Versorgungssituation – ambulante Realität
Kurz und knapp befasst sich der Beitrag aus der Sicht des niedergelassenen Facharztes für
Neurologie mit den Rahmenbedingungen, der Realität der ambulanten Heilmittelversorgung und
mit der Schnittstelle zwischen dem niedergelassenen Vertragsarzt und der Neurorehabilitation
von neurologischen Patienten.
In Deutschland gibt es nur wenige Untersuchungen über die Versorgungssituation zum Beispiel
im Langzeitverlauf nach Schlaganfallrehabilitation. Folgende drei Arbeiten aus den letzten
zehn Jahren spiegeln die Facetten der ambulanten Nachsorge wider.
Stefan Hesse und seine Kollegen berichteten 2001 über die ambulante Krankengymnastik von
Schlaganfall, Umfang, Inhalt und Effektivität und fordern, im ambulanten Bereich neben den
im Heilmittelkatalog aufgeführten krankengymnastischen Techniken auf neurophysiologischer
Basis auch moderne, positiv evaluierte Therapien zu berücksichtigen. Auch sollte die
zeitliche Abfolge der Therapie, kontinuierlich versus Blocktherapie, überdacht werden.
Außerdem regen sie Versorgungsforschung an [5].
Uta Hoeß und ihr Team beschreiben 2008 die Versorgung von Patienten nach Schlaganfall mit
ambulanten Heil- und Hilfsmitteln im Langzeitverlauf (2,6 Jahre) nach stationärer
neurologischer Rehabilitation. Ergebnisse aus ihrer Arbeit waren unter anderem, dass eine
intensive Versorgung mit Heilmitteln eher jüngere, körperlich mehr, aber psychisch weniger
beeinträchtigte Patienten erhielten und dass der Pflegestatus, das Auftreten von
Komplikationen in der Pflege und die Belastungssituation der Angehörigen offenbar ohne
Einfluss auf die Heilmittelversorgung zu sein schienen [6].
Johannes Behrens und seine Kollegen beschreiben 2009 in einer Nachsorgestudie, dass die
Patienten nach einem Schlaganfall folgende Versorgung erhalten ([Abb. 1]) [1].
Abb. 1 Versorgungssituation im Langzeitverlauf nach Schlaganfall.(Quelle: nach J. Behrens et al. 2009)
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die bisherigen Versorgungsbrüche und die
gesundheitsbedingten Teilhabestörungen spezifische komplexe Leistungen benötigten, die über
die bisherige Leistungserbringung hinausgingen. Eine bedarfsgerechte Nachsorge ginge über
die meist unstrukturierten Leistungen einzelner Leistungserbringer deutlich hinaus. Erst
längerfristige zielorientierte Therapien seien erfolgversprechend; aber nur selten
anzutreffen. Das sektorale Gesundheitswesen produziere Schnittstellen, die auf der
individuellen Ebene des Betroffenen nicht selten zu Versorgungs(ab)brüchen führe. Aus
subjektiver Betroffenensicht sei das Versorgungssystem intransparent, und die Notwendigkeit
von Eigeninitiative durch die Betroffenen und Angehörigen führe zu Unterversorgung. Selbst
kümmern müssen führe zu sozialer Ungleichheit, weil die dazu notwendigen Kompetenzen und
Kenntnisse und die Erreichbarkeit von Versorgung nicht für alle Betroffenen gegeben seien
[1].
Letztlich herrschen m. E. Unklarheiten bei den ärztlichen Verordnern und bei den
Fachkräften der Heilmittelerbringer. Die Versorgung orientiert sich wenig am medizinischen
und sozialmedizinischen Bedarf der betroffenen Patienten und bleibt oft auf dem
Funktionsniveau hängen.
Dennoch möchte ich die ambulante Versorgungsrealität aus der Sicht des niedergelassenen
Facharztes nicht nur kritisch beschreiben, sondern auch konstruktiv dazu beitragen, die
Situation zu optimieren.
Rahmenbedingungen der Heilmittelversorgung
Heilmittelrichtlinie: Grundlagen der derzeitigen kassenärztlichen Versorgung
Die Heilmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) soll der Sicherung
einer nach den Regeln der ärztlichen Kunst und unter Berücksichtigung des allgemein
anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse ausreichenden, zweckmäßigen und
wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten mit Heilmitteln dienen.
Dabei können nach dem für die GKV-Versorgung zuständigen Sozialgesetzbuch V (SGB V § 12)
Heilmittel zu Lasten der Krankenkassen nur verordnet werden, wenn sie notwendig sind, um
eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu
lindern, eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer
Krankheit führen würde, zu beseitigen, einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung
eines Kindes entgegenzuwirken oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern. Für
die rehabilitative Versorgung sind die Rehabilitationsrichtlinien SGB V § 92 sowie SGB V §
40 und SGB IX zuständig.
Heilmittelkatalog regelt Verordnungen von physio-, ergotherapeutischen und
logopädischen Maßnahmen
In der Heilmittelrichtlinie befindet sich der umfangreiche und detaillierte
Heilmittelkatalog: Der Katalog regelt, wie ein Vertragsarzt Heilmittel im Regelfall und
außerhalb des Regelfalles verordnen muss:
Physiotherapeutisch kann man zum Beispiel alle zentralneurologischen Bewegungs- und
Koordinationsstörungen, Tonusstörungen und Kontrakturen beim Erwachsenen im Regelfall
mit KG-ZNS oder KG – bei Bedarf unterstützt durch physikalische Maßnahmen – versorgen
(S. 129 „Kluft zwischen therapeutischem Anspruch und Versorgungsrealität“). Für KG-ZNS
bezieht sich auch der neue Heilmittelkatalog 2011 dezidiert auf den Einsatz der
neurophysiologischen Techniken nach Bobath, Vojta und PNF.
Dem aufmerksamen Leser drängt sich die Frage auf, warum die neuen evidenzbasierten
Verfahren der neurologischen Therapie noch keine Erwähnung finden.
Es besteht Handlungsbedarf für die neurologischen Fachgesellschaften, die
Berufsverbände und die Verbände der Heilmittelerbringer, gemeinsam im G-BA aktiv zu
werden, um zumindest in der nächsten Revision der Richtlinie die moderneren
Therapieansätze mit ihrer neurowissenschaftlichen Basierung zu etablieren ([Tab. 1]). Wir leben in der Zeit der evidenzbasierten
Medizin, dann sollten wir die dafür notwendigen Ressourcen auch einfordern. Wir müssen
uns in klinischen Handlungsleitlinien auf Behandlungsziele und auf die Art, die Dauer
und den Umfang von Interventionen einigen.
Tab. 1
Gegenüberstellung von traditionellen und modernen Verfahren der neurologischen
Therapie
Die traditionellen neurophysiologischen Behandlungskonzepte
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Die modernen Behandlungskonzepte der neurologischen Therapie (mit aktuellem
Evidenzgrad)
|
Grundlage sind reflexhierarchische Theorien (basierend auf Sherrington 1906),
die besagen, dass der motorische Output durch den sensorischen Input bestimmt
wird. Der Kerngedanke aller neurophysiologischen Konzepte ist deshalb die
Förderung eines somatosensiblen Inputs zur Erzielung eines erwünschten
motorischen Outputs. Die Therapien erfolgen meist passiv „Hands-on“.
Weiterentwicklungen der NDT-Verfahren sehen Verbindungen zur
ICF-Zielorientierung vor:
|
Grundlage sind die Erkenntnisse der modernen Neurophysiologie und der
neurologischen Bildgebung:
Regeln für das lernorientierte Üben sind: Aufgabenorientiertheit (Task),
Alltagsrelevanz, aktives Üben, Wiederholung (Repetition), Variation und
individuelle Steigerung der Schwierigkeitsgrade (Shaping), Rückmeldung der
Ergebnisse, Belohnung (Motivation) und Wettbewerb (Competition). Behandlung der
Grundbedingungen (Kontrakturen, Subluxationen).
Die Verfahren erfordern (möglichst wenig) Unterstützung durch den Therapeuten,
erfolgen meist „Hands-off“.
Die individuelle Zielorientierung ist dezidierte Basis der Verfahren.
-
Laufbandtherapie mit partieller Gewichtsentlastung (Ib)
-
Erzwungener Gebrauch: Constraint-induced Movement Therapy (CIMT), Forced
Use (Ib)
-
Repetitives Üben (Ib)
-
Krafttraining (Ib)
-
Funktionelle elektrische Stimulation (FES) (Ib)
-
Rhythmisch-akustische Stimulation (RAS) (II)
-
Mentales Üben (Imagery-Technik) (II)
-
Spiegeltherapie (II)
-
„Roboterassistiertes“ Üben der oberen Extremität (Ib)
|
Motorisches Lernen, Repetition, alltagsorientiertes Üben und die medizinische
Laufbandtherapie mit Gewichtsentlastung benötigen andere Verordnungsmöglichkeiten, als
sie im gültigen Heilmittelkatalog vorgegeben sind.
Ergotherapeutische Maßnahmen kann man nach dem aktuellen Heilmittelkatalog weiterhin
durch motorisch-funktionelle, sensorisch-perzeptive oder als
Hirnleistungstraining/neuropsychologisch-orientierte Interventionen behandeln lassen und
dabei im Regelfall bis zu 40 Einheiten (Beispiel EN2 für Erwachsene) verordnen (S. 125
„Ergotherapie in der ambulanten neurologischen Versorgung“).
Kommentar: Sicher kann man viele alltagsorientierte Aufgaben mit diesem
Verordnungskontingent gut behandeln und ADL-Hilfsmittel einführen. Auch hier müssen die
Gesellschaften auf eine Weiterentwicklung des Kataloges hinwirken, um zum Beispiel für
die Forced-Use-Therapie (CIMT) und andere evidenzbasierte Therapieverfahren
weiterentwickelte Verordnungsgrundlagen und andere Ressourcen zu erreichen.
Die logopädische Behandlung für erworbene Sprachstörungen (SP5) oder für die in der
neurologischen und neurogeriatrischen Versorgung immer wichtiger werdenden
Schluckstörungen (SC1) sieht nach dem gültigen Heilmittelkatalog schon im Regelfall bis
zu 60 Interventionen vor.
Kommentar: Mit diesem Verordnungskontingent kann man schon fast leitliniengerecht eine
Aphasie behandeln, vorausgesetzt man findet eine Praxis für Logopädie, die in der Lage
ist, einen einzelnen Aphasiker blockweise und zielorientiert fünf bis acht Stunden pro
Woche über sechs Wochen zu behandeln. Es gibt gelegentlich diese Praxen. Aber der so
verordnende Facharzt muss sich bei der Budget- und Wirtschaftlichkeitsprüfung „warm
anziehen“. Zumindest haben die Verbände der Logopäden und Sprachtherapeuten es schon bei
der vorletzten Revision der Heilmittelrichtlinie im Jahr 2005 geschafft, mit dem G-BA
über eine leitliniengerechte Aphasiebehandlung in der Neurologie zu verhandeln und den
Heilmittelkatalog entwickelt. Auch in diesem Bereich muss die Versorgungsqualität durch
die systematische Anwendung von Handlungsleitlinien verbessert werden [11].
Dosierung von Heilmitteln begrenzt
Zur Dosierung von Heilmitteln sieht der Heilmittelkatalog für ZNS-Störungen die
Frequenz von mindestens einmal pro Woche vor. Warum diese untere Dosisbegrenzung
vorgegeben wird, erschließt sich aus dem Katalog (und aus der Wissenschaft) nicht. Das
Gegenteil ist in der offiziellen Richtlinie nicht zu finden: Eine in den modernen
neurologischen Therapieverfahren notwendige Verordnung hochfrequenter und repetitive
Dosierung mit täglichem, gelegentlich auch mehrstündigem Üben.
Die Rahmenempfehlung mit den Physiotherapeuten stammt aus dem Jahr 2006, die der
Ergotherapeuten und Logopäden aus 2005: Im Hinblick auf die notwendige Weiterentwicklung
der neurologischen Therapieverfahren und der dazu notwendigen Ausbildung und
Qualifizierung schlummert auch hier Arbeit [13].
Auf der Homepage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erhält man umfangreiche
statistische Informationen zur ambulanten Heilmittelversorgung [20]. Es handelt sich dabei um einen Markt, dessen
gesamtes jährliches Ausgabenvolumen sich zwischen 2000 und 2009 von 3 auf 4 Milliarden
Euro entwickelt hat. Dieser Betrag entspricht etwa 16 % der ambulanten ärztlichen und 14
% der Arzneimittelversorgung!
Budget-Richtgröße und Wirtschaftlichkeit
Für die Neurologie ist es wichtig zu wissen, dass in zum Beispiel Rheinland-Pfalz – wie
den meisten anderen KVen und Bundesländern – für die Facharztgruppe der Neurologen,
Nervenärzte und Psychiater keine Richtgrößen festgelegt sind und dass viele der durch
unsere Arztgruppe mit Heilmitteln zu versorgenden Gesundheitsprobleme als
Praxisbesonderheit anerkannt sind. Im Gegensatz zu Hausärzten, Internisten, Orthopäden und
Chirurgen muss unsere neurologisch-nervenärztliche Facharztgruppe im Heilmittelsektor
(zurzeit) also keine Richtgrößenprüfungen fürchten, weil es dort keine Budgets für
Heilmittel gibt. Hinsichtlich einer Wirtschaftlichkeitsprüfung ist dies aber durchaus
anders, weil hier ja der Vergleich mit dem Versorgungsverhalten der regionalen eigenen
Fachkollegen einfließt.
Ambulante Mangelversorgung im Bereich Neuropsychologie, Beeinträchtigung kognitiver
Fähigkeiten und psychophysische Minderbelastbarkeit
Die Mangelversorgung des Patienten mit organisch psychischen Störungen, mit kognitiven
Teilleistungsstörungen, mit Depression und Angst und der nicht erkannten und nicht
bekannten psychophysischen Minderbelastbarkeit nach erworbener Hirnschädigung ist ein
ungelöstes Kapitel der ambulanten Versorgung. Zahlreichen Patienten nach Schlaganfall,
Schädel-Hirn-Verletzten, Multiple-Sklerose-Kranken, Menschen mit degenerativen, toxischen
oder hypoxischen Hirnschädigungen werden die bekannten und effektiven neuropsychologischen
Behandlungen in der ambulanten Versorgung vorenthalten. Im Gegensatz dazu ist für
Privatpatienten und BG-Patienten auch schon jetzt eine ambulante neuropsychologische
Behandlung möglich. Im G-BA läuft seit 2004 (!) ein Prüfverfahren, das erarbeiten soll, ob
und wie neuropsychologische Behandlung für Menschen mit erworbener Hirnerkrankung in die
ambulante vertragsärztliche Versorgung eingeführt werden kann. Man hört, dass noch 2011
oder 2012 das Verfahren abgeschlossen werden soll.
Neuropsychologische Diagnostik und Behandlung sind nur in der Neurorehabilitation und
in der stationären Neurogeriatrie verfügbar. Ambulant kann diese neuropsychologische
Versorgung nicht fortgesetzt werden, weil sie bislang im ambulanten vertragsärztlichen
System nicht vorgesehen ist.
Die nachsorgende Behandlung und Wiedereingliederung von Menschen mit erworbener
Hirnschädigung in Beruf und Gemeinschaft erfordern spezielle Nachsorgekonzepte, die mit
Planung, Supervision und Coaching, Belastungserprobung und stufenweiser Eingliederung
einhergehen müssen. Diese Konzepte sind national und international bekannt und
erfolgreich, aber in Deutschland regional meist nicht verfügbar [4], [9], [12], [14], [15], [16], [17], [19]. Ein besonderes Versorgungsloch
(„gap“) besteht vor allem für die neurologischen Patienten in erwerbsfähigem Alter mit
vorhandenem Arbeitsplatz und Arbeitsverhältnis, die aus der Reha mit anhaltender
Arbeitsunfähigkeit aber prinzipiell positiver Erwerbsprognose entlassen werden. Hier fehlt
es an geplanter und integrationsorientierter Nachsorge und an therapeutisch supervidierter
Belastungserprobung und Eingliederungsbegleitung. Die Wiedereingliederungsprognose wird
durch Systemmängel definitiv gefährdet [16].
Rehabilitationssport und Funktionstraining
Für die nachsorgende ambulante Versorgung und aktivierende Langzeitbetreuung von
neurologischen Patienten sind Behindertensport- und Selbsthilfeaktivitäten besonders
wertvoll:
Auch nach meiner Erfahrung sind Rehabilitationssport- und Funktionstraining durch
regionale Behindertensport- und Selbsthilfevereine hocheffektiv für die Eigeninitiative
des Patienten. Neben den körperlich-sportlichen Aktivitäten werden wichtige
gruppendynamische und psychosoziale Ansätze verfolgt. Rehabilitationssport für
neurologische Patienten, für Schlaganfall, für Parkinson und für MS ist regional zunehmend
verfügbar. Diese effektiven Interventionen sollten – ähnlich wie Koronarsportgruppen durch
Internisten und Kardiologen – auch durch niedergelassene neurologische Fachärzte regional
intensiv gefördert werden, wo immer es geht.
Neurologische Patienten werden durch Rehasport bis zu drei Jahre lang aktiv durch die
Krankenkassen gefördert gegen einen vergleichsweise geringen finanziellen Einsatz. Hier
sind Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit sicher gegeben.
Natürlich gibt es auch für die Abwicklung von Rehabilitationssport- und Funktionstraining
amtliche Regelungen: Auf der Homepage der KBV finden sich die 2011 revidierten
Rahmenvereinbarungen: http://www.kbv.de/vl/23618.html.
Rehabilitation: Hier wird gespart
Auch zum Thema Rehabilitation finden sich auf der Homepage der KBV noch beachtenswerte
Fakten (http://www.kbv.de/vl/14092.html). Interessanterweise ist der Reha-Markt von 2000 bis
2009 im GKV-Sektor geschrumpft (von 2,7 Mrd. auf 2,4 Mrd.)! Wenn man die aktuellen Zahlen
der BAR sieht, sind die Ausgaben für medizinische Rehabilitation der GKV auch im Jahr 2009
noch nicht auf dem Level von 2000 angekommen (REHA-Info 1/2011). Es wird also weiterhin an
der Rehabilitation eher gespart. Dies ist ein wichtiger Grund mehr, warum die ambulanten
Vertragsärzte mehr Verantwortung für die angemessene Versorgung von Patienten übernehmen
müssen. Mehr als früher muss man darauf achten, ob das Behandlungspotenzial des einzelnen
Patienten bei der Entlassung aus der Akutklinik (zum Beispiel in die
Kurzzeitpflegeeinrichtung) oder aus der stationären Rehabilitation auch wirklich
ausgeschöpft ist. Die Patienten haben einen Anspruch darauf. Wahrscheinlich müssen
Neurologen und Nervenärzte sehr viel häufiger als bisher nicht nur an eine angemessene
ambulante Heilmittelversorgung im Verlauf, sondern auch an die Einleitung einer
Wiederholungsrehabilitation denken.
Ärgerlich ist, dass die Einleitung von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation ein so
hyperbürokratisiertes und intransparentes Verfahren ist – hier sollten die Betroffenen, die
Angehörigen und die neurologischen Gesellschaften und Verbände gemeinsam mit anderen Druck
machen, damit das Verfahren vereinfacht und die Entscheidungspraxis der Kassen und die
Beratungspraxis des MDK für den Betroffenen und den überweisenden Arzt transparent
werden.
Trotz des Aufwandes sollten Neurologen und Nervenärzte ihre chronischen neurologischen
Patienten immer wieder in die Rehabilitationsbehandlung einweisen, damit ihr
Rehabilitationspotenzial repetitiv ausgeschöpft und die Mängel der Heilmittelversorgung
ausgeglichen werden können.
Verordnungsempfehlungen – Leitlinien
Verordnungsempfehlungen für die ambulante Heilmittelanwendung gibt es nach meinem Wissen
nicht.
In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) von Hans-Christoph Diener
und Norman Putzki findet man in den Kapiteln zu Parkinson, Schlaganfall oder Multiple
Sklerose keine Empfehlungen zur Heilmittelanwendung [3],
[10]. Nur im Kapitel Schwindel findet man für den
benignen paroxymalen Lagerungsschwindel (BPLS) detailliertere therapeutische Empfehlungen zu
physikalischen Maßnahmen [3].
Fünf der DGN-Leitlinien liefern brauchbare Informationen zur Heilmittelanwendung in
speziellen Situationen; dort wird nicht scharf zwischen kurativer und rehabilitativer
Anwendung von Heilmitteln differenziert [3]. Hier handelt
es sich um durchaus differenzierte Angaben zu verschiedenen Phasen der jeweiligen
Behandlungen: akut, postakut und chronisch. Es gibt jeweils Kurz- und Langfassung und
umfangreiche Literatur:
-
DGN Leitlinie 2008 (Revision 2011/12 zu erwarten) [3],
-
Physiotherapie und medikamentöse Therapie spastischer Syndrome
-
Motorische Rehabilitation nach Schlaganfall
-
Rehabilitation aphasischer Störungen nach Schlaganfall
-
Neurogene Dysphagien
-
Multiprofessionelle neurologische Rehabilitation
Schlussfolgerung zum Thema Leitlinien
Es sieht so aus, dass die bisher vorliegende Generation der S1-Leitlinien der DGN
durchaus noch einen Bogen um die nichtmedikamentösen Behandlungsoptionen macht, oder aber
die Evidenzlage für die Heilmittelanwendung ist noch so instabil, dass man differenzierte
Empfehlungen auf der Ebene der neurologischen Gesellschaft noch scheut.
Im internationalen Schrifttum finden sich aber schon seit über fünf Jahren sehr weit
entwickelte und evidenzbasierte klinische Praxis-Leitlinien: zum Beispiel die KNGF
Clinical Practice Guideline for physical therapy in patients with stroke und die KGNF
Clinical Guidelines for physical therapy in patients with Parkinson’s disease [7],[8].
Leitlinien-Clearingprozess für Heilmittel und Rehabilitation am Beispiel
Schlaganfall
Immerhin haben die Gesellschaften und Verbände Leitlinienprozesse für die therapeutische
und rehabilitative Versorgung des Schlaganfalles angestoßen, die wahrscheinlich in den
nächsten Jahren klarere Empfehlungen und Leitfäden auch für die ambulante Versorgung
erbringen dürften ([Abb. 2]). Im Jahr 2009 wurde von der
DGNR eine S2e-Leitlinie zur motorischen Rehabilitation der oberen Extremität nach
Schlaganfall vorgelegt [18].
Abb. 2 Angestoßen – noch gilt es die Kugel im Labyrinth der Versorgungspraxis ins Rollen zu bringen.(Foto: Wire_man – Fotolia.com)
Auch die Verbände der Heilmittelerbringer haben die Problematik der unklaren
Verordnungspraxis, der noch schwachen Wirksamkeitsnachweise der Verfahren und der unsicheren
Evidenzlage erkannt: Die neuen akademischen Ausbildungsinstitutionen (Fachhochschulen) für
die Therapeutenberufe, die Physio-Akademie des ZVK und die Herausgeber dieser Zeitschrift
bemühen sich zunehmend darum, die Evidenzlage zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der
Interventionen zu untersuchen und Versorgungsforschung zu initiieren. Die Physio-Akademie
des ZVK versucht zum Beispiel, in einem kontinuierlichen Leitlinien-Clearingprozess die
Studienlage über Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von physiotherapeutischen Maßnahmen zu
verfolgen. Es geht um den Versuch, Transparenz über Art, Dichte und Intensität, Ziel und
phasengerechte Anwendung von Verfahren zu erarbeiten. Es dürfte spannend sein, die
Erkenntnisse zwischen Leistungsverordnern und Leistungserbringern systematisch abzustimmen
und in der Versorgung zu neuen gemeinsamen Vorgehensweisen zu kommen.
Fazit
Aus der Sicht des Autors erfordern die Schnittstellen zwischen vertragsärztlicher
Versorgung, Heilmittelanwendung und Neurorehabilitation dringend einer qualifizierten
Weiterentwicklung und einer systembegleitenden Versorgungsforschung. Die Rahmenbedingungen
und Zielbereiche der ambulanten Krankenversorgung im Heilmittelsektor (Kuration) und der
Kompensation und Anpassung an Behinderung (Rehabilitation und ambulante
Rehabilitationsnachsorge) müssen neu definiert werden. Die Bedingungen der
Heilmittelinterventionen bei neurologischen Patienten bedürfen der Klärung.
Eine Orientierung am biopsychosozialen ICF-Konstrukt ist sowohl für die
Heilmittelerbringung als auch für die Rehabilitation erforderlich. Es geht nicht nur um
Funktionsverbesserung, sondern um Aktivitätsaufbau und Weckung von Eigenverantwortung des
Betroffenen, und es kommen auch die neuro- und psychosozialen Fragen nach Teilhabe an
Gemeinschaft und Beruf trotz Behinderung und Alter in den Fokus. Dieser Aufgabe muss sich
die Neurologie stellen.