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DOI: 10.1055/s-0031-1291256
Schwindel in der Notfallmedizin
Vertigo in Emergency MedicinePublication History
Publication Date:
20 October 2011 (online)

Einleitung
Schwindel ist von besonderer Bedeutung, weil es sich um das nach Kopfschmerz zweithäufigste Leitsymptom (nicht nur) in der Neurologie und HNO-Heilkunde handelt [1]. Aber nicht nur in spezialisierten HNO- oder neurologischen Ambulanzen, auch in allgemeinmedizinischen und internistischen Abteilungen und Praxen stellt er ein häufiges Problem dar. Es wird geschätzt, dass in den USA jedes Jahr etwa 7,5 Millionen Patienten mit dem Leitsymptom Schwindel in Ambulanzen vorstellig werden, das eines der häufigsten Krankheitsbilder in Notfallambulanzen darstellt [7].
Schwindel ist einer der häufigsten Anlässe für eine ärztliche Konsultation.
Um sich dem oft vieldeutigen Beschwerdebild effektiv nähern zu können, ist zunächst eine Aufschlüsselung dessen wichtig, was der Patient unter „Schwindel“ versteht. Die zugrunde liegenden Störungen können nämlich das extrem breite Spektrum von einem Sich-in-der-Welt-nicht-mehr-sicher-Fühlen, beispielsweise bei selbstunsicherer Persönlichkeit oder Depression, bis hin zur Basilaristhrombose oder einem Kleinhirninfarkt mit potenziell lebensbedrohlichen Folgen reichen.
Die dem Schwindel zugrunde liegenden Störungen sind ausgesprochen vielfältig. Sie reichen von einem Unsicherheitsgefühl bis hin zu potenziell lebensbedrohlichen Zuständen wie Basilaristhrombose oder Kleinhirninfarkt.
Schwindel ist in seinem Kern ein multisensorisches Mismatch, also eine Divergenz oder Inkongruenz von Informationen, die aus verschiedenen Sinnesgebieten, zum Beispiel optisch, vestibulär, propriozeptiv, stammen und die abgeglichen und in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Für die Notfallmedizin ist es wichtig zu wissen, dass sich viele Schwindelsyndrome nach sorgfältiger Anamnese und körperlicher Untersuchung auch ohne aufwendige apparative Zusatzuntersuchungen diagnostisch korrekt einordnen lassen und meistens nicht nur eine gutartige Ursache mit einem günstigen Verlauf haben, sondern auch einer erfolgreichen Therapie zugänglich sind [12].
Schwindel ist im Kern ein Mismatch verschiedener Sinneseindrücke.
Dabei hilft die im englischen Sprachraum übliche Unterscheidung in „Dizziness“ und „Vertigo“. Dizziness kann mit „Schwindelgefühl“ umschrieben werden und ist sehr unspezifisch, da es zum Beispiel sowohl eine Benommenheit, das Gefühl einer drohenden Ohnmacht oder unbestimmte Ängste, ein allgemeines Unwohlsein oder den Eindruck bezeichnet, als würde man fallen oder schweben oder als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen. Mit Vertigo dagegen wird eine Scheinbewegung zwischen Körper und Umgebung bezeichnet, ein (gerichtetes) Dreh- oder Fallgefühl, Schwanken oder Taumeln, das in aller Regel auch ein beobachtbares Korrelat hat. Davon noch einmal abzugrenzen sind Gang-, Stand-, Bewegungs- oder Zeigestörungen ohne eigentlichen Schwindel, die als Ataxie zusammengefasst werden. Diesen Phänomenen liegen unterschiedliche Störungsursachen unterschiedlicher Bedeutung und Prognose zugrunde.
Grundsätzlich muss zwischen einem unspezifischen Schwindelgefühl („Dizziness“) und einer Scheinbewegung zwischen Körper und Umgebung („Vertigo“) unterschieden werden.
Die in einer speziellen Schwindelambulanz gängigsten Schwindelformen sind im Kasten zusammengestellt.
Relative Häufigkeit von Diagnosen in einer Spezialambulanz für Schwindel [1] (4 214 Patienten zwischen 1989 und 2002)
Benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPPV) 18,8%
Phobischer Schwankschwindel (PSS) 16%
Zentraler vestibulärer Schwindel (zum Beispiel vertebrobasiläre Insuffizienz) 13,2%
Vestibuläre Migräne 9,1%
Neuritis vestibularis (akuter einseitiger Labyrinthausfall) 7,9%
Morbus Menière 7,4%
Bilaterale Vestibulopathie 3,6%
Psychogen (ohne PSS) 3,5%
Vestibularisparoxysmie 2,7%
Perilymphfistel 0,5%
Ungeklärte Ätiologie 4,2%
Andere (unter anderem orthostatische Dysregulation) 13,1%
Bis zum Vorliegen spezifischerer Informationen sollte diese Häufigkeitsreihung bedacht und systematisch berücksichtigt werden. Wichtig ist, dass psychogene Schwindelformen zusammengenommen die Liste anführen und der benigne periphere paroxysmale Lagerungsschwindel (BPPV) die häufigste organisch begründbare Schwindelform darstellt. In einer US-amerikanischen Statistik waren zerebral-ischämische Ereignisse nur bei 3,2% aller Notfallpatienten Ursache der Symptomatik und sogar nur bei 0,7% derjenigen, die ein isoliertes Schwindelsyndrom aufwiesen [7]. Diese Ätiologie wird also erfahrungsgemäß zu häufig vermutet.
Am häufigsten sind psychogene Schwindelformen. Häufigste organisch begründbare Schwindelform ist der benigne periphere paroxysmale Lagerungsschwindel (BPPV).
Zentralvestibuläre Störungen kommen zum Beispiel im Rahmen von Hirn(stamm)infarkten und zerebralen Prozessen vor (multiple Sklerose, Intoxikation, selten Enzephalitiden oder Hirntumoren).
Der Beitrag des Neurologen in einer multidisziplinären Notfallambulanz wurde von Moulin und Mitarbeitern [9] genauer untersucht. Danach erhielten 14,7% aller notfallmäßig überwiesenen Patienten einen Neurostatus, bei 4,2% aller Patienten war Schwindel das führende Symptom. Die Verdachtsdiagnose einer primär neurologischen Erkrankung bestätigte sich nur bei 35,8%, sie war bei immerhin 56,7% falsch positiv, nur bei 7,5% falsch negativ. Dagegen war der prozentuale Anteil des Neurologen an der abschließenden Diagnose beim Leitsymptom Schwindel mit 64% besonders hoch. Erfreulich war, dass mehr als die Hälfte der Patienten, nämlich 57,1%, bereits nach einer ersten notfallmäßigen Untersuchung wieder entlassen werden konnten.
Zusammenfassend heißt dies, dass man unter Berücksichtigung der im Kasten aufgeführten Entitäten praktisch allen wichtigen Schwindelformen gerecht werden und nicht Gefahr laufen wird, eine wesentliche Ursache zu übersehen. Extrem seltene Ätiologien wie ein epileptisches Anfallsäquivalent wurden hier nicht aufgeführt.
Diese Übersicht belegt aber auch, dass in nicht wenigen Fällen ein Schwindel am besten multidisziplinär, insbesondere in der Zusammenarbeit zwischen HNO-Arzt, Neurologen, Psychiater und Internisten rasch und erfolgreich anzugehen ist [11]. Ein einfaches Anamneseschema, das bereits eine Vorsortierung erlaubt, ist in [Abb. 1] dargestellt.


Oft ist die Schwindeldiagnostik am besten interdisziplinär anzugehen.
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Literatur
- 1 Brandt T, Dieterich M, Strupp M. Vertigo. Leitsymptom Schwindel. Steinkopff-Verlag; Darmstadt: 2004
- 2 Brandt T, Diener HC et al. Schwindel – Diagnostik. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4.. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008: 512-527
- 3 Chen WL, Chern CH, Wu YL et al. Vertebral artery dissection and cerebellar infarction following chiropractic manipulation. Emerg Med J 2006; 23: e1
- 4 Gauss I, Delank KW, Eßer M et al. Lebensbedrohliche Differenzialdiagnosen des Drehschwindels und des Hörsturzes. HNO 2008; 56: 733-741
- 5 Glaser JS. Neuroophthalmology. 3.. Aufl. Philadelphia, USA: Lippincott Williams & Wilkins; 1999
- 6 Halmagyi GM, Curthoys IS. A clinical sign of canal paresis. Arch Neurol 1988; 45: 737-739
- 7 Kerber KA, Brown DL, Lisabeth LD et al. Stroke among patients with dizziness, vertigo, and imbalance in the emergency department: a population-based study. Stroke 2006; 37: 2484-2487
- 8 Macleod D, McAuley D. Vertigo: clinical assessment and diagnosis. Br J Hosp Med 2008; 69: 330-334
- 9 Moulin T, Sablot D, Vidry E et al. Impact of emergency room neurologists on patient management and outcome. Eur Neurol 2003; 50: 207-214
- 10 Parnes LS, Agrawal SK, Atlas J. Diagnosis and management of benign paroxysmal positional vertigo (BPPV). CMAJ 2003; 169: 681-693
- 11 Probst R, Grevers G, Iro H. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. 3.. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008
- 12 Seemungal BM. Neuro-otological emergencies. Curr Opin Neurol 2007; 20: 32-39
- 13 Strupp M, Diener HC. et al. Schwindel – Therapie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4.. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008: 528-546
- 14 Thömke F. Augenbewegungsstörungen. Ein klinischer Leitfaden für Neurologen. 2.. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008