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DOI: 10.1055/s-0031-1287636
Versorgungsbedarf und tatsächliche Versorgung neurologischer Patienten
Publication History
Publication Date:
21 September 2011 (online)
- Zusammenfassung
- Versorgungssituation – ambulante Realität
- Rahmenbedingungen der Heilmittelversorgung
- Rehabilitation: Hier wird gespart
- Verordnungsempfehlungen – Leitlinien
- Leitlinien-Clearingprozess für Heilmittel und Rehabilitation am Beispiel Schlaganfall
- Fazit
- Literatur
Zusammenfassung
Heilmittelanwendungen sind in der Behandlung neurologischer Patienten bedeutsam und werden sowohl in der akuten als auch in der subakuten und chronischen Phase verschrieben. Als Vertragsarzt hier richtig zu verordnen, den Patienten gut zu versorgen und qualifizierte Kontakte zu qualifizierten Therapeuten (Heilmittelerbringer) zu finden, ist für Ärzte durchaus eine Herausforderung. In seinem Beitrag stellt Paul Reuther aus der Sicht eines niedergelassenen Facharztes kritisch die Rahmenbedingungen und die Realität der ambulanten Heilmittelversorgung in Deutschland dar und versucht gleichzeitig durch konstruktive Vorschläge, die Situation zu optimieren.
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Vita
Dr. med. habil. Paul Reuther ist seit 28 Jahren Facharzt für Neurologie in einer nervenärztlichen Gemeinschaftspraxis und seit 14 Jahren Ärztlicher Leiter eines regionalen neurologischen Rehabilitations- und Nachsorgezentrums, das in regionale akute Schlaganfallversorgung eingebunden und konzeptionell mit anderen stationären und ambulanten Versorgern vernetzt ist.
Versorgungssituation – ambulante Realität
Kurz und knapp befasst sich der Beitrag aus der Sicht des niedergelassenen Facharztes für Neurologie mit den Rahmenbedingungen, der Realität der ambulanten Heilmittelversorgung und mit der Schnittstelle zwischen dem niedergelassenen Vertragsarzt und der Neurorehabilitation von neurologischen Patienten.
In Deutschland gibt es nur wenige Untersuchungen über die Versorgungssituation zum Beispiel im Langzeitverlauf nach Schlaganfallrehabilitation. Folgende drei Arbeiten aus den letzten zehn Jahren spiegeln die Facetten der ambulanten Nachsorge wider.
Stefan Hesse und seine Kollegen berichteten 2001 über die ambulante Krankengymnastik von Schlaganfall, Umfang, Inhalt und Effektivität und fordern, im ambulanten Bereich neben den im Heilmittelkatalog aufgeführten krankengymnastischen Techniken auf neurophysiologischer Basis auch moderne, positiv evaluierte Therapien zu berücksichtigen. Auch sollte die zeitliche Abfolge der Therapie, kontinuierlich versus Blocktherapie, überdacht werden. Außerdem regen sie Versorgungsforschung an [5].
Uta Hoeß und ihr Team beschreiben 2008 die Versorgung von Patienten nach Schlaganfall mit ambulanten Heil- und Hilfsmitteln im Langzeitverlauf (2,6 Jahre) nach stationärer neurologischer Rehabilitation. Ergebnisse aus ihrer Arbeit waren unter anderem, dass eine intensive Versorgung mit Heilmitteln eher jüngere, körperlich mehr, aber psychisch weniger beeinträchtigte Patienten erhielten und dass der Pflegestatus, das Auftreten von Komplikationen in der Pflege und die Belastungssituation der Angehörigen offenbar ohne Einfluss auf die Heilmittelversorgung zu sein schienen [6].
Johannes Behrens und seine Kollegen beschreiben 2009 in einer Nachsorgestudie, dass die Patienten nach einem Schlaganfall folgende Versorgung erhalten ([Abb. 1]) [1].
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die bisherigen Versorgungsbrüche und die gesundheitsbedingten Teilhabestörungen spezifische komplexe Leistungen benötigten, die über die bisherige Leistungserbringung hinausgingen. Eine bedarfsgerechte Nachsorge ginge über die meist unstrukturierten Leistungen einzelner Leistungserbringer deutlich hinaus. Erst längerfristige zielorientierte Therapien seien erfolgversprechend; aber nur selten anzutreffen. Das sektorale Gesundheitswesen produziere Schnittstellen, die auf der individuellen Ebene des Betroffenen nicht selten zu Versorgungs(ab)brüchen führe. Aus subjektiver Betroffenensicht sei das Versorgungssystem intransparent, und die Notwendigkeit von Eigeninitiative durch die Betroffenen und Angehörigen führe zu Unterversorgung. Selbst kümmern müssen führe zu sozialer Ungleichheit, weil die dazu notwendigen Kompetenzen und Kenntnisse und die Erreichbarkeit von Versorgung nicht für alle Betroffenen gegeben seien [1].
Letztlich herrschen m. E. Unklarheiten bei den ärztlichen Verordnern und bei den Fachkräften der Heilmittelerbringer. Die Versorgung orientiert sich wenig am medizinischen und sozialmedizinischen Bedarf der betroffenen Patienten und bleibt oft auf dem Funktionsniveau hängen.
Dennoch möchte ich die ambulante Versorgungsrealität aus der Sicht des niedergelassenen Facharztes nicht nur kritisch beschreiben, sondern auch konstruktiv dazu beitragen, die Situation zu optimieren.
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Rahmenbedingungen der Heilmittelversorgung
Heilmittelrichtlinie: Grundlagen der derzeitigen kassenärztlichen Versorgung
Die Heilmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) soll der Sicherung einer nach den Regeln der ärztlichen Kunst und unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten mit Heilmitteln dienen.
Dabei können nach dem für die GKV-Versorgung zuständigen Sozialgesetzbuch V (SGB V § 12) Heilmittel zu Lasten der Krankenkassen nur verordnet werden, wenn sie notwendig sind, um eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern, eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern. Für die rehabilitative Versorgung sind die Rehabilitationsrichtlinien SGB V § 92 sowie SGB V § 40 und SGB IX zuständig.
Heilmittelkatalog regelt Verordnungen von physio-, ergotherapeutischen und logopädischen Maßnahmen
In der Heilmittelrichtlinie befindet sich der umfangreiche und detaillierte Heilmittelkatalog: Der Katalog regelt, wie ein Vertragsarzt Heilmittel im Regelfall und außerhalb des Regelfalles verordnen muss:
Physiotherapeutisch kann man zum Beispiel alle zentralneurologischen Bewegungs- und Koordinationsstörungen, Tonusstörungen und Kontrakturen beim Erwachsenen im Regelfall mit KG-ZNS oder KG – bei Bedarf unterstützt durch physikalische Maßnahmen – versorgen (S. 129 „Kluft zwischen therapeutischem Anspruch und Versorgungsrealität“). Für KG-ZNS bezieht sich auch der neue Heilmittelkatalog 2011 dezidiert auf den Einsatz der neurophysiologischen Techniken nach Bobath, Vojta und PNF.
Dem aufmerksamen Leser drängt sich die Frage auf, warum die neuen evidenzbasierten Verfahren der neurologischen Therapie noch keine Erwähnung finden.
Es besteht Handlungsbedarf für die neurologischen Fachgesellschaften, die Berufsverbände und die Verbände der Heilmittelerbringer, gemeinsam im G-BA aktiv zu werden, um zumindest in der nächsten Revision der Richtlinie die moderneren Therapieansätze mit ihrer neurowissenschaftlichen Basierung zu etablieren ([Tab. 1]). Wir leben in der Zeit der evidenzbasierten Medizin, dann sollten wir die dafür notwendigen Ressourcen auch einfordern. Wir müssen uns in klinischen Handlungsleitlinien auf Behandlungsziele und auf die Art, die Dauer und den Umfang von Interventionen einigen.
Motorisches Lernen, Repetition, alltagsorientiertes Üben und die medizinische Laufbandtherapie mit Gewichtsentlastung benötigen andere Verordnungsmöglichkeiten, als sie im gültigen Heilmittelkatalog vorgegeben sind.
Ergotherapeutische Maßnahmen kann man nach dem aktuellen Heilmittelkatalog weiterhin durch motorisch-funktionelle, sensorisch-perzeptive oder als Hirnleistungstraining/neuropsychologisch-orientierte Interventionen behandeln lassen und dabei im Regelfall bis zu 40 Einheiten (Beispiel EN2 für Erwachsene) verordnen (S. 125 „Ergotherapie in der ambulanten neurologischen Versorgung“).
Kommentar: Sicher kann man viele alltagsorientierte Aufgaben mit diesem Verordnungskontingent gut behandeln und ADL-Hilfsmittel einführen. Auch hier müssen die Gesellschaften auf eine Weiterentwicklung des Kataloges hinwirken, um zum Beispiel für die Forced-Use-Therapie (CIMT) und andere evidenzbasierte Therapieverfahren weiterentwickelte Verordnungsgrundlagen und andere Ressourcen zu erreichen.
Die logopädische Behandlung für erworbene Sprachstörungen (SP5) oder für die in der neurologischen und neurogeriatrischen Versorgung immer wichtiger werdenden Schluckstörungen (SC1) sieht nach dem gültigen Heilmittelkatalog schon im Regelfall bis zu 60 Interventionen vor.
Kommentar: Mit diesem Verordnungskontingent kann man schon fast leitliniengerecht eine Aphasie behandeln, vorausgesetzt man findet eine Praxis für Logopädie, die in der Lage ist, einen einzelnen Aphasiker blockweise und zielorientiert fünf bis acht Stunden pro Woche über sechs Wochen zu behandeln. Es gibt gelegentlich diese Praxen. Aber der so verordnende Facharzt muss sich bei der Budget- und Wirtschaftlichkeitsprüfung „warm anziehen“. Zumindest haben die Verbände der Logopäden und Sprachtherapeuten es schon bei der vorletzten Revision der Heilmittelrichtlinie im Jahr 2005 geschafft, mit dem G-BA über eine leitliniengerechte Aphasiebehandlung in der Neurologie zu verhandeln und den Heilmittelkatalog entwickelt. Auch in diesem Bereich muss die Versorgungsqualität durch die systematische Anwendung von Handlungsleitlinien verbessert werden [11].
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Dosierung von Heilmitteln begrenzt
Zur Dosierung von Heilmitteln sieht der Heilmittelkatalog für ZNS-Störungen die Frequenz von mindestens einmal pro Woche vor. Warum diese untere Dosisbegrenzung vorgegeben wird, erschließt sich aus dem Katalog (und aus der Wissenschaft) nicht. Das Gegenteil ist in der offiziellen Richtlinie nicht zu finden: Eine in den modernen neurologischen Therapieverfahren notwendige Verordnung hochfrequenter und repetitive Dosierung mit täglichem, gelegentlich auch mehrstündigem Üben.
Die Rahmenempfehlung mit den Physiotherapeuten stammt aus dem Jahr 2006, die der Ergotherapeuten und Logopäden aus 2005: Im Hinblick auf die notwendige Weiterentwicklung der neurologischen Therapieverfahren und der dazu notwendigen Ausbildung und Qualifizierung schlummert auch hier Arbeit [13].
Auf der Homepage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erhält man umfangreiche statistische Informationen zur ambulanten Heilmittelversorgung [20]. Es handelt sich dabei um einen Markt, dessen gesamtes jährliches Ausgabenvolumen sich zwischen 2000 und 2009 von 3 auf 4 Milliarden Euro entwickelt hat. Dieser Betrag entspricht etwa 16 % der ambulanten ärztlichen und 14 % der Arzneimittelversorgung!
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Budget-Richtgröße und Wirtschaftlichkeit
Für die Neurologie ist es wichtig zu wissen, dass in zum Beispiel Rheinland-Pfalz – wie den meisten anderen KVen und Bundesländern – für die Facharztgruppe der Neurologen, Nervenärzte und Psychiater keine Richtgrößen festgelegt sind und dass viele der durch unsere Arztgruppe mit Heilmitteln zu versorgenden Gesundheitsprobleme als Praxisbesonderheit anerkannt sind. Im Gegensatz zu Hausärzten, Internisten, Orthopäden und Chirurgen muss unsere neurologisch-nervenärztliche Facharztgruppe im Heilmittelsektor (zurzeit) also keine Richtgrößenprüfungen fürchten, weil es dort keine Budgets für Heilmittel gibt. Hinsichtlich einer Wirtschaftlichkeitsprüfung ist dies aber durchaus anders, weil hier ja der Vergleich mit dem Versorgungsverhalten der regionalen eigenen Fachkollegen einfließt.
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Ambulante Mangelversorgung im Bereich Neuropsychologie, Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten und psychophysische Minderbelastbarkeit
Die Mangelversorgung des Patienten mit organisch psychischen Störungen, mit kognitiven Teilleistungsstörungen, mit Depression und Angst und der nicht erkannten und nicht bekannten psychophysischen Minderbelastbarkeit nach erworbener Hirnschädigung ist ein ungelöstes Kapitel der ambulanten Versorgung. Zahlreichen Patienten nach Schlaganfall, Schädel-Hirn-Verletzten, Multiple-Sklerose-Kranken, Menschen mit degenerativen, toxischen oder hypoxischen Hirnschädigungen werden die bekannten und effektiven neuropsychologischen Behandlungen in der ambulanten Versorgung vorenthalten. Im Gegensatz dazu ist für Privatpatienten und BG-Patienten auch schon jetzt eine ambulante neuropsychologische Behandlung möglich. Im G-BA läuft seit 2004 (!) ein Prüfverfahren, das erarbeiten soll, ob und wie neuropsychologische Behandlung für Menschen mit erworbener Hirnerkrankung in die ambulante vertragsärztliche Versorgung eingeführt werden kann. Man hört, dass noch 2011 oder 2012 das Verfahren abgeschlossen werden soll.
Neuropsychologische Diagnostik und Behandlung sind nur in der Neurorehabilitation und in der stationären Neurogeriatrie verfügbar. Ambulant kann diese neuropsychologische Versorgung nicht fortgesetzt werden, weil sie bislang im ambulanten vertragsärztlichen System nicht vorgesehen ist.
Die nachsorgende Behandlung und Wiedereingliederung von Menschen mit erworbener Hirnschädigung in Beruf und Gemeinschaft erfordern spezielle Nachsorgekonzepte, die mit Planung, Supervision und Coaching, Belastungserprobung und stufenweiser Eingliederung einhergehen müssen. Diese Konzepte sind national und international bekannt und erfolgreich, aber in Deutschland regional meist nicht verfügbar [4], [9], [12], [14], [15], [16], [17], [19]. Ein besonderes Versorgungsloch („gap“) besteht vor allem für die neurologischen Patienten in erwerbsfähigem Alter mit vorhandenem Arbeitsplatz und Arbeitsverhältnis, die aus der Reha mit anhaltender Arbeitsunfähigkeit aber prinzipiell positiver Erwerbsprognose entlassen werden. Hier fehlt es an geplanter und integrationsorientierter Nachsorge und an therapeutisch supervidierter Belastungserprobung und Eingliederungsbegleitung. Die Wiedereingliederungsprognose wird durch Systemmängel definitiv gefährdet [16].
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Rehabilitationssport und Funktionstraining
Für die nachsorgende ambulante Versorgung und aktivierende Langzeitbetreuung von neurologischen Patienten sind Behindertensport- und Selbsthilfeaktivitäten besonders wertvoll:
Auch nach meiner Erfahrung sind Rehabilitationssport- und Funktionstraining durch regionale Behindertensport- und Selbsthilfevereine hocheffektiv für die Eigeninitiative des Patienten. Neben den körperlich-sportlichen Aktivitäten werden wichtige gruppendynamische und psychosoziale Ansätze verfolgt. Rehabilitationssport für neurologische Patienten, für Schlaganfall, für Parkinson und für MS ist regional zunehmend verfügbar. Diese effektiven Interventionen sollten – ähnlich wie Koronarsportgruppen durch Internisten und Kardiologen – auch durch niedergelassene neurologische Fachärzte regional intensiv gefördert werden, wo immer es geht.
Neurologische Patienten werden durch Rehasport bis zu drei Jahre lang aktiv durch die Krankenkassen gefördert gegen einen vergleichsweise geringen finanziellen Einsatz. Hier sind Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit sicher gegeben.
Natürlich gibt es auch für die Abwicklung von Rehabilitationssport- und Funktionstraining amtliche Regelungen: Auf der Homepage der KBV finden sich die 2011 revidierten Rahmenvereinbarungen: http://www.kbv.de/vl/23618.html.
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Rehabilitation: Hier wird gespart
Auch zum Thema Rehabilitation finden sich auf der Homepage der KBV noch beachtenswerte Fakten (http://www.kbv.de/vl/14092.html). Interessanterweise ist der Reha-Markt von 2000 bis 2009 im GKV-Sektor geschrumpft (von 2,7 Mrd. auf 2,4 Mrd.)! Wenn man die aktuellen Zahlen der BAR sieht, sind die Ausgaben für medizinische Rehabilitation der GKV auch im Jahr 2009 noch nicht auf dem Level von 2000 angekommen (REHA-Info 1/2011). Es wird also weiterhin an der Rehabilitation eher gespart. Dies ist ein wichtiger Grund mehr, warum die ambulanten Vertragsärzte mehr Verantwortung für die angemessene Versorgung von Patienten übernehmen müssen. Mehr als früher muss man darauf achten, ob das Behandlungspotenzial des einzelnen Patienten bei der Entlassung aus der Akutklinik (zum Beispiel in die Kurzzeitpflegeeinrichtung) oder aus der stationären Rehabilitation auch wirklich ausgeschöpft ist. Die Patienten haben einen Anspruch darauf. Wahrscheinlich müssen Neurologen und Nervenärzte sehr viel häufiger als bisher nicht nur an eine angemessene ambulante Heilmittelversorgung im Verlauf, sondern auch an die Einleitung einer Wiederholungsrehabilitation denken.
Ärgerlich ist, dass die Einleitung von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation ein so hyperbürokratisiertes und intransparentes Verfahren ist – hier sollten die Betroffenen, die Angehörigen und die neurologischen Gesellschaften und Verbände gemeinsam mit anderen Druck machen, damit das Verfahren vereinfacht und die Entscheidungspraxis der Kassen und die Beratungspraxis des MDK für den Betroffenen und den überweisenden Arzt transparent werden.
Trotz des Aufwandes sollten Neurologen und Nervenärzte ihre chronischen neurologischen Patienten immer wieder in die Rehabilitationsbehandlung einweisen, damit ihr Rehabilitationspotenzial repetitiv ausgeschöpft und die Mängel der Heilmittelversorgung ausgeglichen werden können.
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Verordnungsempfehlungen – Leitlinien
Verordnungsempfehlungen für die ambulante Heilmittelanwendung gibt es nach meinem Wissen nicht.
In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) von Hans-Christoph Diener und Norman Putzki findet man in den Kapiteln zu Parkinson, Schlaganfall oder Multiple Sklerose keine Empfehlungen zur Heilmittelanwendung [3], [10]. Nur im Kapitel Schwindel findet man für den benignen paroxymalen Lagerungsschwindel (BPLS) detailliertere therapeutische Empfehlungen zu physikalischen Maßnahmen [3].
Fünf der DGN-Leitlinien liefern brauchbare Informationen zur Heilmittelanwendung in speziellen Situationen; dort wird nicht scharf zwischen kurativer und rehabilitativer Anwendung von Heilmitteln differenziert [3]. Hier handelt es sich um durchaus differenzierte Angaben zu verschiedenen Phasen der jeweiligen Behandlungen: akut, postakut und chronisch. Es gibt jeweils Kurz- und Langfassung und umfangreiche Literatur:
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DGN Leitlinie 2008 (Revision 2011/12 zu erwarten) [3],
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Physiotherapie und medikamentöse Therapie spastischer Syndrome
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Motorische Rehabilitation nach Schlaganfall
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Rehabilitation aphasischer Störungen nach Schlaganfall
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Neurogene Dysphagien
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Multiprofessionelle neurologische Rehabilitation
Schlussfolgerung zum Thema Leitlinien
Es sieht so aus, dass die bisher vorliegende Generation der S1-Leitlinien der DGN durchaus noch einen Bogen um die nichtmedikamentösen Behandlungsoptionen macht, oder aber die Evidenzlage für die Heilmittelanwendung ist noch so instabil, dass man differenzierte Empfehlungen auf der Ebene der neurologischen Gesellschaft noch scheut.
Im internationalen Schrifttum finden sich aber schon seit über fünf Jahren sehr weit entwickelte und evidenzbasierte klinische Praxis-Leitlinien: zum Beispiel die KNGF Clinical Practice Guideline for physical therapy in patients with stroke und die KGNF Clinical Guidelines for physical therapy in patients with Parkinson’s disease [7],[8].
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Leitlinien-Clearingprozess für Heilmittel und Rehabilitation am Beispiel Schlaganfall
Immerhin haben die Gesellschaften und Verbände Leitlinienprozesse für die therapeutische und rehabilitative Versorgung des Schlaganfalles angestoßen, die wahrscheinlich in den nächsten Jahren klarere Empfehlungen und Leitfäden auch für die ambulante Versorgung erbringen dürften ([Abb. 2]). Im Jahr 2009 wurde von der DGNR eine S2e-Leitlinie zur motorischen Rehabilitation der oberen Extremität nach Schlaganfall vorgelegt [18].
Auch die Verbände der Heilmittelerbringer haben die Problematik der unklaren Verordnungspraxis, der noch schwachen Wirksamkeitsnachweise der Verfahren und der unsicheren Evidenzlage erkannt: Die neuen akademischen Ausbildungsinstitutionen (Fachhochschulen) für die Therapeutenberufe, die Physio-Akademie des ZVK und die Herausgeber dieser Zeitschrift bemühen sich zunehmend darum, die Evidenzlage zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Interventionen zu untersuchen und Versorgungsforschung zu initiieren. Die Physio-Akademie des ZVK versucht zum Beispiel, in einem kontinuierlichen Leitlinien-Clearingprozess die Studienlage über Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von physiotherapeutischen Maßnahmen zu verfolgen. Es geht um den Versuch, Transparenz über Art, Dichte und Intensität, Ziel und phasengerechte Anwendung von Verfahren zu erarbeiten. Es dürfte spannend sein, die Erkenntnisse zwischen Leistungsverordnern und Leistungserbringern systematisch abzustimmen und in der Versorgung zu neuen gemeinsamen Vorgehensweisen zu kommen.
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Fazit
Aus der Sicht des Autors erfordern die Schnittstellen zwischen vertragsärztlicher Versorgung, Heilmittelanwendung und Neurorehabilitation dringend einer qualifizierten Weiterentwicklung und einer systembegleitenden Versorgungsforschung. Die Rahmenbedingungen und Zielbereiche der ambulanten Krankenversorgung im Heilmittelsektor (Kuration) und der Kompensation und Anpassung an Behinderung (Rehabilitation und ambulante Rehabilitationsnachsorge) müssen neu definiert werden. Die Bedingungen der Heilmittelinterventionen bei neurologischen Patienten bedürfen der Klärung.
Eine Orientierung am biopsychosozialen ICF-Konstrukt ist sowohl für die Heilmittelerbringung als auch für die Rehabilitation erforderlich. Es geht nicht nur um Funktionsverbesserung, sondern um Aktivitätsaufbau und Weckung von Eigenverantwortung des Betroffenen, und es kommen auch die neuro- und psychosozialen Fragen nach Teilhabe an Gemeinschaft und Beruf trotz Behinderung und Alter in den Fokus. Dieser Aufgabe muss sich die Neurologie stellen.
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Literatur
- 1 Behrens J, Becker C, Fleischer S et al. Nachsorge im Rehabilitationsprozess nach Schlaganfall: Realität und Perspektive. Sonderforschungsbereich 580, Universität Halle-Wittenberg; 11/2009
- 2 Ceballos-Baumann AO, Ebersbach G, George S. Aktivierende Therapien bei Parkinson-Syndromen. Stuttgart: Thieme; 2008
- 3 Diener HC, Putzki N Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4.. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008
- 4 Fries W, Lössl H, Wagenhäuser S. Teilhaben!. Stuttgart: Thieme; 2007
- 5 Hesse S, Staats M, Werner C et al. Ambulante Krankengymnastik von Schlaganfallpatienten zu Hause – Vorläufige Ergebnisse über Umfang, Inhalt und Effektivität. Nervenarzt 2001; 72: 950-954
- 6 Hoeß U, Schupp W, Schmidt R et al. Versorgung von Schlaganfallpatienten mit ambulanten Heil- und Hilfsmitteln im Langzeitverlauf nach stationärer neurologischer Rehabilitation. Phys Med Rehab Kuror 2008; 18: 115-121
- 7 KNGF_Guideline_for_Physical_Therapy_in_patients_with_PMarkinsons_disease.pdf: www.kngfrichtlijnen.nl
- 8 KNGF_Guideline_for_Physical_Therapy_in_ patients_with_Stroke.pdf www.kngfrichtlijnen.nl
- 9 Langhorne P, Taylor G, Murray G et al. Early supported discharge services for stroke patients: a meta-analysis of individual patient’s data. Lancet 2005; 365: 501-506
- 10 Leitlinien online: www.dgn.org
- 11 434-Leitlinien-der-dgn-rehabilitation-aphasischer-stoerungen-nach-schlaganfall: www.dgn.org
- 12 Öhlinger S, Mairhofer H. Langzeitrehabilitation im Niemandsland. Ein Konzept für Patienten nach erworbenen Hirnschädigungen an der Nahtstelle zwischen Gesundheits- und Sozialbereich. Neurologie und Rehabilitation 2010; 16: 28-34
- 13 Rahmenempfehlungen Heilmittel: www.gkv-spitzenverband.de
- 14 Rentsch HP. Das „Shared Care Modell“ als effizientes und qualitativ hoch stehendes Versorgungsprinzip in der Rehabilitation am Beispiel der Neurorehabilitation des Kantonspitals Luzern. Neurologie und Rehabilitation 2004; 10: 253-260
- 15 Reuther P, Wallesch CW. Rehabilitation von Menschen mit erworbenen Hirnschaden: Systematische und langfristige Nachsorge sicherstellen. In: Ebert A, Fries W, Ludwig L, Hrsg. Rehabilitation und Nachsorge nach Schädelhirnverletzung. NeuroRehabilitation stationär – und dann...?. Bad Honnef: Hippocampus; 2010: 12-18
- 16 Rollnik JD, Allmann J, Kringler W et al. Die neurologische Rehabilitations-Phase E: Nachgehende Rehabilitationsleistungen zur sozialen Reintegration und Teilhabe, ein Kontinuum?. Die Rehabilitation 2011 (im Review-Verfahren)
- 17 Rollnik JD, Allmann J. Berufliche Teilhabe von neurologischen Rehabilitanden: Langzeitergebnisse eines medizinisch-beruflichen Rehabilitationszentrums (Phase II). Die Rehabilitation 2011; 50: 37-43
- 18 S2e-Leitlinie der DGNR zur motorischen Rehabilitation der oberen Extremität nach Schlaganfall. Neurologie & Rehabilitation 2. Bad Honnef: Hippocampus; 2009
- 19 Spranger M, Schmiedel B, Rüsch B et al. Bundesarbeitsgemeinschaft medizinisch-beruflicher Rehabilitationseinrichtungen Magdeburg. Rahmenempfehlungen zur medizinisch-beruflichen Rehabilitation in der Neurologie (Phasen D und E). Prävention und Rehabilitation 2007; 19: 81-91
- 20 Verordnete Leistungen (vl): www.kbv.de
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Behrens J, Becker C, Fleischer S et al. Nachsorge im Rehabilitationsprozess nach Schlaganfall: Realität und Perspektive. Sonderforschungsbereich 580, Universität Halle-Wittenberg; 11/2009
- 2 Ceballos-Baumann AO, Ebersbach G, George S. Aktivierende Therapien bei Parkinson-Syndromen. Stuttgart: Thieme; 2008
- 3 Diener HC, Putzki N Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4.. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008
- 4 Fries W, Lössl H, Wagenhäuser S. Teilhaben!. Stuttgart: Thieme; 2007
- 5 Hesse S, Staats M, Werner C et al. Ambulante Krankengymnastik von Schlaganfallpatienten zu Hause – Vorläufige Ergebnisse über Umfang, Inhalt und Effektivität. Nervenarzt 2001; 72: 950-954
- 6 Hoeß U, Schupp W, Schmidt R et al. Versorgung von Schlaganfallpatienten mit ambulanten Heil- und Hilfsmitteln im Langzeitverlauf nach stationärer neurologischer Rehabilitation. Phys Med Rehab Kuror 2008; 18: 115-121
- 7 KNGF_Guideline_for_Physical_Therapy_in_patients_with_PMarkinsons_disease.pdf: www.kngfrichtlijnen.nl
- 8 KNGF_Guideline_for_Physical_Therapy_in_ patients_with_Stroke.pdf www.kngfrichtlijnen.nl
- 9 Langhorne P, Taylor G, Murray G et al. Early supported discharge services for stroke patients: a meta-analysis of individual patient’s data. Lancet 2005; 365: 501-506
- 10 Leitlinien online: www.dgn.org
- 11 434-Leitlinien-der-dgn-rehabilitation-aphasischer-stoerungen-nach-schlaganfall: www.dgn.org
- 12 Öhlinger S, Mairhofer H. Langzeitrehabilitation im Niemandsland. Ein Konzept für Patienten nach erworbenen Hirnschädigungen an der Nahtstelle zwischen Gesundheits- und Sozialbereich. Neurologie und Rehabilitation 2010; 16: 28-34
- 13 Rahmenempfehlungen Heilmittel: www.gkv-spitzenverband.de
- 14 Rentsch HP. Das „Shared Care Modell“ als effizientes und qualitativ hoch stehendes Versorgungsprinzip in der Rehabilitation am Beispiel der Neurorehabilitation des Kantonspitals Luzern. Neurologie und Rehabilitation 2004; 10: 253-260
- 15 Reuther P, Wallesch CW. Rehabilitation von Menschen mit erworbenen Hirnschaden: Systematische und langfristige Nachsorge sicherstellen. In: Ebert A, Fries W, Ludwig L, Hrsg. Rehabilitation und Nachsorge nach Schädelhirnverletzung. NeuroRehabilitation stationär – und dann...?. Bad Honnef: Hippocampus; 2010: 12-18
- 16 Rollnik JD, Allmann J, Kringler W et al. Die neurologische Rehabilitations-Phase E: Nachgehende Rehabilitationsleistungen zur sozialen Reintegration und Teilhabe, ein Kontinuum?. Die Rehabilitation 2011 (im Review-Verfahren)
- 17 Rollnik JD, Allmann J. Berufliche Teilhabe von neurologischen Rehabilitanden: Langzeitergebnisse eines medizinisch-beruflichen Rehabilitationszentrums (Phase II). Die Rehabilitation 2011; 50: 37-43
- 18 S2e-Leitlinie der DGNR zur motorischen Rehabilitation der oberen Extremität nach Schlaganfall. Neurologie & Rehabilitation 2. Bad Honnef: Hippocampus; 2009
- 19 Spranger M, Schmiedel B, Rüsch B et al. Bundesarbeitsgemeinschaft medizinisch-beruflicher Rehabilitationseinrichtungen Magdeburg. Rahmenempfehlungen zur medizinisch-beruflichen Rehabilitation in der Neurologie (Phasen D und E). Prävention und Rehabilitation 2007; 19: 81-91
- 20 Verordnete Leistungen (vl): www.kbv.de