Zahnmedizin up2date 2012; 6(2): 147-170
DOI: 10.1055/s-0031-1298403
Varia
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Arbeitshaltung des Zahnarztes

Bernd Reitemeier
,
Michael Arnold
,
Klaus Scheuch
,
Günther Pfeifer
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Publication Date:
09 May 2012 (online)

Arbeitswissenschaft und Zahnmedizin

Die Beziehungen zwischen den Arbeitswissenschaften und der Zahnmedizin sind vielfältig. Unter dem Blickwinkel des Themas wird nachfolgend auf die Arbeitsgestaltung fokussiert. Ziel ist vordergründig die Erhaltung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit des Zahnarztes, wobei die Belastungsminderung während der Tätigkeit ebenfalls eine große Rolle spielt.

Die Inanspruchnahme eines jeden arbeitenden Menschen, also auch eines Zahnarztes, resultiert aus folgenden sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren [1] (Abb. [1]):

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Abb. 1 Beziehungen zwischen Arbeitsaufgaben, Arbeitsbedingungen und persönlichen Leistungsvoraussetzungen. Aus [1].
  • Arbeitsaufgaben

  • Arbeitsbedingungen

  • persönliche Leistungsvoraussetzungen

Die wechselseitigen Abhängigkeiten sollen nur beispielhaft dargestellt werden. Wenn die Detailerkennbarkeit größer sein muss (Arbeitsaufgabe), so ist dafür eine Anpassung der persönlichen Leistungsvoraussetzungen erforderlich. Dies kann beispielsweise für die optische Kontrolle bei Präparationen durch die Nutzung einer Lupenbrille oder bei Wurzelkanalbehandlungen mit dem Dentalmikroskop geschehen. Andererseits kann ein fest eingestellter Sehabstand bei der Lupenbrille die Arbeitshaltung nachteilig beeinflussen.

Es ist praktisch bedeutsam, dass die Arbeitsbedingungen aktiv gestaltbar und damit in hohem Maße veränderbar sind. Dies ist auch für viele zahnärztliche Ausrüstungselemente zutreffend, die handelsüblich unterschiedliche Gestaltungen aufweisen und variable Einstellungen gestatten. Unter diesem Blickwinkel ist Sellmann (2004) völlig fehlorientiert, wenn er titelt: „Der liegende Patient beugt den Zahnarztrücken.“

Merke: Die Qualität der Gesamtheit der Arbeitsbedingungen hat Auswirkungen auf die Arbeitsleistung und auf die Arbeitsergebnisse.

Die Inanspruchnahme eines arbeitenden Menschen erfolgt durch die Belastung. Alle exogenen Einflüsse werden zu den sog. Belastungsfaktoren zusammengefasst. Dazu zählen viele Arbeitsbedingungen wie z. B. die Beleuchtungsverhältnisse, die Lärm- und die Greifraumsituation.

Bei der Tätigkeit werden die Belastungen individuell verarbeitet, woraus die Beanspruchungsreaktionen resultieren. Diese können an verschiedenen Organen und Organsystemen festgestellt werden wie Stütz- und Bewegungsapparat, Herz-Kreislauf-System, Atemorgane, Sinnesorgane, Zentralnervensystem und Haut. Diese Sichtweise bildet die Basis für das „Belastungs-Beanspruchungs-Konzept“ von Rohmert (1985).

Zahnärzte berichten häufiger über Stress als Mediziner [4], in der Literatur werden viele potenzielle Stressoren aufgeführt [1], [4], [5]. Als ein solcher Faktor wird immer wieder die zahnärztliche Arbeitshaltung benannt. Die Zielsetzung muss insgesamt sein, dass der Zahnarzt und seine Mitarbeiter die Inanspruchnahme individuell bewältigen können. Daraus resultieren Belastungs-Beanspruchungs-Bewältigungs-Beziehungen [6] (Abb. [2]).

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Abb. 2 Schematische Übersicht zur Einordnung von Beanspruchungsreaktionen und -folgen in die Belastungs-Beanspruchungs-Bewältigungs-Beziehungen.

Scheuch hat das o. g. Belastungs-Beanspruchungs-Konzept um den wichtigen Baustein der Bewältigung erweitert. Dies ist für die praktische Tätigkeit von besonderer Bedeutung, weil damit die Möglichkeit zur Lösung von Problemsituationen einbezogen wird. Erst wenn die individuelle Bewältigung der Gesamtbelastung nicht möglich ist, resultieren arbeitsbedingte Erkrankungen bzw. Berufskrankheiten.

In der Bundesrepublik Deutschland sind die Berufskrankheiten (BK) im Rahmen der Berufskrankheitenverordnung explizit aufgelistet [7]. Zur Anerkennung einer Berufskrankheit ist die Kausalität zwischen der Arbeitstätigkeit und der Erkrankung medizinisch nachzuweisen [1]. Die Arbeitsbelastungen müssen ein deutlich höheres Erkrankungsrisiko hervorrufen, als es der nicht betroffene Teil der Bevölkerung aufweist. Dieser Nachweis ist bei Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats überaus schwierig, weil im Alltag vielfältige Einflüsse auf dieses Organsystem einwirken. Umfragen unter Zahnärzten scheinen in diesem Zusammenhang nicht hilfreich [8]. Wegen der Subjektivität der Angaben ist die Aussagekraft sehr eingeschränkt.

Nach aktuellen Informationen der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege erfolgte in den Jahren 2010 und 2011 bei Zahnärzten in Deutschland keine Anerkennung einer BK des Stütz- und Bewegungssystems [9]. Es gibt zu dieser Frage nur wenig fundierte Untersuchungen; im Jahre 1996 wurde eine Studie für den Zeitraum 1973–1981 vorgestellt [10]. Dabei wertete man 209 fachärztliche Gutachten bei zahnmedizinischem Personal hinsichtlich Berufskrankheiten aus (davon 60 % Zahnärzte). Mit ihrer geringen Anzahl waren Überlastungsschäden am Muskel- und Skelettsystem nur die dritthäufigste Erkrankung hinter Arbeitsdermatosen und Infektionskrankheiten. Die häufigsten Veränderungen betrafen die Halswirbelsäule in Form einer Osteochondrosis und Spondylosis deformans von Segment C4 abwärts sowie gleichartige Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule, vor allem bei L4/5 und L5/S1. Außerdem wurden Schulter-Arm-Syndrome gefunden; die gleichen Lokalisationen sind auch bei Schröter [11] angegeben. Bekannt und vielfach belegt ist, dass der ausschließlich stehende Zahnarzt Fehlhaltungen nicht vermeiden kann [12], [13], [14], [15], [16], [17].

Degenerative Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule sind exemplarisch in Abb. [3] zu sehen.

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Abb. 3 Röntgendarstellung des HWS-Bereichs eines Zahnarztes nach mehr als 30-jähriger Tätigkeit.

Die Arbeitsbedingungen der zahnärztlichen Behandlungsplätze in Deutschland begannen sich Anfang der 1970er-Jahre in bedeutendem Umfang zu verändern. Die Ausrüstungselemente wurden zunehmend ergonomisch gestaltet, und die sitzende Arbeitsweise konnte sich immer mehr verbreiten.

 
  • Literatur

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