manuelletherapie 2011; 15(5): 236-237
DOI: 10.1055/s-0031-1281926
Kongressbericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

3. Internationaler CRAFTA-Kongress in Berlin

F. Seipel1
  • 1physiopraxis, Aschaffenburg
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Publication Date:
19 December 2011 (online)

Der 3. Internationale CRAFTA-Kongress war für 220 Besucher aus 9 Nationen der Anlass, vom 23.–24. September 2011 nach Berlin zu kommen. Die Cranio Facial Therapy Academy (CRAFTA), unter der Führung von Prof. Harry von Piekartz, hatte zusammen mit dem Veranstaltungsmanagement der Fortbildung in Hamburg (FiHH) zum 3. Mal einen Kongress auf die Beine gestellt, der mit 11 internationalen Referenten aufwartete.

In Bezug auf evidenzbasierte Physiotherapie sowie dem Paradigmenwechsel hin zu einem multifaktoriellen und biopsychosozialen Modell wird von Physiotherapeuten immer mehr verlangt, wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Die Veranstalter wollten diesem Anspruch schon mit dem Untertitel des Kongresses Die kraniofaziale Region und deren multifunktionelle Phänomene gerecht werden. Um diese Region aus ihren unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, luden sie daher bewusst Spezialisten ein, die ihre Wurzeln sowohl in der Wissenschaft als auch in der Klinik haben.

Die positive, ja fast schon rasante Entwicklung auf dem Gebiet der kraniofazialen Therapie schlägt sich auch in Zahlen bei der CRAFTA nieder. Waren im Jahre 2004 lediglich 30 Therapeuten zertifiziert, so halten im Jahr 2011 bereits annähernd 300 Kollegen ihr Zertifikat in Händen. Die zunehmende Nachfrage nach Weiterbildungen auf diesem Gebiet zeigt sich auch in der Summe durchgeführter Kurse. CRAFTA bietet inzwischen bis zu 112 Weiterbildungsveranstaltungen im Jahr an. Darüber hinaus wurde das Modulsystem um 2 weitere Kurse erweitert, und für die Zulassung zur Abschlussprüfung müssen Supervisionsstunden absolviert werden. Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass die CRAFTA einerseits neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen erfolgreich Rechnung trägt, und andererseits ihren Fokus im Sinne eines offenen und mulifunktionellen Denkmodells ständig erweitert.

Im Gegensatz zu den ersten beiden Kongressen war die Veranstaltung in Berlin in 2 „Abschnitte“ unterteilt: Am Freitag fanden ausschließlich Vorträge statt, und am Samstag konnte man zwischen insgesamt 9 Workshops wählen. Diese Idee hat sich als sehr vorteilhaft erwiesen, weil hiermit die Verknüpfung von Theorie und Praxis nochmals verbessert werden konnte. Allerdings hätte ich mir bei den Workshops mehr Hands-on-Elemente gewünscht.

Im Mittelpunkt der Vorträge am Freitag stand die Beleuchtung kraniofazialer Beschwerden aus unterschiedlichen Richtungen. Die Referate fanden mit Dr. med. dent. Claudia Ricken (Kieferorthopädin, Bensheim) ihren Anfang. Sie sprach über die Entwicklung des menschlichen Gesichts und beleuchtete die Einflüsse auf den Rest des Körpers. Dabei wurde deutlich, dass sich das Ohrorgan aus dem Kiefer entwickelt hat. Der M. tensor veli palatini stellt die funktionelle Verbindung zwischen dem Gehörgang und der Kaumuskulatur dar. Hierüber lassen sich Beschwerden in der auditiven Region erklären, deren Ursprung möglicherweise im Kiefergelenk zu finden ist. Darüber hinaus schilderte Dr. Ricken eindrücklich den Einfluss der Atmung auf die Entwicklung des fazialen Skeletts. Insbesondere bei Mundatmern komme es aufgrund der mangelhaften Luftzirkulation in den Nasennebenhöhlen und der kaudalisierten Zungenposition mangels mechanischen Reizes zu einer unzureichenden Ausbildung des Oberkiefers.

Dr. Martin Ruprecht (Kinderorthopäde und Manualmediziner, Münster) bediente sich ebenso der Fakten aus der Embryologie als Erklärungsmodell für die mulifunktionelle Darstellung von Beschwerden in der kraniofazialen Region. So stellte er fest, dass es entwicklungsgeschichtlich viele Verbindungen zwischen der kraniozervikalen Region und dem Dickdarm oder der glatten Muskulatur des Herzens gibt. Diese Tatsache könnte erklären, weshalb Beschwerden bei hochzervikal auffälligen Patienten oft auch mit viszeralen oder vegetativen Problemen vergesellschaftet sind. Seine ganzheitliche Bertachtungsweise wird auch an der Aussage deutlich, dass die Kieferschwebelage offensichtlich mit der Beckenposition korreliert. An dieser Stelle diskutierte Ruprecht die Möglichkeit aufsteigender oder absteigender Einflussgrößen auf die Okklusion bzw. die Kieferposition. Im Fokus seines therapeutischen Ansatzes steht die hochzervikale Region. Hier kommt vor allem die Atlastherapie nach Arlen zur Anwendung, bei der es sich um eine Mobilisation mittels Impuls (keine Manipulation!) handelt. Ziel dieser Therapie ist es, Einfluss auf die trigeminozervikale Konvergenz zu nehmen und somit einen Myofacial release herbeizuführen, das auf allen Körperebenen, insbesondere aber in der kraniozervikalen Region stattfindet.

Als ausgesprochener Kliniker hielt der Physiotherapeut Michiel Trouw (NL-Hengelo) einen sehr überzeugenden Vortrag über die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) beim Kind. Mit großer Authentizität stellte er eine Studie vor, die zeigt, dass etwa 40 % aller Kinder zwischen dem 11. und 15. Lebensjahr wenigstens einmal pro Woche unter Kopfschmerzen leiden. Dabei handelt es sich oft um Mischformen primärer und sekundärer Kopfschmerzen, die häufig mit Begleiterkrankungen wie Mittelohr- oder Nebenhöhlenentzündungen einhergehen. Kinder mit Kopfschmerzen haben signifikant öfter eine CMD als gesunde. Zur Entstehung der pädiatrischen CMD scheinen vor allem ein Kreuz- oder Tiefbisscharakter und eine Tonuserhöhung der Kaumuskulatur beizutragen.

In seinem Workshop propagierte der Zahnarzt Dr. Christian Köneke (Bremen) eine ganzheitliche Sichtweise auf die kraniomandibuläre Dysfunktion. Den Patienten könne nur im Rahmen eines interdisziplinären Teams geholfen werden. Die einerseits zahlreichen Schauplätze einer CMD wie Okklusion, HWS, Körperstatik, Kiefergelenk oder Hirnstamm und andererseits die Gefahr einer Generalisierung des Schmerzes im Sinne einer zentralen Sensitivierung im Hirnstamm mache eine Betrachtung der Beschwerden aus unterschiedlichen Richtungen unabdingbar. Insbesondere Konvergenzen unter den Hirnnerven würden pathologische Informationen weiterleiten, die ein komplexes Verständnis der CMD voraussetze. Eine Schienenversorgung beim Patienten führe immer zu einer Veränderung der Afferenzen verschiedener Hirnnerven, aber auch der Spinalnerven C 0 – 3.

In seiner unvergleichlichen, ja fast schon beschwörenden Art hielt Dean Watson (Adelaide, Australien) einen sehr interessanten Workshop zum Thema The power of retraction ([Abb. 1]). Der Kopfschmerzspezialist ließ hierbei Altbewährtes in neuem Licht erscheinen, indem er die Extensionstechnik für den Nacken von McKenzie etwas modifiziert für die Behandlung seiner Kopfschmerzpatienten einsetzt. Für Watson steht die hochzervikale Region, insbesondere aber das Segment C 2 / 3 im Mittelpunkt seines Interesses. Strukturspezifisch könnten hier einerseits der Diskus im Segment C 2 / 3, aber auch der M. obliquus capitis inferior als muskuläre Verbindung der Segmente C 1 und C 2 ursächlich für die Entstehung von Kopfschmerzen sein. In seiner Befunderhebung spielt die Rotationsabweichung des Dornfortsatzes von C 2 im Raum eine wesentliche Rolle. Auch Watson misst dem Nucleus trigeminocervicalis großen Einfluss bei der Entstehung von Kopfschmerzen bei. Insbesondere temporale (migräneartige) Kopfschmerzen könnten so über die Konvergenz des N. trigeminus (N. opthalmicus) mit den Hinterhauptneuronen aus C 0 – 3 erklärt werden.

Aus dem Kongress habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass das eigene Wissen mit den Jahren stetig gewachsen und es einfach schön ist, in vielen Beiträgen Bestätigung seiner täglichen Arbeit erfahren zu haben. In Zukunft werde ich mich noch akribischer mit der Abgrenzung „maskierter Kopf- und/oder Gesichtsschmerzen“ auseinandersetzen. Deren Ursache liegt häufig in der oberen HWS oder in Triggerpunkten der Schulter-Nacken-Kaumuskulatur. Darüber hinaus ist eine erfolgreiche Behandlung der CMD sicher nur im Konsens mit anderen Disziplinen möglich. Eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Beschwerden scheint unabdingbar. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, wären Referate aus der Psychologie, Logopädie oder der Zahntechnik auf der nächsten Veranstaltung eine Möglichkeit und Anregung zugleich, den Therapeutenkreis um die CMD zu erweitern.

Organisatoren und Referenten gebührt Lob und Dank für die erfolgreiche Durchführung des Kongresses ([Abb. 2]). Auf die Fortsetzung im Herbst 2014 – möglicherweise in Hamburg – darf man gespannt sein.

Abb. 1 Workshop mit Dean Watson.

Abb. 2 Kaffeepause.

Frank Seipel

Güterberg 11

63739 Aschaffenburg

Email: FrankSeipel@hotmail.com