Zeitschrift für Palliativmedizin 2012; 13(01): 12-13
DOI: 10.1055/s-0031-1301124
Forum
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Forum für Palliativmedizin – Das Lebensende gestalten mit Erfahrung, Herz und Evidenz

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Publication Date:
12 January 2012 (online)

 

Das Forum für Palliativmedizin fand im November 2011 in Berlin zum 5. Mal statt. Mit dem Leitsatz "Das Lebensende gestalten" haben Experten erstmals Therapieempfehlungen zur Symptombehandlung am Lebensende vorgestellt, die auch die wissenschaftliche Evidenz berücksichtigen.

Gerade in der Palliativmedizin sind Therapieerfolge schwer messbar. Umso bedeutender sind auf wissenschaftlicher Evidenz basierende neue Therapieempfehlungen, die für die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft erstellt und in Berlin auf dem Forum für Palliativmedizin erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Dabei handelt es sich um Empfehlungen zur medikamentösen Therapie von

  • Übelkeit,

  • Erbrechen,

  • Obstipation,

  • Maligne Obstruktion,

  • Dyspnoe,

  • gesteigerter Sekretion in den Atemwegen,

  • Schwäche und Müdigkeit,

  • Depression,

  • Verwirrtheit,

  • Unruhe und Angst.

"Wir brauchen Klarheit über die Evidenz der von uns eingesetzten Medikamente. Sie ist ein wichtiger Schritt zur Qualitätssicherung in der Palliativmedizin", begründete Professor Friedemann Nauck als wissenschaftlicher Leiter des Forums die Initiative führender Palliativmediziner Deutschlands. "Derartige Therapieempfehlungen können den Hausärzten eine höhere Verordnungssicherheit geben und damit die Behandlungs- und Pflegequalität erhöhen. Zudem könnte sich auch das Verständnis für Therapieentscheidungen deutlich verbessern."

Medikamente aus der Palliativmedizin werden auch auf vielen anderen medizinischen Gebieten schon lange verordnet. Für die palliativmedizinischen Anwendungen gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die für die Therapien eine "externe Evidenz" bilden. Für die Symptombehandlung bei Schwerstkranken und Sterbenden ist die Wirkung und Wechselwirkung der Medikamente untereinander jedoch nur wenig erforscht, zum Teil fehlen auch Zulassungen für bestimmte Indikationen. Die vorgestellten Literaturrecherchen zu den einzelnen Symptomen bestätigten die spärliche Studienlage: Häufig sind Studien aufgrund der geringen Patientenzahlen und der Komplexität der in der Palliativmedizin vorkommenden Krankheitsbilder schwer durchführbar. Bestehende Untersuchungsergebnisse leiden unter unzureichender Vergleichbarkeit. Die Mediziner fordern daher mehr und auch multizentrische Ansätze bei klinischen Studien.

Ein Großteil der palliativmedizinischen Behandlungen beruht auf Erfahrungswerten der Therapeuten, der sogenannten "internen Evidenz". Die Referenten waren sich einig darin, dass Studien allein keine Grundlage für Therapieentscheidungen sein können. Umgekehrt kann das Fehlen von Studienergebnissen kein Freibrief für ein therapeutisches Nichtstun sein, auch wenn der Grundsatz "zuerst keinen Schaden anrichten" weiterhin gilt. Die genaue Einschätzung des Patienten mit seiner psychischen Konstitution und seines Krankheitsbildes sind entscheidend. "Wir müssen die externe Evidenz zusammen mit unserer Erfahrung und – falls erforderlich – auch Intuition anwenden", erklärte Professor Raymund Voltz aus Köln bei der Vorstellung der S3-Leitlinien für Patienten mit einer Krebserkrankung in der Palliativmedizin.

Als Beispiel für eine gelungene Synthese können die Empfehlungen zur Obstipation genannt werden, die von der Freiburger Ärztin und Theologin PD Dr. Gerhild Becker vorgestellt wurden. Von Obstipation sind etwa 50 % der Patienten bei Aufnahme auf eine Palliativstation betroffen. Diese Situation kann aufgrund von Übelkeit, Aufstoßen und stark aufgetriebenem Abdomen für den Patienten sehr belastend sein. Neben konkreten Medikamentenvorschlägen, seien begleitende, sanfte Maßnahmen wie eine Kolonmassage hilfreich. Ebenso wichtig sei die Privatsphäre des Kranken zu respektieren und auf seine Stuhlgewohnheiten Rücksicht zu nehmen.

Die 500 Besucher des Forums folgten dem wissenschaftlichen Diskurs zwischen Evidenz und medizinischer Erfahrung in der Palliativmedizin. Damit waren sie immer mit der Frage konfrontiert, was Palliativmedizin letztendlich ausmacht. "Jeder Patient ist ein Baustein unserer Erfahrungswelt", erklärte Professor Christoph Ostgathe aus Erlangen. Palliativmediziner bräuchten für die Kommunikation mit den Kranken ein tiefes Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. Für ihn ist die Arbeit mit den Patienten eine wichtige Kraftquelle: "Wir können uns von den Patienten berühren lassen und das, was wir dabei intuitiv spüren, in die Arbeit integrieren." Das Bauchgefühl ist ein wichtiger Aspekt der Betreuungskompetenz, bestätigte auch der Psychologe Professor Matthias Gründel aus Göttingen und bezeichnete Intuition und Kopf als Werkzeugkasten "aus dem mal das eine, mal das andere mehr gefragt ist."

Mit der Intuition eröffnet sich ein weiterer Therapieaspekt. "Wenn man genau hinschaut, gibt es über den Einsatz der Intuition nicht wenig Evidenz", sagte Ostgathe und nahm als Beispiel die Einschätzung des Sterbezeitpunktes, bei der Ärzte mit langer Erfahrung am ehesten richtig lagen. Allerdings nimmt die Objektivität ab, je länger die Krankenbeziehung besteht. Manchmal sei es hilfreich, auf die erste innere Stimme zu hören. So wertet der "Palliative Prognostic Score" neben objektiven Kriterien, die mit dem fortschreitenden Sterbeprozess einhergehen, die klinische Erfahrung der ausfüllenden Person als wichtigstes Kriterium. Auch für den Einsatz der Medikamente mit ihren Wechselwirkungen und Nebenwirkungen benötigt der Einzelne neben Studien-und Erfahrungswissen viel Intuition.

Die Arbeit mit Sterbenden verlangt einen hohen Grad an Authentizität von Seiten der Behandelnden und Sterbebegleiter. "Häufig ist weniger mehr", beschreibt Dr. Claudia Bausewein aus London die innere Haltung in der Sterbebegleitung. Deshalb fordern die Referenten in ihren Vorträgen immer wieder auf, sich selbst kritisch zu reflektieren und sich die eigenen Gefühle bewusst zu machen. Denn helfen kann nur der, der kontrolliert agiert. "Gesagt ist nicht gefühlt", sagte Palliativschwester und DGP-Vorstandsmitglied Martina Kern aus Bonn mit Blick auf authentisches Verhalten und Abgrenzung, das Spagat zwischen Distanz und Nähe zum Kranken. Auch der Bonner Tänzer Dr. Felix Grützner brachte mit seiner Tanzaufführung dem Auditorium näher, welche Ausdrucksmöglichkeiten sich über die Körpersprache ergeben. Wo Worte fehlen, kann tänzerische Bewegung Gefühle sichtbar machen und Trauer, Verlust sowie Konflikte offenlegen und verarbeiten helfen.