Balint Journal 2012; 13(1): 22-23
DOI: 10.1055/s-0031-1283804
Tagungsbericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Kopenhagen-Konferenz

Copenhagen ConferenceN. Günzel
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Publication Date:
29 March 2012 (online)

Kopenhagen April / Mai 2011

Eine schöne Tagung. So wie die Radfahrer Kopenhagens alle in derselben Geschwindigkeit, mit Leichtigkeit, entschleunigt daherkamen, dazu der frische Wind, die sommerlichen Temperaturen, so entspannt war auch die Atmosphäre in den Räumen der Psychotherapeutischen Akademie, nachdem aller Stress beim Erklimmen des Treppenhauses von einem abgefallen war. 

Nach dem herzlichen Willkommen in der internationalen Balintfamilie und durch unsere dänischen Gastgeber, einführende Referate, ehe es zur Gruppenarbeit in die Workshops ging. In den Pausen hervorragende Verköstigung. Durch das lang anhaltende Tageslicht verlor sich das Gefühl für Hetze und Zeit. 

Ich hatte mich für den Workshop entschieden, in dem die Gruppenleitung nur einmal gewechselt wurde. Leiter des Workshops waren Tove Mathiesen und Don Nease, die auch während der Gruppen die Beobachterrolle einnahmen. 

Unsere Gruppe kam zum Ergebnis, dass dem Workshop die beständige Rolle der Beobachter sehr gut getan hat. Tove und Don nahmen außerhalb der Gruppe an gegenüberliegenden Positionen ihren Platz ein. Im Gegensatz zum ständigen Wechsel der Beobachter, wie ich es von vorausgegangenen Workshops kannte, hatte die Beibehaltung dieses Settings eine stabilisierende, haltende und zentrierende, Grenzen wahrende Funktion für die Gruppe. Verstärkt wurde dieser Effekt durch die Kontinuität der Leiter, die aus der Gruppe über einmal 2 und dann 3 Sitzungen gewählt waren. Ich übernahm die Rolle des Co-Leiters. Aus dieser Sicht habe ich quasi im Zeitraffer erlebt, wie zwischen Co-Leiter und dem Leiter ein Prozess der Verständigung einsetzte, der mehr Feinfühligkeit gegenüber dem Gruppenprozess ermöglichte. Die Auseinandersetzung mit der Rolle als Co-Leiter und der verantwortlichen Zusammenarbeit mit dem Leiter setzte sich auch in den Gruppenintervallen und außerhalb des Workshops fort. Das Unterbewusstsein ruhte nicht bis eine angemessene innere Haltung zustande gekommen war. Auch war es spannend mit welcher Aufmerksamkeit die Gruppe den Prozess der Verständigung der Leiter verfolgte. Diese Erfahrung spricht dafür, dass eine gelingende Verständigung unter den Leitern wesentlich zum positiven Gruppenverlauf beitragen kann. 

Während des Workshops entstand eine kontroverse Diskussion über die Bedeutung von Phantasien. Ich empfand manche Einfälle der sehr erfahrenen Teilnehmer zum Fall so, als ob sie die ursprüngliche Phantasie bereits in eine eher rationale, lösungsorientierte Mitteilung umgewandelt hätten. Dies wirkte sich einschränkend auf die Lebendigkeit in der Gruppe aus. Dadurch entwickelte die Gruppe aus meinem Empfinden heraus eine Tendenz zur Rationalisierung. Natürlich könnte dies auch Folge eine Spiegelung des vorgetragenen Falles sein und zu einer entsprechenden Intervention genutzt werden. In der Diskussion wurde die Besorgnis vor überschäumenden und ausufernden Phantasien ins Spiel gebracht. Der bewusste Umgang mit Phantasien löst bei manchen Gruppenmitgliedern eine Abwehr aus. Es ist jedoch nicht schwer sich und die Gruppe vor ausufernden Phantasien zu schützen, andererseits ist in den Phantasien so viel kreatives Potenzial enthalten, welches für die verschiedenen Ziele der Gruppenarbeit nutzbringend eingesetzt werden kann. Wenn dies gelingt, gewinnen die Teilnehmer Sicherheit im Umgang mit Phantasien, erleben, wie feinfühlig, wie wach und mit welchen Sensoren sie ausgestattet sind und wie sie ihren bisherigen Erfahrungsschatz bewusst ins Spiel bringen können. Dies kommt dem Ziel zugute, dass der Arzt seine Rolle in der Arzt-Patient-Beziehung besser wahrnehmen und auch eine verträglichere, effektivere und mit weniger Nebenwirkungen behaftete Arznei „Arzt“ entwickeln kann. Dieser Prozess ist wesentlich zur Identitätsbildung und für die Professionalität des Arztes. 

In diesem Zusammenhang erinnerte ich mich an die Bedeutung von Phantasien wie ich sie bei Frau Nafisi gelesen habe. Sie war Tochter des Teheraner Bürgermeisters noch zu Zeiten des Schah-Regimes und erhielt ihre Ausbildung zur Literaturprofessorin in Amerika, lehrte später im Iran. Durch die folgenden politischen Veränderungen konnte sie Ihren Studenten allerdings westliche Literatur nur noch heimlich nahebringen. Schließlich wurden ihre Studenten in Haft genommen und sogar gefoltert und auch sie konnte sich trotz aller Privilegien nicht mehr im Iran ungefährdet aufhalten. Sie emigrierte 1997 nach Amerika wo sie 2003 den Roman „Reading Lolita in Tehran“. schrieb. Zum Ende formulierte sie eine beeindruckende Zusammenfassung, die ich im Folgenden zitiere 

„Ich habe den immer wiederkehrenden Traum, dass der ‚Bill of Rights‘ ein neuer Artikel hinzugefügt wird: das Recht auf freien Zugang zur Phantasie. Ich bin zu dem Glauben gelangt, dass eine echte Demokratie nicht ohne die Freiheit der Phantasie und das Recht, Werke der Phantasie uneingeschränkt zu nutzen, existieren kann. Um ein erfülltes Leben zu führen, muss man die Möglichkeit haben, private Welten, Träume, Gedanken und Wünsche öffentlich zu gestalten und auszudrücken und sich ständig auf einen Austausch zwischen der öffentlichen und der privaten Welt einzulassen. Wie sollen wir sonst wissen, dass wir existiert, gefühlt, begehrt, gehasst und uns gefürchtet haben? 

Wir sprechen von Tatsachen, aber Tatsachen existieren nur partiell für uns, wenn sie sich nicht in Gefühlen, Gedanken und Empfindungen wiederholen und neu erstehen lassen. Mir kam es so vor, als hätten wir nicht wirklich oder nur halb existiert, weil wir uns nicht selbst in unserer Phantasie neu erschaffen und nicht mit der Welt kommunizieren konnten, und weil wir Werke der Phantasie für politische Zwecke missbrauchten.“ 

Wenn wir uns erlauben, diese Feststellungen auf unseren Arztberuf zu übertragen, dann führt die zunehmende und einseitige Anwendung von Guidelines, Checklisten und Vorschriften dazu, dass Ärzte in Gefahr geraten können, sich nur noch sehr einseitig in ihrer Identität als Arzt wahrnehmen zu können. Wertvolle Aspekte des Arztseins in der Arzt- Patienten-Beziehung könnten dabei aus dem Blick geraten. 

Ich wünsche mir in meinen Gruppen, dass die Gruppenteilnehmer, körperliche, emotionale, phantasierte oder geträumte sowie rationale Einfälle und Wahrnehmungen in die Fallbearbeitung einbringen können. 

Noch ein letzter Gedanke. In den Workshops kann nur im 45-Minuten-Modus gearbeitet werden, damit noch genügend Zeit zur Reflexion bleibt. Immer wieder wurde beklagt, dass die Fallarbeit zu früh beendet werden musste. Das gilt nicht für die Kollegen, die gewohnt sind 2, 3 oder mehr Fälle in einer Sitzung zu bearbeiten. Beide Anwendungen haben wohl ihre Berechtigung. In einem Fall geht es darum, die Kollegen vorwiegend bei ihrer aktuellen Arbeit zu unterstützen und deshalb möglichst viele problematische Situationen zu reflektieren. In der 90-Minuten-Sitzung bleibt zusätzlich mehr Zeit für die Arbeit am eigenen Erleben und eröffnet so allen Gruppenteilnehmern einen intensiveren Zugang zu ihrer Spiegelungsfähigkeit und ihrer Empathie. 

Dr. med. N. Günzel

Facharzt für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin

Am Steigbühl 10

90584 Göggelsbuch

Email: Norbert.Guenzel@t-online.de