Z Gastroenterol 2012; 50(1): 20-21
DOI: 10.1055/s-0031-1299062
Stellungnahme
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Boceprevir-Nutzenbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gemäß § 35a SGB V (Dossierbewertung)

Stellungnahme des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) – Dezember 2011
Further Information

Publication History

Publication Date:
05 January 2012 (online)

In Deutschland liegt die Zahl der mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) infizierten Personen bei ca. 500 000. Der schleichende, vielfach symptomarme Krankheitsverlauf ist Ursache einer häufig zufälligen und/oder späten Diagnose. Die chronische Hepatitis C führt mit unterschiedlicher Progressionsgeschwindigkeit zur Entwicklung einer Leberzirrhose und deren Komplikationen. Klinisch am bedeutungsvollsten ist das Risiko der Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms (HCC). Die Infektionsepidemiologie dieser Viruserkrankung ist die Ursache der konstant in der westlichen Welt ansteigenden HCC-Morbidität und -Mortalität. Die HCV-assoziierte Leberzirrhose und ihre Komplikationen sind daher auch eine der führenden Indikationen für eine Lebertransplantation.

Für Patienten mit einer chronischen Hepatitis-C-Infektion vom Genotyp 1 stehen seit 2011 auch in Deutschland die HCV NS3 /4A-Protease-Inhibitoren Boceprevir und Telaprevir in Kombination mit pegyliertem Interferon-alfa und Ribavirin zur Verfügung. Beide Substanzen haben in den Phase-3-Zulassungsstudien sowohl bei bislang nicht vorbehandelten als auch bei vorbehandelten Patienten deutlich verbesserte dauerhafte virologische Ansprechraten („sustained virologic response“, SVR) gegenüber der früheren dualen Standardkombinationstherapie Peginterferon-alfa plus Ribavirin gezeigt.

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat nun bei einer Nutzenbewertung nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) überprüft, ob Boceprevir (die Bewertung von Telaprevir steht noch aus) gegenüber der bisherigen Standardtherapie einen Zusatznutzen bietet. Die Dossierbewertung des IQWiG stellt fest, dass Boceprevir einen Zusatznutzen für Patientinnen und Patienten mit einer chronischen Hepatitis-C-Infektion vom Genotyp 1 liefert. Die Kritik des Instituts, dass die Daten für Patienten mit Leberzirrhose und Patienten, bei denen eine frühere Behandlung überhaupt keine Wirkung hatte (Nullresponse zur vorgeschalteten IFN-basierten Therapie), nicht umfassend seien, ist nachvollziehbar.

Auch die IQWiG-Beurteilung, dass dem höheren Nutzen von Boceprevir Hinweise auf einen Schaden gegenüberstehen, ist verständlich. Das IQWiG-Gutachten führt zurecht aus, dass bei den bislang nicht antiviral vorbehandelten Patientinnen und Patienten mit chronischer Hepatitis C bei Behandlung mit Boceprevir häufiger eine Anämie auftritt, die aber nur selten schwerwiegend war. Das Ausmaß dieses größeren Schadens stuft das IQWiG als „beträchtlich“ ein. Bei der Gruppe der therapieerfahrenen Patienten trat eine Anämie bei Boceprevir dagegen nicht häufiger auf als bei einer Standardbehandlung.

Völlig unverständlich und wissenschaftlich nicht akzeptabel ist allerdings die Einschätzung des IQWiG, dass das dauerhafte virologische Ansprechen (SVR) „per se kein patientenrelevanter Endpunkt und daher nicht mit Heilung der Erkrankung gleichzusetzen“ sei. Dieser Einschätzung widerspricht die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) nachdrücklich.

Aufgrund publizierter Studien, inklusive systematischer Reviews und Metaanalysen, besteht an der Dauerhaftigkeit der Viruseradikation nach Erreichen einer SVR kein Zweifel. Es bestehen keinerlei wissenschaftliche Anhaltspunkte dafür, dass der klinische Nutzen, der einem dauerhaften virologischen Ansprechen folgt, von der Art und/oder Dauer der eingesetzten Medikamente abhängig ist, d. h. der entscheidende therapeutische Zielparameter ist eine SVR, die einer dauerhaften Viruseradikation und Heilung entspricht.

Zahlreiche und umfangreiche Studien haben bewiesen, dass die Viruseradikation zu einer Verminderung der entzündlichen Aktivität in der Leber und einer Fibroseregression führt. In zahlreichen Studien wurde sogar eine Regression aus dem Stadium der Leberzirrhose dokumentiert. Es besteht in der Hepatologie unabhängig von der Ätiologie kein Zweifel, dass eine Fibroseregression auch die Risiken von Zirrhosekomplikationen (u. a. portale Hypertension, Aszites, hepatozelluläres Karzinom) mindert. Die Datenlage ist so überzeugend, dass weltweit sämtliche Zulassungsbehörden die SVR bei der Behandlung der chronischen Hepatitis C als primären Therapieendpunkt anerkannt haben und histologische Untersuchungen nach Ende der Therapie nicht mehr durchgeführt werden (müssen).

Analog ist die Datenlage wissenschaftlich überzeugend, dass eine SVR die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessert (Health-related Quality of Life), die Insulinresistenz und das Risiko der Diabetesentwicklung mindert und selbstredend das Transmissionsrisiko auf Kontaktpersonen (Lebenspartner, Personal im Gesundheitswesen etc.) eliminiert.

Die DGVS erkennt an, dass nur relativ wenige Studien bezüglich des Einflusses der dauerhaften virologischen Ansprechrate (SVR) auf die insgesamte und die leberbezogene Morbidität und Mortalität bei Patienten mit einer SVR gegenüber Patienten ohne dem Erreichen einer SVR publiziert sind. Die Evidenz der vorhandenen Daten, auch vor dem Hintergrund der biologischen Plausibilität, ist dennoch wissenschaftlich eindeutig und international unbestritten.

In der Dossierbewertung des IQWiG zur Verwendung von Surrogatendpunkten werden „Konstrukte aus leberbezogenen Ereignissen“ bei der Einschätzung der Validität der SVR als Surrogat nicht weiter betrachtet, da die „zugrunde liegenden Operationalisierungen in den Studien zu unterschiedlich“ seien und „zum Teil auf einer ganzen Bandbreite von Ereignissen beruhten“. Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten teilt diese Einschätzung des IQWiGs nicht, da sie die komplexe Realität im klinischen Alltag verkennt. Weiterhin geht die Dossierbewertung nicht auf die leberbezogene Mortalität, einen gut definierten Endpunkt ein, obgleich in den dem IQWiG zur Verfügung gestandenen Studien (z. B. Singal et al. Clin Gastroenterol Hepatol 2010; 8: 280 – 288; Morgan et al. Hepatology 2010; 52: 833 – 844) eindeutige Aussagen zur Assoziation der SVR mit der leberbezogenen Mortalität gemacht werden.

Die Metaanalyse von Singal und Mitarbeitern quantifiziert die leberbezogene Mortalität bei nicht erfolgreich behandelten Patienten mit chronischer Hepatitis C auf 0,81 %/Jahr (95 % CI 0,55 – 1,07) und für Patienten mit bereits fortgeschrittener Fibrose oder Leberzirrhose auf 2,73 %/Jahr (95 % CI 1,38 – 4,08). Für Patienten, die aufgrund einer antiviralen Therapie eine SVR erzielten, reduzierte sich die leberbezogene Mortalität erheblich (relatives Risiko 0,23 [95 % CI 0,1 – 0,52] unabhängig vom Fibrosestadium bzw. 0,19 [0,1 – 0,37] bei fortgeschrittener Leberfibrose/-zirrhose). Diese Analysen wurden in weiteren kürzlich veröffentlichten systematischen Reviews (z. B. Pearlman und Traub. CID 2011; 52: 889 – 900; Ng und Saab. Clin Gastroenterol Hepatol 2011; 9: 923 – 930) bestätigt (3,3 – bis 25-fache Reduktion der leberbezogenen Mortalität bei Erreichen einer SVR).

In der von den National Institutes of Health (NIH) initiierten „Hepatitis C Antiviral Long-Term Treatment Against Cirrhosis (HALT-C)“-Studie zeigten Morgan und Mitarbeiter nach 7,5 Jahren eine Gesamtmortalität/Lebertransplantationrate von 2,2 % bei Patienten mit einer SVR gegenüber 21,3 % bei Nonrespondern auf eine antivirale Therapie. Die Zahlen für die leberbezogene Morbidität/Mortalität lagen bei 2,7 % (SVR) bzw. 27,2 % (NR) (p < 0,001).

Zwei weitere, erst kürzlich publizierte Studien, die in der vorliegenden Dossierbewertung noch keine Berücksichtigung fanden, seien ergänzend erwähnt.

In der jüngsten Ausgabe von Hepatology (November 2011; 54: 1547 – 1558) berichten Innes und Mitarbeiter über 1215 behandelte Patienten mit chronischer Hepatitis C. Die Arbeitsgruppe zeigt eine hochsignifikante Reduktion leberbezogener Krankenhausaufenthalte (Hazard Ratio 0,22; 95 % CI 0,15 – 0,34), d. h. Patienten mit einer SVR mussten mehr als vierfach seltener stationär behandelt werden als Patienten, die keine SVR erreichten. Die leberbezogene Mortalität war für Patienten mit einer SVR gegenüber solchen Patienten, die eine SVR nicht erreichen konnten, ebenso signifikant vermindert (Hazard Ratio 0,22; 95 % CI 0,09 – 0,58).

Auf dem Kongress der American Association for the Study of Liver Diseases (AASLD, November 2011) wurden Daten von 529 Patienten, die bis zu 20,2 Jahre nachbeobachtet wurden, von van der Meer und Kollegen vorgestellt. Die 10-Jahresrate, ein Leberversagen zu entwickeln, lag bei Patienten mit Erreichen einer SVR bzw. bei Patienten mit einem Therapieversagen (NR) bei 2,4 % (95 % CI 0,0 – 5,2) bzw. 31,7 % (95 % CI 21,7 – 33,3). Hepatozelluläre Karzinome traten bei 5,3 % (95 % CI 0,9 – 9,7) und 23,1 % (95 % CI 17,7 – 28,5) der Patienten mit Erreichen einer SVR bzw. NR auf. Die leberbezogene Mortalität und die Gesamtmortalität lag über 10 Jahre bei Patienten mit einer SVR bei 2,1 % (95 % CI 0,0 – 4,5) und 9,8 % (95 % CI 3,0 – 16,6) und war bei Patienten mit einer NR signifikant erhöht (leberbezogene Mortalität 27,5 % [95 % CI 21,7 – 33,3]; Gesamtmortalität 23,0 % [95 % CI 17,6 – 28,4]).

Diese Daten widersprechen aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten der Einschätzung des IQWiGs, das die Ergebnisse zur Gesamtmortalität bei der antiviralen Behandlung von Patienten mit chronischer Hepatitis C als zu „unsicher“ ansieht und daher nicht weiter betrachtet hat.

Während das IQWiG unverständlicherweise in seiner Dossierbewertung die SVR nicht als Surrogatparameter für die Fibrose/Zirrhoseregression, die Verbesserung der Lebensqualität und die Reduktion der leberbezogenen Morbidität und Mortalität anerkennt, wird korrekterweise aber das verminderte Auftreten von Leberkrebs als Ersatzkennzeichen akzeptiert. Völlig zu Recht und in Übereinstimmung mit der Fachwissenschaft weist das IQWiG darauf hin, dass Patientinnen und Patienten, bei denen das Hepatitis-C-Virus nicht mehr nachweisbar ist, ein geringeres Risiko für das hepatozelluläre Karzinom haben. Das IQWiG behauptet aber, dass die wissenschaftliche Datenlage keine abschließende Einschätzung erlaube, bei wie vielen Patienten tatsächlich ein Leberkrebs verhindert wird. Damit bliebe unklar, „ob der Zusatznutzen als gering, beträchtlich oder erheblich einzustufen“ sei.

Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten ist an dieser Stelle eindeutig anderer Auffassung. Die wissenschaftliche Literatur zeigt bei Patienten, die eine SVR erreichen, in Abhängigkeit von dem Fibrosestadium vor Therapiebeginn eine Risikoreduktion um 70 – 80 %. Mit dem Erreichen einer um ca. 30 % höheren SVR-Rate bei Genotyp-1-infizierten Patienten mit der Tripeltherapie Peginterferon-alfa, Ribavirin plus Protease-Inhibitor gegenüber der dualen Kombinationstherapie Peginterferon-alfa plus Ribavirin ist eine Risikoreduktion sehr wohl quantifizierbar und klinisch als erheblich einzustufen.

Zusammenfassend fordert die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) auf, die Einschätzung des IQWiGs abzulehnen, dass das dauerhafte virologische Ansprechen (SVR) auf eine antivirale Therapie von Patienten mit chronischer Hepatitis C „kein patientenrelevanter Endpunkt“ sei. Vielmehr wird die SVR zu Recht von sämtlichen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Fachgesellschaften (DGVS, AASLD, EASL, APASL etc.) als patientenrelevanter Endpunkt anerkannt. Gleiche Anerkennung erfährt dieser Endpunkt bislang durch Zulassungsbehörden (BfArM, EMA, FDA), Fachministerien (BMG) und auch durch andere Institutionen, die sich mit medizinischen Kosten-Nutzen-Beurteilungen auseinandersetzen (z. B. Canadian Agency for Drugs and Technologies in Health, Scottish Medicines Consortium, National Institute for Health and Clinical Excellence, UK).

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten

Prof. Dr. Axel Dignaß

PD Dr. Siegbert Faiss

Prof. Dr. Peter Galle

Prof. Dr. Peter Layer

Prof. Dr. Markus Lerch

Prof. Dr. Peter Malfertheiner

Prof. Dr. Till Wehrmann

Prof. Dr. Stefan Zeuzem