten auf. Was denken Sie, womit das etwas zu tun hat?
Vater: Mit der Beziehung zu meinem Vater.
Therapeut: Könnten Sie das näher ausführen?
Vater: Mein Vater ist ein sehr gewaltsamer Mensch. Ich kann mich daran erinnern, als ich klein war, ungefähr im Alter von fünf bis sechs Jahren, verließen meine Eltern immer das Haus, um ihren Geschäften nachzugehen. Jeden Tag waren sie den ganzen Tag weg. Jedes Mal lief ich ihnen bis zum Dorfeingang nach, hielt mich an ihren Ärmeln fest und wollte sie nicht gehen lassen. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Großmutter väterlicherseits. Ich erinnere mich an einen Tag im Winter, ich war fünf oder sechs Jahre alt, wollte ich sie wieder nicht gehen lassen. Mein Vater riss mich am Ohr so stark zur Seite, dass es einriss.
(Als er diese Szene beschreibt, lächelt der Patient, im Therapeuten stieg ein Gefühl der Traurigkeit auf.)
Weil mein Vater mein Ohr kaputt gerissen hatte, machte ihm meine Mütter Vorwürfe und blieb meinetwegen zu Hause, um meine Wunde zu versorgen. Sie ging eine Woche nicht raus, was mich ziemlich glücklich machte.
Therapeut: War Ihr Vater auch zu Ihrer jüngeren Schwester so?
Vater: Nein, zu meiner Schwester war er immer sehr gut. Er hat sie nie geschlagen.
Therapeut: Hat Ihr Vater früher auch häusliche Gewalt erfahren?
Vater: Ja. Ich habe noch zwei weitere Onkel. Mein Großvater war sehr gewalttätig und schlug seine Kinder oft, einschließlich meiner Großmutter. Da ich der einzige Enkel in unserer Familie bin – meine Onkel haben nur Töchter – wurde ich von meinem Großvater sehr geliebt. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn je wütend gesehen zu haben, doch laut den Erzählungen meiner Großmutter hatte er sie, meinen Vater und seine Brüder oft geschlagen.
In diesem Beispiel ist der Vater der Direktor des eigenen privaten Kindergartens und befürchtet, dass andere Eltern ihre Kinder nicht mehr in den eigenen Kindergarten gehen lassen. Deswegen fällt die Bestrafung des Kindes vor allem vor den Augen anderer noch viel strenger aus.
Vor der oben beschriebenen, allseits bekannten Objektbeziehungstheorie ist die Haltung des Vaters gegenüber seinem Sohn sehr verständlich. Der Sohn beneidet die anderen Kinder, weswegen er diese Art der Symptomatik aufweist. Abgesehen davon kann man dieses Problem auch von einem spezifisch chinesischen Kulturstandpunkt aus betrachten, der besagt, dass der Mensch bescheiden sein soll und Nachsicht üben muss. Von klein auf wächst man in einer Welt des „Kong Rong bietet Birnen an” (Kong Rong ist ein Literat aus dem Ende der Han-Zeit aus den Jahren 153 bis 208. Er ist Konfuzius Enkel in der 20. Generation. Im Drei-Zeichen-Klassiker heißt es: „Als Rong vier Jahr, konnte er schon Birnen anbieten.” Damit ist gemeint, dass Kong Rong mit vier Jahren die etwas größeren Birnen seinem älteren Bruder überließ). Wenn ein Kind frech ist, wird das nicht als Ausdruck individueller Lebendigkeit gesehen und als nicht zu unterstützende Verhaltensweise behandelt. Wenn ein Kind andere beißt, wird das nicht als zornige Reaktion des Kindes auf seine erfahrene Ungerechtigkeit verstanden, sondern es verhält sich unhöflich und zeugt von mangelnder Erziehung. Es ist ein Ergebnis der Fehlerziehung der Eltern – das Kind hat das Gesicht der Eltern verloren.
Wenn man den Zornesausbruch des Vaters über seinen Sohn noch tiefer ergründet, wird deutlich, dass dieses Beispiel mit der von mir am Anfang der Rede geschilderten Situation, wie ich meinem Analytiker in Innsbruck auf der Straße begegnete und mich hilflos fühlte, denselben Ursprung hat: das Gefühl, andere Leute zu stören, zu belästigen, als hätte man den Personen etwas Unverzeihliches angetan. Ich habe meinen Therapeuten, der ungefähr in dem Alter meiner Eltern ist, in Verlegenheit gebracht; es fühlte sich an, als hätte ich das Gesicht meiner Eltern verloren. Kein Ansehen wird oft als „das Gesicht zu verlieren” bezeichnet, von einer Mikroebene aus gesehen ist es das Gesicht der Eltern, das verloren geht, auf einer Makroebene das der ganzen Familiensippschaft oder des Vaterlandes. Die in der chinesischen Tradition verankerte Auffassung „Unter dem Himmel ist alles eine Familie” wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sich selbst bilden, das Haus ordnen, um danach das Land zu regieren, dann herrscht Frieden unter dem Himmel. Ein Mensch ist nicht nur, und sollte nicht nur, sich selbst repräsentieren, sondern die Familie, das Vaterland und generell alles unter dem Himmel. Bei einer solchen makrokosmischen Geisteshaltung wirkt der Einzelne völlig belanglos und unbedeutend.
Einerseits bedeutet die Demonstration des Gesichtwahrens, mit anderen Nachsicht und sich selbst in Zurückhaltung zu üben. Eine andere Form der Demonstration ist seine eigenen Makel zu kaschieren, zum Beispiel so zu tun als hätte man verstanden, obwohl dem gar nicht so ist oder etwas aufzubauschen. Chinesische Austauschschüler in Deutschland verstehen oft aufgrund ihrer noch nicht ausreichenden Sprachkenntnisse nicht, was der Lehrer ihnen für Aufgaben erteilt, doch jedes Mal wenn sie gefragt werden: „Hast du das verstanden?”, antworten sie nur: „Ja, ja, ja.”
Als ich im Jahr 1997 in Ulm in einem neurowissenschaftlichen Labor arbeitete, hatte ich eine chinesische Kollegin, die gerade frisch aus China kam. Diese Kollegin wurde von einem deutschen Kollegen wiederholt ermahnt: „Ich muss gleich einen Film entwickeln, wenn das rote Licht an ist, komm bitte nicht in den Raum.” Sie nickte nur und sagte „in Ordnung”. Als das rote Licht anging, überlegte sie vielleicht, dass der Kollege gerade etwas Wichtiges von ihr wollte, woraufhin sie die Tür öffnete und fragte: „Wie bitte?” Zuzugeben, dass man selbst nicht befähigt ist, oder etwas nicht verstanden hat, kann einen Grund für einen Gesichtsverlust darstellen. Sein Gesicht wahren zu wollen, führt zu einer enormen Heuchelei und Prahlerei. Zum Glück entwickelt sich dieses Phänomen allmählich in eine positive Richtung und die Menschen kümmern sich mehr darum, was in der Realität zu tun ist.
Das oben genannte Beispiel des Vaters, der seinen zweijährigen Sohn schlägt, würde im Westen als Kindesmisshandlung gesehen werden, das unmittelbar auf Ebene juristischer Rechtsprechung verhandelt werden könnte. In China würde man hingegen in etwa so etwas zu Ohren bekommen: durch den Stock werden pietätvolle Kinder erzogen. Wenn die Eltern das Kind züchtigen und es körperlich bestrafen, wird das als normale Erziehungsmaßnahme empfunden. Es dient dazu, das Kind mit Dankbarkeit und Ehrfurcht den Eltern gegenüber zu erfüllen. Somit entsteht eine andere Quelle des Schamgefühls, die kindliche Pietät. Den Eltern gegenüber pietätvoll und ehrerbietend zu sein bedeutet, sich der Stellung der Eltern respektvoll zu beugen, denn unter dem Himmel gehört alles den Eltern. Der Sanskrit- und Pali-Experte Ji Xianlin, geboren am 6. August 1911, gestorben am 11. Juli 2009, hatte in Göttingen studiert, um dann nach China zurückzukehren, stand schon vor der Geburt des Sohnes mit ihm in Zwietracht. Ein Jahr, nachdem der Vater verstorben war, schrieb der Sohn eine Autobiografie, in der er über die Streitigkeiten zwischen ihm und seinem Vater berichtete. Die Veröffentlichung des Buches sorgte für öffentliche Entrüstung in den Buchläden. Viele Menschen hielten es für falsch, als Sohn die Unzufriedenheit dem Vater gegenüber in aller Öffentlichkeit zu diskutieren, das sei nicht pietätvoll. Denn Eltern gegenüber pietätvoll zu sein heißt nicht nur den Eltern gegenüber gewisse Tabus zu beachten, sondern sich ihnen auch zu fügen.
Die kindliche Pietät findet auch seinen Ausdruck im Zeugen von Nachfahren, und zwar männlichen Nachfahren. „Es gibt drei Formen des pietätlosen Verhaltens, keine Nachfahren zu zeugen ist das Schlimmste davon.” (Erstens: Egal was die Eltern sagen, ob Recht oder Unrecht, sich ihnen nicht zu beugen und zu gehorchen; zweitens: Wenn die Familie arm ist und die Eltern alt sind, die Eltern nicht zu versorgen; drittens: keine Frau zu heiraten und keine Nachfahren zu zeugen, sprich die Ahnenreihe zu unterbrechen.)
Aufgrund dieser großen kindlichen Pietät trifft man in Kliniken oft auf weibliche Patienten, die durch und durch erfüllt sind von Scham, und über alle Maßen verhätschelte Söhne, die nichts zustande bringen.
Eine 47 Jahre alte Frau driftete immer weiter in eine Depression ab, obwohl sie eine wundervolle Familie hatte, ihr Mann und sie an der Universität arbeiteten und deren Tochter nach ihrem Universitätsabschluss eine zufriedenstellende Arbeit gefunden hatte. Normalerweise war sie ein sehr offenherziger und hilfsbereiter Mensch, der mit den Eltern und den eigenen Geschwistern ein gutes Verhältnis pflegte. Trotzdem hatte sie ständig das Gefühl alles nicht gut genug zu machen. Ihr Vater war damals als Rechtsabweichler verurteilt und in den Westen Chinas zur Umerziehung ins Arbeiterlager verschickt worden. Dort heiratete er eine Frau, die er nicht besonders mochte. Das erste Kind, das seine Frau zur Welt brachte, war die besagte Patientin. Der Vater war ein Einzelkind und hoffte so sehr einen Sohn als Nachfahren zu bekommen. Als die Frau ein Jahr später ein weiteres Kind zur Welt brachte, war es wieder nur ein Mädchen. Danach gebar die Frau alle ein, zwei Jahre ein weiteres Kind. Die nächsten zwei waren auch wieder Mädchen. Der Vater würdigte die Töchter keines Blickes und verschenkte sie direkt an andere weiter. So ging es, bis das fünfte Kind geboren wurde, dies war nun endlich der ersehnte Sohn, der jüngere Bruder der Patientin. Nach westlicher Kategorisierung wurzelte ihre Depression im Schuldgefühl ihrer unglücklichen Existenz und darin nicht verschenkt worden zu sein, weshalb sie viele uneigennützige Verhaltensweisen aufwies. Nach chinesischem Verständnis ist abgesehen von dieser Schuld das Schamgefühl noch viel stärker, die Identität eines nicht anerkannten Geschlechts zu tragen, ein Mädchen und nicht nach Wunsch des Vaters ein Junge zu sein, wodurch sie das pietätloseste Kind überhaupt darstellt.
Die derzeitige Familienstruktur Chinas änderte sich von einem Familienclan zur Großfamilie, die sich in Richtung der „Kernfamilie” entwickelt. Diese Tendenz wird durch die Urbanisierung noch verstärkt, da die politischen Richtlinien die Ein-Kind-Familie propagieren. Ein weiterer Einfluss ist die Globalisierung. Durch die Globalisierung ist es dem Menschen möglich, Muster außerhalb der eigenen Kultur kennenzulernen, das Internet fördert diese individualisierende Entwicklung. Viele junge Leute entscheiden sich zu späterer Heirat und Familiengründung, des Weiteren nimmt die Zahl der Menschen, die sich gegen Kinder entscheiden, stetig zu. So gesehen steigt vor dem Hintergrund der Kernfamilien die Zahl der DINK-Haushalte (double income no kids). Wir leben in einer Ära der befürworteten Individualisierung, aber auch in einer Zeit, in der die Menschen unter dem wirtschaftlichen Druck stehen, sich satt essen zu wollen und eine Beschäftigung zu finden. Genau an diesem Punkt befand sich auch das aufklärerische Europa Anfang des 18. Jahrhunderts, das die Freiheit, Gleichberechtigung und Brüderlichkeit proklamierte. Die Aufklärung hat die gleiche Zielsetzung wie die heutige Psychotherapie: den Einzelnen wichtig zu heißen und individuelle Gedankengänge von Generation zu Generation freizusetzen. In der Therapie ist es dem Menschen möglich, sich der Autorität zu widersetzen, den eigenen Zorn zum Ausdruck zu bringen und individuelle Entscheidungen zu treffen. Exportiert man dieses Gebilde nach China und betrachtet es vor diesem großen kulturellen Hintergrund, so werden die Verbindung der Familie als Ressource und die traditionelle Kultur, die die Konventionen der zwischenmenschlichen Beziehungen bewahrt, wie die der kindlichen Pietät, in ihrer Beurteilung herabwürdigt und gering geschätzt.
Das ist etwas, was meine chinesischen Kollegen auch beachten sollten: Die Orientierung der westlichen Psychotherapie hat gerade in den letzten paar Jahrzehnten eine genau entgegengesetzte Entwicklung eingeschlagen, wie die Betonung der Gegenwart und Zukunft, die Betonung der Ressourcen des Menschen und denen in der Familie, die Betonung, dass Traumata auch neue Chancen und Möglichkeiten mit sich bringen.
Durch das Erdbeben in Sichuan 2008 wurde die seelische Belastbarkeit des chinesischen Volkes auf die Probe gestellt. Prof. Senf und ich erforschten zwei Jahre lang die Situation von psychologischen Traumata im Katastrophengebiet. Nach eineinhalb Jahren konnte ein starker Abfall der PTSD-Rate verzeichnet werden, woraufhin Prof. Senf äußerte, dass dies von den reichhaltigen inneren Ressourcen der dort ansässigen Menschen zeuge.
Von der westlichen Psychotherapie konnten wir schon sehr viel lernen, insbesondere Techniken und Verfahren zur genauen Untersuchung der seelischen Regungen des Menschen. Dennoch können noch so feine Instrumente das menschliche Hirn nicht ersetzen. In der Philosophie des chinesischen Daoismus findet man anregende Aphorismen wie: „Nur der der ohne Begierden ist, findet die große Wahrheit” bzw. „durch das Nichthandeln zu heilen.” In diesem Sinne: Jeder Mensch ist selbst sein bester Therapeut!
1 Gefördert durch die Drs. Graute und Graute-Oppermann-Stiftung, Deutsches Stiftungszentrum.
1 Gefördert durch die Drs. Graute und Graute-Oppermann-Stiftung, Deutsches Stiftungszentrum.
2 Meint Folgendes: Der Sohn ist für den Vater wie der Diener den Edlen; das hat damit zu tun, dass der Sohn für die Eltern, insbesondere für den Vater, aufkommen und ihn zufrieden undglücklich machen muss, das ist seine Pflicht, ihm zu „dienen”, also nicht wie bei uns, wo wir Eltern uns für die Kinder verantwortlich fühlen. Das greift Qijia Shi später mit der „kindlichen Pietät” auf. Das ist ein sehr wesentlicher kultureller Unterschied.