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DOI: 10.1055/s-0031-1287641
Ältere Krebspatienten: Es geht um's Ganze
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
22. August 2011 (online)

Initiativen zur Qualitätssicherung in der Krebsmedizin haben zu gut zugänglichen evidenzbasierten, konsensbestimmten Leitlinien geführt, die mehr und mehr auch umgesetzt werden. Während niemand ernsthaft die Notwendigkeit dieser Leitlinien bezweifelt, ist doch enttäuschend, dass für die Mehrheit der Krebskranken, die über 65-Jährigen, bisher nicht der volle Nutzen bezüglich Vermeidung der krankheitsspezifischen Folgen, Reduktion der Todesfälle und Vermeidung von Hospitalisierung erreicht worden ist. Das liegt unter anderem daran, dass ältere Krebskranke deutlich seltener in Studien untersucht wurden als jüngere. Die undifferenzierte Anwendung der an jüngeren, nicht komorbiden Studienpatienten gewonnenen Leitlinien ist zwar vergleichsweise einfach; sie ist so aber nicht zielführend, sondern potenziell gefährlich für ältere Krebskranke. Entscheidende Probleme der medikamentösen Krebstherapie bei Älteren wurden bisher kaum bearbeitet, daher gibt es auch kaum ausreichende Erkenntnisse. Es geht um die Abnahme der Leistung innerer Organe und des Gehirns und die Zunahme der Komorbidität mit ihren Folgen, nämlich der dadurch bedingten Medikamentenkombinationen, die Einfluss auf die renale und extrarenale Elimination von Krebsmedikamenten haben. Hinzu kommt das Problem der Patientenzuverlässigkeit bei oralen Krebsmedikamenten und die verbreitete Selbstmedikation älterer Krebspatienten.
Einen krebskranken Menschen im Rahmen seiner wechselnden Stimmungen, seiner kognitiven Fähigkeiten und der individuellen Compliance leitliniengerecht, nicht nur bezüglich der oft toxischen Krebsmedizin, sondern bezüglich seiner gesamten zusätzlichen Medikation zu behandeln, das ist die tägliche Herausforderung. Weil Krebs im wesentlichen eine Alterserkrankung ist, ist auch der Schwerpunkt in der Onkologie auf eine altersgerechte, interdisziplinäre Krebsmedizin zu legen, die unzulässig vereinfacht wird, wenn Internisten und Pharmakologen nicht ernsthaft in alle Leitlinienkommissionen eingebunden werden.
Die Gründe für das mittelmäßige Abschneiden der deutschen Onkologen bei den 5-Jahres-Überlebensraten von heilbarem Brustkrebs von 77 %, deutlich hinter Schweden (82 %), USA (87 %) und Kuba (88 %) sind nicht untersucht worden und daher nicht bekannt. In Anbetracht der besseren Therapieergebnisse aus Ländern mit einem staatlichen Gesundheitswesen, einem großen Anteil Unversicherter und mit Ressourcenknappheit, müssen wir uns wohl eingestehen, dass allein die Bildung (organ)onkologischer Zentren, die gute Verfügbarkeit neuer Krebsmedikamente und der Einsatz beträchtlicher finanzieller Mittel im Gesundheitswesen nicht automatisch für gute Behandlungsergebnisse garantieren.
Haben wir hier ein Problem der Überbehandlung von Krebskranken? Nach einer Studie des National Cancer Institute der USA leiden über 55-jährige Frauen mit heilbarem Brustkrebs zu 45 % auch an Bluthochdruck, zu 15 % auch an Diabetes, zu 40 % an kardiovaskulären und zu 30 % an Beschwerden des Magen- und Darmtraktes. Finden wir tatsächlich die Frauen mit einem klinisch relevanten Bluthochdruck und z.B. einer hypertensiven Kardiomyopathie heraus, bevor wir eine Anthrazyklin-haltige Chemotherapie mit Strahlentherapie und Trastuzumab kombiniert verordnen? Auf welche dieser potenziell kardiotoxischen Behandlungen verzichten wir dann? Wo sind die unabhängigen Studien, die untersuchen, ob das Weglassen des leitliniengerechten Trastuzumabs bei bestimmten komorbiden Frauen eher einen Überlebensvorteil bedeuten könnte? Zumal in den letzten Jahren ja bereits sehr geringe Überlebensvorteile zur Zulassung neuer Medikamente geführt haben, ohne dass ihre Einflüsse bei komorbiden Patienten hinreichend untersucht worden wären.
”Wenn es nicht so große individuelle Unterschiede
gäbe, wäre die Medizin eine Wissenschaft;
so ist sie eine Kunst“.
William Osler
Auch die naive Überzeugung, dass die tatsächlich wirksame Dosis der applizierten Dosis entspricht, selbst bei einer Komedikation mit 7 bis 10 weiteren Medikamenten, zu allem Überfluss kombiniert mit Johanniskraut und Grapefruitsaft, verursacht vermeidbares Unglück. So wurde beispielsweise die große Variabilität der 5-FU-Plasmakonzentration einer identischen intravenösen 5-FU-Dosis (1300 mg/m2) von 550 bis 5500 mg/L (mittlere Dosis: 1589 ± 989 mg/L) gezeigt. Bei Krebsmitteln mit einer engen therapeutischen Breite sind solche Abweichungen vital bedrohlich. Viele Medikamente konkurrieren um dieselben Abbauenzyme; eine Hemmung der Abbauenzyme in der Leber (zum Beispiel durch Grapefruitsaft) reduziert die Clearance eines Krebsmittels und kann zu toxischen Wirkspiegeln führen. Umgekehrt kann dadurch die Giftung von inaktiven Chemotherapievorstufen (so genannten Prodrugs wie Cyclophosphamid und Ifosfamid) gehemmt werden. Die Forderung nach einer besonders kritischen Indikationsstellung von Begleitmedikamenten und ein vollständiger Verzicht auf nicht notwendige, aber pharmakologisch relevante Selbstmedikationen ist damit ausreichend begründet.
Das unkritische Beharren auf einer leitliniengerechten Erstlinientherapie mit einem überwiegend renal eliminierten Zytostatikum bei relevanter Niereninsuffizienz kann dazu führen, dass bestimmte Zytostatika wegen der notwendig werdenden Dosisreduktion nicht mehr in pharmakodynamisch wirksamer Dosis appliziert werden. Das Dilemma ist dann besonders groß, wenn toxische, aber therapeutisch unwirksame, renal eliminierte Metabolite entstehen. Bei entsprechender Kenntnis der Materie kann in solchen Situationen begründet auf extrarenal eliminierte Krebsmedikamente (Qo > 0,5) ausgewichen werden, bevor unerwünschte Wirkungen großen Ausmaßes und ohne Nutzen für den Krebskranken verursacht werden.
Wann immer wir in diesen komplexen Situationen eine Therapieentscheidung treffen müssen, ohne dass eine wirklich zutreffende Leitlinie existiert, sollte das Grundprinzip ärztlichen Handelns gelten: wenigstens nicht zu schaden.