Sprache · Stimme · Gehör 2011; 35(03): 153
DOI: 10.1055/s-0031-1291983
Interview
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Prosodie in Schule und Therapie

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Publication Date:
30 September 2011 (online)

Die Bedeutung der Prosodie im normalen und gestörten Spracherwerb wurde in diesem Themenheft bearbeitet. In Bezug auf den weiteren Entwicklungsverlauf ergeben sich zunächst 2 Fragen zum Einfluss auf den späteren Schulerfolg.

? Herr Professor Schöler, wo sehen Sie Zusammenhänge zwischen prosodischen Verarbeitungsleistungen und dem (gestörten) Schriftspracherwerb?

Einerseits bestehen für einen größeren Teil der spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kinder Schwierigkeiten darin, prosodische Informationen als erleichternd für den Spracherwerb einzusetzen. Dies konnte schon Sabine Weinert eindrucksvoll in ihrer Dissertation 1991 zeigen und das Problem wird auch in dem Beitrag von Sallat in diesem Themenheft beschrieben. Andererseits stellt eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES/USES) das größte Risiko für eine Schriftspracherwerbsstörung (LRS) dar, so dass zumindest von einer gemeinsamen Variation auszugehen ist. Funktionsdefizite in der sogenannten phonologischen Schleife im Arbeitsgedächtnis nach Baddeley gelten als verursachend sowohl für eine SSES als auch für eine LRS (Legasthenie). Insofern ist davon auszugehen, dass die auch in diesem System anzunehmende Verarbeitung prosodischer Informationen bei einem Defizit zu einer Beeinträchtigung des Schriftspracherwerbs führt.

? Welchen Einfluss hat die prosodische Verarbeitung auf den Zweitspracherwerb?

Ich kann hier nur mit einer Episode antworten, die hoffentlich die Relevanz der prosodischen Verarbeitung für den Zweitspracherwerb verdeutlicht: Bei einem internationalen Kongress konnte ich die auf Englisch referierenden italienischen Kollegen sehr gut verstehen, die muttersprachlich englischen Kolleginnen und Kollegen konnten dies nicht. Zur Darstellung der hohen Bedeutsamkeit von Prosodie für das Sprachverstehen nutze ich in Vorträgen oder Fortbildungen bei einem deutschen Publikum gerne einen deutschen Satz, den ich vollkommen falsch intoniere, z.B. [bananEN habEN schalEN]. Die meisten können solche Sätze nicht als deutsche Sätze erkennen und entsprechend scheitert ein Verständnis. Für die Kommunikation in einer Zweitsprache spielt die Prosodie eine bedeutsame Rolle. Insofern sollte beim Zweitspracherwerb nicht nur auf die Grammatik, sondern wesentlich auch auf die Prosodie fokussiert werden.

? Die neuropsychologische For- schung der letzten Jahre konnte den Einfluss der prosodischen Verarbeitung auf syntaktisches Lernen belegen. Sehen Sie Möglichkeiten einer "prosodischen Therapie" bei Menschen mit Störungen auf der morphologisch-syntaktischen Sprachebene? Kann eine Förderung der prosodischen Verarbeitung auch generell zu verbesserten Sprachverarbeitungsleistungen führen?

Hier bin ich nicht sicher, ob ein basales Informationsverarbeitungsdefizit, wie dies bei einer SSES oder einer LRS anzunehmen ist, durch ein Training der unzureichenden Funktion gemindert oder aufgehoben werden kann. Alle Versuche, z.B. die Ordnungsschwellen durch ein Training zu verändern (s. Klick-Geräte), haben bislang keine Evidenzen dafür liefern können. Solche basalen Verarbeitungsdefizite sind nur kompensierbar – d.h., ich muss einen Umweg bzw. andere Wege finden, um die Funktionsdefizite zu mindern. Ein gutes Beispiel beim Schriftspracherwerb im Rahmen einer LRS stellen die Ansätze dar, bei denen die visuelle Verarbeitung unterstützend für die Schwächen bei der auditiven Verarbeitung einbezogen wird (so z.B. den Kieler Leseaufbau von Frau Dummer-Smoch).

? Die Prosodie, die Art wie man etwas sagt, hat ihre Bedeutung in der Kommunikation und Interaktion und ist damit grundlegend für das professionelle Handeln von Medizinern und Therapeuten im Umgang mit Patienten. Sollte dieser Bereich in den Curricula von medizinischen Heilberufen verankert werden?

Mit das Schwierigste beim Erlernen einer Fremdsprache ist sicher, die prosodischen Nuancen in einer Kommunikationssituation verstehen und produzieren zu lernen. Als Native Speaker einer Sprache lernen wir dies vom Fötus an. Ich bin daher nicht sicher, ob man spezielle Kurse in Ausbildungen dazu anbieten müsste. Hier werden vor allem Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle spielen, warum man in einer bestimmten Situation so und nicht anders mit anderen Personen kommuniziert. Lernen müsste man eigentlich nicht, dass der Ton die Musik macht. Denn wie ich Ende der 1970er Jahre zeigen konnte, gibt es nur in der mittleren Kindheit ein Zeitfenster, in dem dieses Sprichwort beim Sprachverstehen von Kindern nicht zutrifft. Unter Professionalisierungsgesichtspunkten könnte man in vielen Ausbildungen und Studien allgemeiner auf die Relevanz von sprachlichen und nichtsprachlichen Informationen für das Verstehen in Kommunikationssituationen hinweisen.

? Wo sehen Sie weitere Anknüpfungspunkte für die zukünftige Betrachtung und Erforschung der prosodischen Verarbeitung?

Mir fällt u.A. eine Aufgabe für eine empirische Überprüfung ein: Die Bildungspolitik hat in den letzten Jahren Programme implementiert, bei denen es um den frühen Fremdspracherwerb ging. Da diese Fremdsprachen allzu oft von Laien in dieser Sprache – von Lehrkräften, die nicht einmal diese Sprache studiert hatten – gelehrt werden, ist gerade vor dem Hintergrund der Bedeutsamkeit der Prosodie davon auszugehen, dass solche Programme mehr schaden, als nutzen. Hier sollte meines Erachtens empirische Evidenz in die Diskussion eingebracht werden.

Das Interview führte Dr. phil. Stephan Sallat, Leipzig.

Zur Person
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Prof. Dr. Hermann Schöler, Dipl.-Psych. Je ½ Professur für Psychologie der Lernbehinderten und für Entwicklungspsychologie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Ein Forschungsschwerpunkt seit 1972: Fragen des Spracherwerbs, seiner Störungen und Diagnostik.