PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(2): 1
DOI: 10.1055/s-0032-1304968
Editorial
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Suizid und Suizidalität als anthropologische Möglichkeit und pathologisches Phänomen

Maria  Borcsa, Bettina  Wilms
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Publication Date:
13 June 2012 (online)

Dir in die un-
gefalteten Hände
gewogen:
meiner Verzweiflung laut-
lose Geduld.
(Paul Celan; für G., datiert 28.1.69[1])

An seinem Selbst- und Weltbezug zu verzweifeln ist laut der philosophischen Anthropologie sensu Plessner (1975) nur dem Menschen möglich[2]. Aber auch dieser Verzweiflung ein Ende zu setzen, und sei es, indem dieser Selbst- und Weltbezug für immer aufgelöst wird. Diese zuletzt genannte Möglichkeit ist in sich insofern tragisch, da es zugleich richtiges und falsches Handeln in sich vereint. Es kann subjektiv richtig erscheinen, schließt aber objektiv jede zukünftige Handlung aus.

Zu Recht gilt es somit die Verzweiflung näher zu betrachten, denn einen Suizid durch eine dahinter liegende Suizidalität oder ausschließlich mit einer Psychopathologie zu erklären verkürzt die Vielfalt des Phänomens (siehe u. a. das Interview mit de Ridder in diesem Heft). Von einem Wunsch nach Ruhe, der sich bis zu einer Suizidhandlung entwickeln kann (siehe Beitrag Wolfersdorf) existieren viele Abstufungen. Für PsychotherapeutInnen heißt das, dass verschiedene mögliche Ebenen der professionellen Intervention bereitstehen, die auch genutzt werden wollen. Denn PsychotherapeutInnen sind zur Hilfeleistung bei Suizidalität verpflichtet, ein Umstand, der Wissen über Risiko- und Schutzfaktoren, akute Suizidalität und Krisenintervention (siehe Beiträge von Bronisch, Lewitzka, Steffens) notwendigerweise voraussetzt. Wie auch in anderen psychotherapeutischen Handlungsfeldern ist dieser Interventionsspielraum in letzter Konsequenz begrenzt und wie Bronisch (Beitrag in diesem Heft) formuliert: „Der Therapeut muss mit der Kränkung fertig werden, dass er nicht um jeden Preis Leben erhalten kann“.

Diese oder eine andere Form der Kränkung und / oder Ratlosigkeit erfahren ebenso Hinterbliebene, die wiederum Hilfe benötigen, um einen vollzogenen Suizid eines Angehörigen oder Freundes zu verarbeiten. Auch diesem Bereich gilt es Aufmerksamkeit zu schenken, denn hierdurch leisten PsychotherapeutInnen ferner einen Beitrag zur Enttabuisierung eines Phänomens, welches nach wie vor nicht nur mit Schuld-, sondern auch mit Schamgefühlen bei den Hinterbliebenen besetzt ist (siehe Beiträge Schmittke und Schaller, Borst und Hepp und dem Interview mit einer Psychiaterin und ihrer Patientin in diesem Heft). Diese Gefühlsfärbungen verweisen ohne Zweifel auf die symbolische Aufladung in der Sozio-Historie des Suizids. Darf sich ein Mensch sein nicht von ihm gegebenes Leben nehmen? Religiöse oder weltanschauliche Fragen treten zum Schmerz des Verlustes eines nahen Menschen hinzu und halten die Angehörigen auch hierdurch lange Zeit mit diesem Thema beschäftigt. Und last but not least sind zu Zeiten auch Angehörige der helfenden Berufe die „Survivors“, die sich ähnliche Fragen stellen wie die Familienangehörigen. Wie es die Therapeutin im Interview artikuliert: „Das eint uns, diese grundsätzliche Frage: Hätte man was anders machen können?“

Dass der Mensch sich zu seinem eigenen Erleben ins Verhältnis setzen kann, ist ihm genauso gegeben wie seine soziale Verfasstheit. Und so schließt sich der Kreis: Solange man Zweifel und Verzweiflung (noch) zum Ausdruck bringen kann, teilt man diese mit anderen; und vielleicht wiegen sie dann nicht ganz so schwer.

Jedenfalls für eine gewisse Zeit und in den meisten Fällen.

Literatur

  • 1 Plessner H. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin, New York: de Gruyter; 1975 original 1928

1 Paul Celan. Die Gedichte aus dem Nachlass. Herausgegeben von Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann. Frankfurt: Suhrkamp; 1977: S. 286 und S. 521.

2 Verwiesen sei hier auf die exzentrische Positionalität, formuliert von Plessner (orig. 1928), ein ausschließlich dem Menschen gegebenes Wesensmerkmal, sich auf sich selbst beziehen zu können.

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