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DOI: 10.1055/s-0032-1305139
Strukturelle Persönlichkeitsveränderungen benötigen Langzeitherapie
Publication History
Publication Date:
04 September 2012 (online)

PiD: Was ist in Ihrer Praxis in etwa die durchschnittliche Therapiedauer und hat sich da im Laufe Ihrer Berufstätigkeit etwas verändert?
Alf Gerlach: Während meiner Zeit an der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik in Frankfurt war ich in der psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studenten tätig. Dort führten wir viele Kurzzeittherapien von etwa einem halben Jahr durch. 20 Sitzungen war der Standardsatz, der oft auch hilfreich war, um z. B. Studenten mit einer eingegrenzten Problematik wie Prüfungsangst weiterzuhelfen. Mit meiner Niederlassung 1986 hat sich das verändert. Ich sah andere Patienten, multimorbide Patienten, Patienten mit pharmakologischen und psychotherapeutischen Vorbehandlungen. Dies war mit dem Einstieg in längere Therapieverläufe verknüpft.
In meiner aktuellen Praxis biete ich als einer der wenigen Therapeuten im Saarland auch Gruppentherapien an, die mindestens zwei Jahre dauern. Falls ich einen Patienten sehe, für den eine Gruppentherapie nicht geeignet ist, steht mir als niedergelassener psychoanalytischer Therapeut die gesamte Palette psychoanalytisch begründeter Therapieverfahren im Einzelsetting zur Verfügung.
Die von den Krankenkassen angebotene Möglichkeit, gutachterfrei 25 Sitzungen in Anspruch zu nehmen, verwende ich relativ selten. Wenn, dann zur Überprüfung der Indikation und der Diagnosestellung, und meistens schließt sich dann doch eine längere Therapie an. Das ausschlaggebende Kriterium für mich an eine längere Behandlung zu denken, ist die Frage, ob ich die aktuelle neurotische oder psychosomatische Symptomatik in ein strukturelles Persönlichkeitsproblem eingebunden sehe. Dies lässt sich nach meiner Überzeugung nur mit einem sich länger erstreckenden Behandlungsverlauf angehen.
Meine derzeitige Praxisstruktur sieht so aus: Ohne Berücksichtigung der Lehranalysen, in der Regel vierstündig, führe ich aktuell eine dreistündige und zwei zweistündige Behandlungen mit jeweils einer anvisierten Dauer von zwei bis drei Jahren durch. Dann habe ich vier einstündige Behandlungen, die zwischen einem halben und zwei Jahren dauern. Meine Zahlen sind tatsächlich so niedrig, weil ich noch zwei Gruppentherapien durchführe und etwa die Hälfte meiner Arbeitszeit mit Lehranalysen und Supervisionen gefüllt ist.
Wo sehen Sie die besonderen Chancen der Kurzzeittherapie und wo ihre Grenzen?
Die besonderen Chancen der Kurztherapie liegen in dem Erreichen einer größeren Anzahl von Patienten. In dem Forschungsgutachten der kassenärztlichen Bundesvereinigung, an dem Herr Herzog aus Heidelberg u. a. gearbeitet hat, wurde moniert, dass für viele akut aufgetretene Konflikte und deren symptomatische Auswirkungen nicht ausreichend Behandlungsplätze zur Verfügung stehen. Vom Patienten her betrachtet denke ich, dass die Kurzzeittherapie ein schnellfristig erreichbares Angebot ist. Schwierig wird es, wenn möglicherweise über den schnell erhofften Zugang zu einem neurotischen Konflikt der genauere diagnostische Blick getrübt bleibt. Und unklar bleibt, ob nicht dahinter doch schwerwiegendere Problematiken stehen, oder eine tiefere Verankerung in der Persönlichkeit eines Patienten zu sehen ist, sodass wir eher mit einem Langzeitangebot an ihn herantreten müssten.
Wo fängt für Sie eigentlich Kurztherapie an, wo hört sie auf? Finden Sie, dass die Richtlinien hier sinnvoll formuliert sind?
Ich persönlich kann mich Konzepten anschließen, die für psychoanalytisch begründete Verfahren eine Abgrenzung von Kurzzeit- und Langzeittherapie bei bis zu einem Jahr und bis zu 50 Sitzungen definieren.
Die Richtlinienpsychotherapie mit ihrem Antragsverfahren kennt als Kurzzeittherapie eine Dauer von bis zu 25 Sitzungen. Nachdem man 35 gutachterpflichtige Kurzzeittherapien beantragt und genehmigt bekommen hat, wird man in der vertragsärztlichen Versorgung von Gutachterverfahren für Kurztherapien befreit. Dann reicht ein Antrag des Patienten und ein bisschen Ankreuzen auf einem Fragebogen, und die Krankenkasse kann diese Kurzzeittherapie genehmigen. Ich weiß, dass es leider einige niedergelassene Kollegen gibt, die gerade dann, wenn sie die Freistellung von der Begründungspflicht in der Kurzzeittherapie erreicht haben, nach Erreichen dieser Stundenzahl die Therapie beenden und den Patienten weiterschicken, weil sie die Arbeit mit dem Schreiben eines Berichts scheuen.
Durch die Antragsbefreiung bei der Kurztherapie besteht die Gefahr, dass sich die Versorgung von einigen Patienten verschlechtert, die in diesem zeitlichen Rahmen nicht ausreichend behandelt werden, da der Aufwand für den Bericht an den Gutachter relativ hoch ist. Ich selbst tue mich mit den 25 Stunden schwer. Bei einem Patienten, bei dem ich den Eindruck habe, dass die Aktualisierung des Konfliktes nicht zu tief in die Persönlichkeitsstruktur verankert ist, würde ich mir ein möglichst kurzes Angebot überlegen. Bei den von mir favorisierten 20 Sitzungen kann man mit einer psychoanalytischen Haltung fokal arbeiten und versuchen, den aktualisierten Konflikt anzusprechen und im Zentrum des Geschehens zu halten.
Von der Praxis aus betrachtet beginnt für mich überhaupt erst bei neun Sitzungen die Kurzzeittherapie. Kürzere Prozesse sind für mich eher diagnostische Verläufe. Ich kenne jedoch die teilweise nur fünf- bis achtstündigen Selbsterfahrungssequenzen, die uns in der Grundausbildung von psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten in China möglich sind. Wir haben dort über die verschiedenen Therapierichtungen hinweg ein Curriculum eingeführt, mit etwa 32 Fortbildungstagen zu je zehn Stunden über den Zeitraum von zwei Jahren hinweg. Es beinhaltet Theorievermittlung, Vorstellung von diagnostischen Prozessen und von Behandlungsverläufen in Gruppen, Supervision und auch eine Form von Selbsterfahrung. Bei der wenigen Anzahl von deutschen Dozenten, die wir einsetzen können, und der großen Nachfrage dort, können wir jedem der Ausbildungsteilnehmer in der Regel nur eine Selbsterfahrungssequenz von fünf bis acht Gesprächen an aufeinanderfolgenden Tagen zur Verfügung stellen. Dies ist natürlich kein diagnostischer Prozess, da dies keine Patienten sind, sondern Psychiater und Psychologen, die eine Ausbildung durchlaufen und die in diesem Kontext Erfahrungen in psychoanalytischer Haltung und psychoanalytischer Gesprächsführung gewinnen wollen.
In der Regel eröffne ich dann das Gespräch, indem ich sage: „Wir haben jetzt heute und an den folgenden sechs Tagen je eine Stunde Zeit. Wir treffen uns immer wieder hier in diesem Raum zu der festgelegten Zeit, und Sie können mit mir über alles sprechen, was Sie bewegt. Es ist ein geschützter Rahmen, es wird nichts nach draußen getragen, und Sie sollten den Versuch machen, so frei wie möglich zu mir zu sprechen.“ Man kann dies mit der psychoanalytischen Grundregel vergleichen. Es ist für uns überraschend zu sehen, wie sehr die chinesischen Kollegen sich auf dieses Angebot einlassen können und wie kathartische Erfahrungen möglich werden, die Spuren hinterlassen.
Wenn ich zurückdenke: In unserem ersten Ausbildungsdurchgang 1997 bis 1999 haben z. B. die Hälfte der Teilnehmer zum ersten Mal in ihrem Leben in diesen Gesprächen Erfahrungen aus der Kulturrevolution thematisiert. In der Regel waren dies traumatische Erfahrungen, die ihre Eltern oder Großeltern erlitten haben, und wo sie als Kinder oder als Jugendliche Zeugen dieser Ereignisse wurden. Mit uns fremden, hochidealisierten Experten aus Deutschland konnte über Themen gesprochen werden, die politisch immer noch unter Kontrolle gehalten werden. Auch innerhalb der Familien selbst werden diese Themen tabuisiert, da hier die damaligen Verfolger und Verfolgten zusammensitzen.
Wir haben immer wieder erlebt, dass diese vergleichsweise kurzen Selbsterfahrungssequenzen therapeutische Effekte erzielten und nachhaltige Spuren hinterließen.
Sie haben sehr viel internationale Erfahrung, sowohl durch das China-Projekt als auch durch Ihre Praxis an der französischen Grenze. Führen wir in Deutschland besonders lange Therapien durch? Was können wir bezüglich der Therapiedauer von anderen Ländern lernen?
Im internationalen Vergleich haben wir durch die Psychotherapierichtlinien hier in Deutschland einmalige Möglichkeiten und deshalb auch sicher längere Behandlungsverläufe, weil die Finanzierung der psychotherapeutischen Versorgung durch die gesetzlichen Krankenkassen auf eine gute Weise geregelt ist. Hier schließe ich ausdrücklich das Gutachterverfahren und die Richtlinienpsychotherapie mit ein, wie sie sich seit 1967 entwickelt haben. Wenn man in die Geschichte zurückschaut, erfolgte diese Entwicklung einerseits aufgrund des Drucks einzelner Patienten, die damals geklagt hatten, andererseits aufgrund der Katamnesestudie von Dührssen, mit der sie zeigen konnte, dass psychotherapeutische Behandlungen nachweisbare ökonomische Effekte hatten.
Unsere Situation in Deutschland ist einmalig. Wenn ich nach Frankreich schaue, bestätigt sich dies: Dort besteht nur die Möglichkeit einer psychiatrischen Konsultation von 20 Minuten, die allerdings beliebig oft wiederholt werden kann. Dies entspricht jedoch nicht meinen Vorstellungen, da für eine psychotherapeutische Behandlung mehr als 20 Minuten pro Sitzung erforderlich sind. Ich denke, dass die Lacanianer in Frankreich so erfolgreich geworden sind, weil viele Ärzte so die verkürzten Behandlungszeiten pro Sitzung im Rahmen einer Theorie rechtfertigen konnten. Ich halte sowohl die Theorie die dahintersteckt für falsch, nämlich, dass es sozusagen ausreiche, den Zeitpunkt der höchsten Verdichtung in einem therapeutischen Gespräch zu einer Deutung oder zum Unterlassen einer Deutung zu nutzen und dann den Patienten wegzuschicken, als auch diese Zeitspanne für zu kurz. Aber wir wissen, dass sonst keine psychotherapeutische Behandlung im ambulanten Rahmen in Frankreich möglich ist. Alles Weitere müssen die Patienten aus eigener Tasche zahlen und viele, die hier als Grenzgänger im Saarland arbeiten und versichert sind, sind erleichtert, dass sie hier um Behandlung nachsuchen können.
Die Hälfte meiner Patienten hat einen Sozialisationshintergrund außerhalb Deutschlands und oft auch eine andere Muttersprache. Das hängt mit meinem Schwerpunkt für interkulturelle Psychotherapie zusammen. Von China weiß ich, dass im geplanten Mental-Health-Gesetz nicht nur die Psychotherapie eingeschlossen und ein vergleichsweise hoher Qualifikationsstandard für Psychotherapeuten verankert werden soll. Dieses Gesetz soll auch Fragen der Vergütung und die Erstattung von Leistungen im Rahmen des jetzt entstehenden gesetzlichen Krankenversicherungssystems regeln.
Noch ein Wort zu den Zuständen – ich sage extra „Zustände“ – in den Vereinigten Staaten. Dort übten die einzelnen Krankenversicherungsgesellschaften immer größeren Druck auf die Verkürzung von Behandlungen aus. Das hat m. E. sehr zu einer Medikalisierung beigetragen. Es hat auch dazu geführt, dass in der Psychotherapieforschung in den Vereinigten Staaten die Zahl der Sitzungen bei Psychotherapiestudien immer weiter verkürzt wird.
Die große Schwierigkeit in der aktuellen Psychotherapieforschung ist, dass wir zu wenige naturalistische Studien haben, wo unter den Bedingungen der Versorgungsrealität Verläufe untersucht werden und z. B. auch die Frage gestellt wird nach der Notwendigkeit der Länge von Behandlungen. An den Universitäten treffen wir leider auf eine Forschung, die auf monosymptomatische Patienten mit kurzen Behandlungsverläufen abzielt, die sich schnell beforschen lassen. Es gibt zu wenige Vergleichsstudien von Langzeit- und Kurzzeittherapie mit langfristigen Katamneseverläufen.
Nach welchen Kriterien und zu welchem Zeitpunkt entscheiden Sie, wie viel Therapie ein Patient braucht?
Ich versuche schon bei den probatorischen Sitzungen sowohl zu einer Diagnose auf der symptomatischen Ebene nach ICD-10, einer psychoanalytischen und einer neurosenpsychologischen Diagnose als auch zu einer Prognose über den erforderlichen Therapieverlauf zu kommen. Das geschieht natürlich in Rücksprache mit dem Patienten und nimmt Bezug nicht nur auf die Eigenarten seiner Erkrankung, sondern auch auf seine aktuelle Lebensrealität. Dies beinhaltet zum Beispiel mögliche Umzugspläne, Alter des Patienten, mögliche berufliche Veränderungen, seine Möglichkeit und den Zeitaufwand, zu den therapeutischen Sitzungen zu kommen usw. Auch die Lebenssituation des Patienten muss berücksichtigt werden, z. B. die Einbindung in eine belastende familiäre Situation wie die Pflege von Angehörigen.
Ich strebe eine möglichst klare Formulierung mit dem Patienten zusammen über seine Therapieziele und seine Veränderungswünsche bereits vor Beginn der Behandlung an. Oft gibt es dann eine Unterbrechung nach Ablauf der probatorischen Sitzungen und beim Warten auf die Entscheidung des Gutachters und auf einen frei werdenden Therapieplatz, sodass der Beginn der Behandlung deutlich markiert ist. Im Behandlungsverlauf selbst finden natürlich Adaptationen statt. Wiederum zusammen mit dem Patienten schaue ich auf das Schwinden seiner Symptomatik oder seinen veränderten Umgang mit den Symptomen. Ich achte auf die möglichen strukturellen Veränderungen, auf die Veränderung in der Persönlichkeit, z. B. die Frage, ob er freier wird, sich auf seine Assoziationen im therapeutischen Geschehen im Kontakt mit mir einzulassen. Ist er flexibler in seinem Fühlen und Denken? Und dann kommt es zu Neujustierungen, die möglicherweise auch eine erneute Diskussion über die Therapieziele und über die noch erforderliche Länge des therapeutischen Prozesses beinhalten.
Wie eng sehen Sie den Zusammenhang zwischen der Eingangssymptombelastung und der Dauer der Therapie?
In meiner therapeutischen Praxis betrachte ich das als zwei nicht sehr miteinander in Bezug stehende Größen. Das klingt seltsam, aber nur auf den ersten Blick. Am Anfang tritt häufig relativ schnell eine Verbesserung der Symptomatik ein. Das ist schon früher als Übertragungsheilung in der Psychoanalyse konzeptualisiert worden. Es ist tatsächlich so, dass eine schwere Eingangssymptomatik relativ gut und mit eher wenigen Gesprächen erreichbar sein kann, wohingegen eine noch nicht ausgeprägte, eventuell nicht so gravierende Symptomatik dennoch so tief mit einem strukturellen Problem verknüpft sein kann, dass nur ein längeres Arbeiten eine Veränderungsmöglichkeit beinhaltet.
Nach wie vor gibt es lange Wartelisten auf Therapieplätze. Ist es eine Aufgabe der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, sich über diese Versorgungssituation Gedanken zu machen? Oder sollten sie sich primär um ihre Patienten kümmern und alles andere als Aufgabe der Kostenträger und der Politik ansehen?
Zumindest der Psychotherapeut, der sich entschließt, einen Niederlassungsplatz in der vertragsärztlichen Versorgung in Anspruch zu nehmen, geht meiner Ansicht nach damit eine gesellschaftspolitische Verantwortung ein. Ich ziehe hier gegenüber jungen Ausbildungskandidaten gerne den Vergleich mit einem niedergelassenen Kardiologen heran. Dieser hält einerseits in seiner Praxis Möglichkeiten für Beratungen, für relativ einfache Herzuntersuchungen, aber auch für komplizierte Herzkatheteruntersuchungen bereit und überweist andererseits im Ausnahmefall an einen Spezialisten, zum Beispiel für eine Herztransplantation – als das teuerste Behandlungsverfahren am Herzen.
Mit diesem Vergleich möchte ich den Ausbildungskandidaten näher bringen, dass es Fälle gibt, in denen wir nur mit einer langfristigen und hochfrequenten analytischen Psychotherapie Veränderungen bewirken können und dass es dazu eine Möglichkeit im öffentlich-rechtlichen Versicherungssystem geben sollte. Hier ist für mich tatsächlich der Vergleich mit Herztransplantation oder mit sonst einem sehr komplizierten Eingriff am Herzen zutreffend.
Ich konfrontiere die angehenden analytischen Therapeuten z. B. auch mit der finanziellen Größenordnung, wenn sie eine solche Behandlung übernehmen. Sie sind als einzelner Behandler für einen Betrag von 24 000 Euro, der für diesen einzelnen Patienten verwandt wird, verantwortlich. Es ist klar, dass das nicht für jeden Patienten möglich sein kann und dass wir uns daher immer bemühen müssen, kurze Verfahren dort einzusetzen, wo es möglich ist. Ich plädiere dafür, dass jeder niedergelassene Behandler über eine Palette von kurz- und langfristigen Interventionsmöglichkeiten verfügen und diese auch einsetzen soll.
Diese Verantwortung kann man nicht nur den kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen als Steuerer des Geschehens zuweisen. Hier haben auch wir Niedergelassene eine gesellschaftspolitische Verantwortung. Ich kann mich der Ansicht nicht anschließen, dass man spezielle finanzielle Anreize setzen sollte, um Kurzzeittherapie zu fördern. Dies wird bei den neuen Vertragsformen z. B. in Baden-Württemberg schon versucht, wo jetzt für den Bereich der Psychotherapie mit dem Medi-Verbund solche Lösungen angestrebt werden. Ich hätte zu große Befürchtungen, dass die spezifische Verantwortung, die wir für jeden einzelnen Patienten tragen, ausgehebelt werden könnte zugunsten des eigenen finanziellen Nutzens, den ich bei solchen Lösungen in den Vordergrund stelle.
Was glauben Sie, in welche Richtung sich die Psychotherapie in Zukunft entwickeln wird?
Bei einer solchen Frage ist es wichtig, zwischen dem eigenen Wunschdenken und einer realistischen Einschätzung zu unterscheiden. Ich finde die derzeitigen Möglichkeiten, eine psychotherapeutische Versorgung in Deutschland sicherzustellen, und auch fachspezifisch Psychotherapie anzubieten, befriedigend und gelungen. Ich fürchte allerdings, dass es zu Kürzungen vor allem der aktuellen Kontingente kommen wird. Ich würde mir wünschen, dass die Möglichkeit zu einer differenzierten Betrachtung der Indikation und der Prognose, wie ich sie mit dem Gutachterverfahren verknüpft sehe, erhalten bleibt. Ich sehe allerdings auch die berufspolitischen Interessenverbände, die eher daran arbeiten, dies zu verändern.
Was glauben Sie, welche Rolle bei der Weiterentwicklung der Psychotherapie das Internet spielt?
Der Psychotherapie im Internet stehe ich sehr kritisch gegenüber. Nach meiner persönlichen Überzeugung kann kein virtueller Kontakt, z. B. in einem Chatforum, eine direkte Begegnung ersetzen. Nur im persönlichen Kontakt erleben wir die unterschiedlichen Modi der interpersonellen Kommunikation wie Gestik, Mimik, Geruch, Bewegung, Geräusche. Das alles gehört für mich zu zwischenmenschlichen Begegnungen. Ich persönlich führe im Moment eine Supervision über Telefon durch und finde es äußert schwierig, im selben Maß aufnahmebereit und aufmerksam zu bleiben, wie mir das im persönlichen Kontakt möglich ist. In China bin ich mit dem Wunsch konfrontiert, über Skype Psychotherapie für chinesische Patienten und vor allem Selbsterfahrung für chinesische Psychiater und Psychologen anzubieten.
Das Angebot, Behandlung über Skype durchzuführen, kommt meines Wissens nach aus den Vereinigten Staaten, wo die räumlichen Entfernungen schwerer überwindbar sind und die Mobilität größer ist als bei uns. Dadurch könnten begonnene Behandlungen fortgeführt werden und personelle Kontinuität gewahrt bleiben. Für die relativ dicht mit Psychotherapeuten versorgte Bundesrepublik Deutschland scheint sich mir dieses Problem nicht zu stellen. Ich würde immer die Überweisung an einen anderen Therapeuten in der Nähe für den besseren Weg halten. Als ich 1992 von Frankfurt aus einer bestehenden psychotherapeutischen Praxis nach Saarbrücken wechselte, war ich auch mit der Schwierigkeit konfrontiert, meine Patienten weiter versorgt zu wissen. Ich habe mich damals dafür entschieden, ein Hierherkommen nach Saarbrücken anzubieten. Dies haben einige wahrgenommen, die dann an einem Tag für zwei zeitlich auseinander liegende Sitzungen nach Saarbrücken kamen. Andere Patienten ließen sich zu einem Kollegen transferieren, für andere fiel mein Ortswechsel mit dem Therapieende zusammen. Eine einzige Patientin, die beruflich und familiär ungebunden war, ist mit hierher umgezogen.
Daran erkennt man, dass ich den direkten, unmittelbaren, persönlichen Kontakt für unabdingbar halte. Ich sehe realistischerweise die Möglichkeiten von Online-Beratung, Chatmöglichkeiten oder Fragebogenerfassung und computerisierte Auswertung, aber Psychotherapie im Internet halte ich für wenig sinnvoll.
Lieber Herr Gerlach, herzlichen Dank für das Gespräch.