Zahnmedizin up2date 2011; 5(5): 469-484
DOI: 10.1055/s-0031-1280259
Oralmedizin

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der infektiöse Patient

Lutz Jatzwauk, Klaus Neumann, Bernd Reitemeier
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Publication Date:
08 November 2011 (online)

Definition

Der epidemische Grundprozess kennt 3 Faktoren, die unabdingbar für eine Infektionsübertragung sind:

Infektionsquelle Übertragungsweg nicht immuner Empfänger

Das gilt auch für Kreuzinfektionen bei zahnärztlichen Behandlungen. Infektionskrankheiten spielen zwar derzeit in Deutschland weder bezüglich Morbidität noch Mortalität eine mit den Entwicklungsländern vergleichbare Rolle. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist gegenwärtig beispielsweise mit Tuberkuloseerregern infiziert, und davon leben 95 % in den Entwicklungsländern. Mittlerweile führt Tuberkulose weltweit die Statistik der tödlichen Infektionskrankheiten an [1]. Nach Angaben der WHO sind etwa 170 Millionen Menschen, also etwa 3 % der Weltbevölkerung, chronisch mit HCV infiziert. Dabei liegt die Prävalenz in einzelnen Ländern (z. B. Ägypten) bei bis zu 20 %. Trotzdem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Erreger von Infektionskrankheiten auch in Deutschland weit verbreitet sind. Das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen [2] verordnet in § 7 die Labormeldung bei Feststellung bestimmter Krankheitserreger. Dort sind allein 53 Krankheitserreger genannt, bei denen Handlungsbedarf für den öffentlichen Gesundheitsdienst bestehen kann. Die Infektionsschutzgesetz-Meldeverordnung [3] von Sachsen enthält 65 Diagnosen erregerbedingter Erkrankungen, die durch den die Erstdiagnose stellenden Arzt an die Gesundheitsämter zu übermitteln sind. Es genügt aber nicht, dass Patienten der Zahnarztpraxis mit Krankheitserregern besiedelt oder infiziert sind.

Merke: Wegen des fehlenden Übertragungswegs bei der Behandlung sind zahlreiche der dort genannten Erreger und Infektionen für die Zahnmedizin ohne Bedeutung.

So ist das Risiko, eine Diarrhö durch Noroviren zu akquirieren, durch den fäkal-oralen Übertragungsweg im Kino oder bei einer Bahnreise ebenso hoch wie in der Zahnarztpraxis. Unterschiede sind bereits bei Erregern akuter respiratorischer Infektionen (Adenoviren, Coxsackie-Viren, Influenzaviren, Mykoplasmen) offensichtlich. Natürlich kann durch direktes Anhusten oder mittels kontaminierter Hände von Familienangehörigen (vor allem Kindern), Bekannten oder Mitreisenden auch im täglichen Leben eine Erkältungskrankheit übertragen werden.

Merke: In der Zahnarztpraxis ist das Expositionsrisiko durch den engen Kontakt des Behandlungsteams mit der Mundhöhle des Patienten und vor allem dem Spraynebel bei der Benutzung rotierender Instrumente höher.

Aber gilt der hustende, niesende Patient in der Zahnarztpraxis sofort als Anlass, um besondere Hygienemaßnahmen einzuleiten? Im Normalfall wird behandelt wie immer. Es ist also nicht (nur) das Vorhandensein einer potenziellen Infektionsquelle und eines möglichen Übertragungswegs bei der zahnärztlichen Behandlung, welche die Mitarbeiter der Praxis über eine intensivere Infektionsprävention nachdenken lässt. Ein verschärftes Hygieneregime wird immer dann vorgeschlagen, wenn die Erkrankung gravierende Konsequenzen für die anderen Patienten der Praxis und das Behandlungsteam selbst haben kann: Wenn sie chronisch werden, schwer oder gar tödlich verlaufen kann.

Beispiele von Infektionskrankheiten, die in der Bevölkerung präsent sind, bei der zahnärztlichen Behandlung potenziell übertragen werden und schwere Komplikationen hervorrufen können, sind in den Tabellen [1] und [2] zusammengefasst.

Tabelle 1 Beispiele für schwerwiegende, bei zahnärztlichen Behandlungen übertragbare Infektionskrankheiten und für die Zahnmedizin spezifische Übertragungswege (modifiziert nach 4). Erreger infektiöses Material Häufigkeit der Erkrankung in Deutschland Hepatitis-C-Virus Blut Inzidenz beträgt 6,5 Erkrankungen pro 100 000 Einwohner Hepatitis-B-Virus Blut (Speichel, Tränenflüssigkeit) Inzidenz beträgt 0,9 Erkrankungen pro 100 000 Einwohner HI-Virus Blut Inzidenz beträgt 2 Erkrankungen pro 100 000 Einwohner Influenzavirus respiratorische Sekrete während der jährlichen Grippewellen werden schätzungsweise 5–20 % der Bevölkerung infiziert Mycobacterium tuberculosis Sputum Inzidenz beträgt 17 Erkrankungen pro 100 000 Einwohner Neisseria meningitidis respiratorische Sekrete Inzidenz beträgt 0,5 Erkrankungen pro 100 000 Einwohner Corynebacterium diphtheriae respiratorische Sekrete 1–8 Erkrankungen pro Jahr Bordetella pertussis respiratorische Sekrete Inzidenz beträgt 12 Erkrankungen auf 100 000 Einwohner Masernvirus respiratorische Sekrete unter 1000 Erkrankungen pro Jahr Rötelnvirus respiratorische Sekrete Inzidenz beträgt 0,33 Erkrankungen auf 100 000 Einwohner

Tabelle 2 Charakteristika für schwerwiegende, bei zahnärztlichen Behandlungen übertragbare Infektionskrankheiten. Erreger Inkubationszeit Ansteckungsfähigkeit Häufigkeit der Übertragung Hepatitis-C-Virus 6–9 Wochen solange Virus im Blut vorhanden ist 2–3 % bei Stichverletzungen, z. B. mit HCV-kontaminierten Kanülen Hepatitis-B-Virus 6–7 Wochen solange Virus im Blut vorhanden ist 6–30 % bei Stichverletzungen, z. B. mit HBV-kontaminierten Kanülen HI-Virus 2–6 Wochen solange Virus im Blut vorhanden ist 0,3 % bei Stichverletzungen, z. B. mit HIV-kontaminierten Kanülen Influenzavirus 1–2 Tage 7 Tage ab Auftreten der ersten Symptome 30 % der Exponierten Mycobacterium tuberculosis 6–8 Wochen solange säurefeste Stäbchen nachweisbar sind 1 % der Exponierten Corynebacterium diphtheriae 2–8 Tage unbehandelt 2–4 Wochen 10–20 % der Exponierten Bordetella pertussis 7–20 Tage unbehandelt bis zu 3 Wochen nach Beginn des Stadium convulsivum 80–100 % der Exponierten Masernvirus 8–10 Tage bis zum Beginn des katarrhalischen Stadiums, 14 Tage bis zum Auftreten des Exanthems 5 Tage vor bis 4 Tage nach Auftreten des Exanthems 100 % der Exponierten Rötelnvirus 14–21 Tage 1 Woche vor bis 1 Woche nach Ausbruch des Exanthems 50 % der Exponierten

Nach den Untersuchungsergebnissen von Ilse [5] stellen aber die parenteral übertragbaren Hepatitiden und HIV die wesentlichen chronischen Infektionskrankheiten der behandelten Patienten dar, die bei der Anamnese festgestellt und dokumentiert werden (Abb. [1]). Das sind genau jene Infektionserkrankungen, bei denen die Beschäftigten in zahnmedizinischen Berufen einem beruflichen Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Der mit HIV oder HCV infizierte Patient fordert den Zahnarzt und seine gesamte Praxis auf mehreren Ebenen. In einer Untersuchung mittels Fragebögen fanden mehrere Studien nicht nur einen höheren Aufwand bezüglich des Infektionsschutzes, sondern ebenso eine stärkere psychische Belastung bei der Betreuung von AIDS-Patienten, beispielsweise durch Überforderung oder verstärkte Identifikation [6], [7].

Abb. 1 Anamnestisch dokumentierte Infektionserkrankungen von 940 ambulant zahnmedizinisch behandelten Patienten [5].

Literatur

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PD Dr. Lutz Jatzwauk

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