Zusammenfassung
Die Esskultur am Ort gibt den Rahmen für die Entwicklung des individuellen Essverhaltens vor. Das gilt zum einen für die Verfügbarkeit von Speisen, zum anderen für die Gewohnheiten der Vorbilder, von denen Kinder lernen. Bereits pränatal werden spätere Präferenzen durch die mütterliche Kost geprägt. Diese Prägung setzt sich postnatal über den Stillprozess fort. Evolutionsbiologische Programme optimieren Sicherheit und Vielfalt der Nahrungsaufnahme. Nach dem Abstillen setzt ein lebenslanger soziokultureller Lernprozess ein, der dem Lernen einer Sprache ähnlich ist. Das zentrale Lernprinzip ist dabei das Beobachtungslernen. Kinder lernen essen, indem sie ihre Vorbilder beobachten und dann imitieren. Hinzu kommt das operante Konditionieren durch positive Geschmackserlebnisse. Die Primärbedürfnisse Hunger und Sättigung werden dabei zunehmend durch sekundäre Bedürfnisse im Kontext mit Essen überformt. Durch Ernährungserziehung soll kindliches Essverhalten in wünschenswerte Richtung gelenkt werden. Viele der intuitiv verwendeten Strategien entpuppen sich bei genauerer Analyse jedoch als eher kontraproduktiv. So wissen Kinder längst, welche Speisen „gesund“ sind, mögen diese aber nicht. Verbote und Verknappungen steigern die Präferenz und sind in offenen Systemen keine zielführenden Strategien. Imitationslernen ist hingegen die wirksamste Strategie zur Modifikation des kindlichen Essverhaltens. Die beschriebenen Lernvorgänge führen zur Herausbildung einer Vielzahl von unterschiedlichen „Motiven“ für die Wahl von Speisen und Getränken, die im Erwachsenenalter auf die Essentscheidungen einwirken. Das Gros der Essentscheidungen wird durch 3 Motive dominiert: Genuss und Geschmack, Konvenienz (es muss schnell und einfach gehen) und Preis. Gesundheitsmotive stellen nur für einen Teil der Bevölkerung relevante Determinanten der Speisenwahl dar. Hinzu kommt, dass die Wirksamkeit von Gesundheitsversprechungen und Drohungen vor Krankheiten durch ungünstige Kontingenzverhältnisse stark limitiert wird. Der in der professionellen Kommunikation gern verwendete Begriff „Ernährung“ hat für die Bevölkerung eine gänzlich andere Bedeutung als der Begriff „Essen“. Wenn nicht allein Kognitionen im Vordergrund stehen, sondern die Änderung des Verhaltens, muss mit dem Verbraucher über „Essen“, nicht aber über „Ernährung“ gesprochen werden. Zum Management des Essverhaltens im Überfluss ist es notwendig, das Zielverhalten zu kontrollieren. Dafür gibt es mit rigider und flexibler Kontrolle zwei gänzlich unterschiedliche Spielarten. Da rigide Kontrolle mit dichotomen Alles-oder-Nichts-Vorgaben zu häufigen Essanfällen führt, ist diese Kontrollstrategie im Überfluss ungeeignet. Im Gegensatz dazu wird im Rahmen flexibler Kontrolle mit Verhaltensspielräumen gearbeitet, die das Risiko von Essanfällen minimieren. Zum Management des Überflusses ist diese Art der Kontrolle daher die Strategie der Wahl.
Abstract
The social and cultural environment is the framework for developing individual eating behavior, because it determines the availability of food and the behavior of role models. Even during pregnancy and whilst breastfeeding, children’s preferences are shaped by the mother’s eating behavior. In every eating culture, a lifelong learning process takes place, beginning at birth, which forms preferences for certain foods, and which essentially takes place through different learning processes and habit-forming experiences. Preferences and aversions arising from family and social communication take shape individually in different ways, whilst rational, sensible instructions and restrictions often used in nutrition education may result in exactly the opposite of the desired effect. Parents can create preferences in children particularly well if they restrict particular foods with clever words, or can pave the way for aversions to develop if they demand the consumption of particular foods using health arguments. Cola drinks, on the one hand, and spinach, on the other, are classic examples of this. Parents, teachers and caregivers all try to influence the child’s eating behavior through nutrition education. However, knowledge of nutrition plays only a secondary role in the food and drink choices children and young people make. Unfavorable contingency ratios further limit cognitive nutrition education considerably. Probably the most effective way of counteracting this is by providing a positive example for children around the central themes of enjoyment and taste. Flexible control strategies prevent the onset of eating disorders and are the strategies best adapted to conditions of abundance for the control of eating behavior.
Schlüsselwörter
Essverhalten - Psychologie - Mere-Exposure-Effekt - Beobachtungslernen - Ernährung - Ernährungserziehung - Ernährungswissen - Essstörungen
Keywords
eating behavior - psychology - mere exposure effect - role modeling - nutrition - nutrition education - nutrition knowledge - eating disorders