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DOI: 10.1055/s-0031-1287697
Sind Neuroleptika neurotoxisch?
Publication History
Publication Date:
01 September 2011 (online)
Wohl nahezu jeder Psychiater wäre wohl bis vor Kurzem geneigt gewesen, diese Frage auf der Basis seines Wissensstands entschieden zu verneinen. Zumindest für die Medikamente der zweiten Genera tion, seit Lieberman et al. sogar einen neuroprotektiven Effekt für Olanzapin im Vergleich zu Haloperidol in Bezug auf das gemessene Gehirnvolumen in magnetresonanztomografischen Längsschnittuntersuchungen bei Erstaufnahmepatienten beschrieben hatten [1]. Jetzt erschien, ebenfalls in den Archives of General Psychiatry, eine bemerkenswerterweise bereits 2008 in einem Interview in der New York Times [2] angekündigte Arbeit, die den gegenteiligen Schluss nahelegt [3].
Die Arbeitsgruppe um Andreasen konnte 211 erstmals erkrankte Patienten mit Schizophrenie durchschnittlich 7 Jahre lang nachuntersuchen, wobei bei der Erstdiagnose und im Verlauf zwischen 2 und 5 strukturell-kernspintomografische Kontrollen angefertigt wurden. Neben den Volumenmessungen in unterschiedlichen Hirnregionen wurden aus allen verfügbaren Informationsquellen psychopathologische und funktionale Outcome-Maße, die durchschnittliche Antipsychotikadosis in Chlorpromazin-Einheiten unter Berücksichtigung der jeweiligen Medikamentenadhärenz und die Art des jeweiligen Antipsychotikums (erste Generation, zweite Generation, Clozapin) erfasst. Bei den umfangreichen statistischen Analysen war das Ziel, die kausalen Aspekte von vier Faktoren zu untersuchen: der Krankheitsdauer, der antipsychotischen Behandlung, der Krankheitsschwere und des Einflusses von Substanzmissbrauch. Die verwendeten statistischen Methoden erlauben es, den unabhängigen Einfluss jedes dieser vier Faktoren herauszurechnen. Bei der antipsychotischen Behandlung wurde zusätzlich untersucht, ob die gefundenen Zusammenhänge eine Interaktion mit dem Faktor "Zeit", d.h. der Behandlungsdauer, zeigten.
Für die graue Substanz des Gehirns fanden sich ein signifikanter Zusammenhang: Je höher die kumulative antipsychotische Dosis, desto höher war der Volumenverlust, auch nach Kontrolle der drei anderen Einflussfaktoren, unabhängig von der Art des verordneten Antipsychotikums und von der Dauer des Follow-ups. Die Volumenverluste betrafen vorwiegend den Frontal-, Temporal- und Parietallappen. Wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassen von Antipsychotika fanden sich nur in den Basalganglien, wo es zu Volumenvermehrungen des Putamens und teilweise des Nucleus caudatus bei den Antipsychotika der ersten und zweiten Generation kam, nicht aber bei Clozapin.
Die Veränderungen der weißen Substanz hingegen waren statistisch komplexer zu fassen: Ein signifikanter Zusammenhang mit der kumulativen antipsychotischen Dosis – wiederum nach Korrektur der anderen Einflussvariablen – zeigte sich zunächst nicht. Jedoch zeigte sich für die gesamte weiße Substanz, wiederum besonders für Frontal-, Temporal- und Parietallappen, ein signifikanter Interaktionseffekt mit der Behandlungsdauer. D.h., mit zunehmender Dauer der antipsychotischen Behandlung zeigten sich zunehmende Verluste des Gehirnvolumens und korrespondierend eine signifikante Zunahme der Liquorräume. Bei dem Drittel mit der geringsten Behandlungsintensität (=kumulativen Dosis) nahm die weiße Substanz im Durchschnitt sogar leicht zu, was in der dritten und vierten Lebensdekade üblich und zu erwarten ist, während sie bei dem Drittes der Patienten mit der höchsten Behandlungsintensität signifikant zurückging. Allerdings hatten die Patienten, welche die höchsten Dosen erhielten, bereits zu Beginn der Untersuchung, d.h. ohne Vorbehandlung mit Antipsychotika, geringere Volumen von Hirngewebe als die übrigen. Dies entspricht der klinischen Erfahrung, dass kränkere Patienten auch höhere Dosen bekommen. Die Krankheitsschwere hatte auch einen unabhängigen Einfluss auf den Verlust von Hirngewebe, nicht jedoch Substanzmissbrauch.
Unterstützung finden die Ergebnisse, wie die Arbeitsgruppe erwähnt, in Tierversuchen an Makaken [4]. Nach einer Behandlung mit Haloperidol oder Olanzapin zwischen 17 und 27 Monaten hatten die Makaken einen Verlust des Hirngewichts und -volumens zwischen 8 und 11% verglichen mit einer Kontrollgruppe. Die Effekte waren am ausgeprägtesten im Frontal- und Parietallappen. Es fanden sich keine Nervenzellverluste, jedoch eine verminderte Zahl der Astrozyten, verminderte dendritische Verzweigungen und eine verminderte dendritische Dichte.
Zusammengenommen lassen sich diese Ergebnisse kaum anders interpretieren, als die Autoren es getan haben: Man muss einstweilen vermuten, dass Antipsychotika zwar Positivsymptome unterdrücken, aber die Stimulation anderer Hirnteile, insbesondere des Frontallappens, reduzieren, was strukturell mit einer Volumenminderung einhergeht. Funktionell bedeutet dies aller Wahrscheinlichkeit nach eine Vermehrung von Negativsymptomatik und kognitiven Defiziten, was mit klinischen Erfahrungen korespondiert. Die Autoren empfehlen, solange keine besseren Medikamente verfügbar sind, mit der Dosierung sehr vorsichtig umzugehen und die jeweils niedrigst mögliche Dosis zu verwenden. Diese Empfehlung findet sich unabhängig davon bereits in den NICE-Leitlinien Schizophrenie [5]. Die Evidenz für diese Empfehlung ist jetzt wesentlich gestärkt.
Tilman Steinert, Weissenau
E-Mail: tilman.steinert@zfp-zentrum.de
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Literatur
- 1 Lieberman JA, Tollefson GD, Charles C et al. Antipsychotic drug effects on brain morphology in first episode psychosis. Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 361-370
- 2 http://www.nytimes.com/2008/09/16/health/research/16conv.html
- 3 Deng-Coon H, Andreasen NC, Ziebell S et al. Long-term antipsychotic treatment and brain volumes. Arch Gen Psychiatry 2011; 68: 128-137
- 4 Dorph-Peterson KA, Pierri JN, Perel JM et al. The influence of chronic exposure to antipsychotic medications on brain size before and after tissue fixation: A comparison of haloperidol and olanzapine in macaque monkeys. Neuropsychopharmacology 2005; 30: 1649-1661
- 5 National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE). Schizophrenia. Core interventions in the treatment and management of schizophrenia in adults in primary and secondary care. 2009 www.nice.org.uk/CG82