PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(3): 84-90
DOI: 10.1055/s-0032-1305140
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ich glaube, dass weniger oft mehr ist

Jürgen  Margraf im Gespräch mit Volker  Köllner
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Publication Date:
04 September 2012 (online)

PiD: Herr Margraf, in Ihrer langen Berufspraxis, wie war da Ihre durchschnittliche Therapiedauer? Hat sich da im Laufe der Jahre etwas geändert?

Jürgen Margraf: Die eigenen Therapien liegen jetzt schon eine ganze Weile zurück. Als ich angefangen habe, waren es eher kürzere Behandlungen … wobei, wenn ich es jetzt über die Jahre hinweg Revue passieren lasse, würde ich denken, dass es sogar noch kürzer geworden ist. Wir haben früher je nach Störungsbild so 20 bis 30 Stunden gebraucht, aber im Laufe der Jahre ist es weniger geworden, runter auf 15 bis 20 Stunden. Das hängt aber stark von den Störungen ab. Bei Panik ist es weniger, bei Zwängen ist es nach wie vor mehr und wenn man spätere Booster-Sessions dazurechnet, würde es noch ein bisschen mehr werden.

Was sind denn die längsten Therapien, die Sie gemacht haben?

Richtige Langzeittherapien habe ich gar nicht gemacht. Es gibt manchmal stützende Begleitung, ich weiß aber nicht, ob ich das Psychotherapie im engeren Sinne nennen würde. Das kann dann über Jahre gehen, ist aber niederfrequent. Meine längsten Therapien liegen im Bereich von 40 bis 50 Stunden, und das waren vor allem Zwangsstörungen und stützende Begleitungen bei Schizophrenie.

Machen Sie lieber Langzeit- oder Kurzzeittherapien?

Ich bin ein großer Anhänger von Kurzzeittherapie. Wenn man schaut, was erfolgreiche Therapien auszeichnet, dann sind diese im Durchschnitt eher kurz, gut strukturiert und mit klaren Zielen oder Rationalen und das ist verfahrensübergreifend so.

Ich glaube weiterhin, dass es sehr, sehr wichtig ist, Patienten klar zu machen, dass Therapie nicht auf dieselbe Weise Heilung einer Krankheit bewirken kann wie in der Chirurgie – „die schneiden meinen Tumor raus“ –, sondern dass es darum geht, Kompetenzen oder Einsichten zu vermitteln und Veränderungen herbeizuführen, die langfristig wirken. Es geht also um die berühmte Hilfe zur Selbsthilfe und darum, die Patienten dazu zu bewegen, Dinge zu tun, die langfristig besser für sie sind. Deshalb finden wir auch in den Katamnesen nach Abschluss der Therapie immer noch weitere Verbesserungen. Wir arbeiten im Moment gerade an einer 23-Jahres-Katamnese unserer Patienten aus den ersten Studien zur Panik und selbst nach dieser langen Zeit haben wir 76 % weitere Verbesserung nach Therapieende, 18 % Verschlechterung und einige wenige, die stabil geblieben sind.

Ich möchte noch eine persönliche Erfahrung anfügen: Ich erinnere mich an einen Fall, da war ich wirklich noch Anfänger, die Patientin hatte eine Agoraphobie mit Panikanfällen, eine Depression und leicht zwanghafte Anteile. Im Zentrum stand aber die Agoraphobie. Am Anfang lief die Therapie richtig gut. In meinem jugendlichen Überschwang dachte ich damals „wow – das ist so toll gelaufen, jetzt gehen wir alle anderen Probleme auch noch gleich an“. Die Patientin nahm das Angebot gerne an, denn sie schien den Kontakt zu schätzen. Sie sagte, sie hätte auch noch eine Postphobie, also sie habe Angst, ihre Briefe zu öffnen, ob wir das nicht noch behandeln könnten. Und so in dem Stil „nichts leichter als das, machen wir das doch“ habe ich noch dies und auch das und auch jenes gemacht und dann versandete die Therapie irgendwie. Es wurden zu viele Dinge gleichzeitig angegangen, die Botschaft war nicht mehr klar und irgendwie habe ich den besten Zeitpunkt zum Beenden der Therapie verpasst. Ich habe es damals auch versäumt, vorher genau zu definieren, was die Ziele sind und wie es nach deren Erreichung weitergeht. Und so habe ich in diesem Fall den anfänglichen Erfolg durch späteren Übereifer kaputt gemacht und daraus habe ich für mich die Konsequenz gezogen, Ziele klar und explizit zu vereinbaren anstatt zu lange und zu unbestimmt zu therapieren.

Dazu gehört es auch, Phasen einzubauen, in denen die Patienten das in der Therapie Gelernte alleine ausprobieren. Danach braucht es einen Besprechungstermin, um zu schauen, wie es gelaufen ist. Manchmal muss man adjustieren, vielleicht in der Zwischenzeit offensichtlich gewordene Probleme bearbeiten, im Normalfall kann man aber sagen „das war doch jetzt gut, wie sie alleine klargekommen sind – wollen Sie es weiter so versuchen?“.

Wie viel Pause halten Sie für sinnvoll, bis es zu so einem Nachgespräch kommt?

Also, das ist nie systematisch untersucht worden und hängt auch von externen Parametern ab, z. B. wie weit jemand weg wohnt, besonders während meiner Zeit in den USA. Aber eine günstige Zeit sind vier bis sechs Wochen, das ist genug Zeit, um Bewältigungsstrategien in unterschiedlichen Situationen auszuprobieren und um zu schauen, was man tun kann, wenn es einmal nicht so gut läuft. Es ist genug Zeit, damit Schwierigkeiten deutlich werden können, aber der nächste Therapietermin ist noch in Sichtweite und gibt Rückhalt beim eigenständigen Ausprobieren.

Wir versuchen auch, alle Patienten nach einem Jahr noch einmal wiederzusehen. Das ist eine Verquickung zwischen Forschung und klinischem Interesse. Ich bin überzeugt, dass es für die Patienten hilfreich ist, eine solche Reflexion und wenn nötig auch einige Booster-Sitzungen nach einem Jahr anzubieten. Dann allerdings sollte man die Leute zumindest klinisch in Ruhe lassen. Wissenschaftlich ist es interessant, auch nach sehr langer Zeit zu schauen, wie sich Patienten entwickelt haben. Im Moment arbeiten wir an der schon erwähnten 23-Jahres-Katamnese, aber ich halte das nur für vertretbar, weil wir die Leute in der Zwischenzeit in Ruhe gelassen haben. Ich sage „in Ruhe lassen“, weil ich nicht möchte, dass sich Menschen, die einmal ein psychisches Problem hatten, lebenslang als ehemalige Patienten fühlen. Mir ist es wichtig, dass Patienten sagen können: „Ich habe Probleme wie alle anderen auch, in diesem Fall habe ich Hilfe in Anspruch genommen, aber letzten Endes bin ich es, der es geschafft hat und jetzt liegt es hinter mir.“

Es hat mich bei unserer Langzeitkatamnese sehr berührt, dass viele Patienten gesagt haben, sie hätten damals für ihr Leben etwas Wichtiges gelernt und auch mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeit bekommen, mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Im Moment haben wir 38 von 56 Patienten wiedergefunden, nach 23 Jahren. 79 % haben seitdem keine weiteren Behandlungen mehr in Anspruch genommen. Es waren Patienten mit Panik und Agoraphobie, alle mit multiplen Vorbehandlungen, die Krankheitsdauer, bevor sie zu uns kamen, war zehn Jahre und sehr viele waren komorbid depressiv.

Zu einer Symptomverschiebung ist es auch nach 23 Jahren noch nicht gekommen?

Nein, die Symptomverschiebung ist nicht gekommen und das ist damit eine der am besten widerlegten Theorien in der Therapieforschung. Es ist eine wirklich faszinierende Theorie – zum Glück ist sie überprüft worden. Dabei zeigte sich, dass es genau anders herum ist: Eine Angstreduktion geht meist auch mit einer Reduktion der Depressivität einher, auch, wenn diese gar nicht behandelt wurde. Es zeigte sich auch kein Neuauftreten anderer Störungen, sondern ein allgemeines Abklingen von Beschwerden.

Wo sehen Sie die besonderen Chancen der Kurztherapie und wo sehen Sie ihre Grenzen? Welche Patienten sollten auf keinen Fall mit Kurztherapie behandelt werden?

Ich denke, Kurztherapie ist die sinnvollste Form von Psychotherapie. Ich glaube tatsächlich, dass es fast keine Indikation für Langzeittherapien gibt. Es gibt eine Indikation für langzeitstützende Begleitung bei Menschen, die chronische Probleme haben, die sich nicht richtig beheben lassen. Aber das ist dann eine psychologische Maßnahme, die ich nicht im klassischen Sinn Psychotherapie nennen würde.

Eine Kurztherapie mit 25 Sitzungen geht in Deutschland ungefähr über ein Jahr. Ich persönlich denke, dass es besser wäre, sie kürzer zu machen und dafür intensiver, besonders in der ersten Therapiephase. Manchmal muss man strecken, damit die Betroffenen zwischendrin auch Erfahrungen machen oder üben können, aber in der Regel finde ich eine intensive kurze Intervention sinnvoller. Die Kurve des Therapieerfolgs steigt ganz schnell in den ersten Stunden an, über alle Störungen und alle Verfahren hinweg. Die meisten Daten gibt es interessanterweise da zu psychodynamischen Therapien. Am Anfang tut sich am meisten, dann wird’s sehr schnell weniger und dann nähert sich die Kurve asymptotisch dem an, was man halt erreichen kann. Nach 40 Sitzungen ist kaum ein weiterer Zuwachs an Therapieerfolg nachweisbar, wie z. B. Wolfgang Lutz zeigen konnte oder Howard und Orlinsky in den USA in einem primär tiefenpsychologischen Setting. Natürlich muss man hier differenzieren: Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder bei Zwangsstörungen braucht man deutlich mehr Therapiesitzungen als bei Angststörungen oder Depressionen ohne weitere Komorbidität.

Es gibt eine interessante weitere Beobachtung: Wenn man jetzt schaut, wie viel erreichen wir unter Routinebedingungen im Vergleich zu einem Forschungssetting, dann kommt raus, dass beide ungefähr gleiche Effektstärken haben. Aber der Unterschied ist, dass im Forschungssetting durchschnittlich 15 Sitzungen eingesetzt werden, während es in der Routineversorgung im Durchschnitt 35 Sitzungen sind. Warum braucht es hier länger? Weil es schwierigere Fälle sind oder weil die Rahmenbedingungen andere sind? Ich glaube persönlich, dass es kein Zufall ist, dass es gerade 35 Stunden sind. Wenn man 40 Stunden bewilligt bekommt, dann macht man die auch, bevor man wieder einen neuen Antrag schreiben muss. Dadurch nähert sich die durchschnittliche Behandlungsdauer dem bewilligten Kontingent an. Auch aufseiten der Patienten gibt es z. T. eine Einstellung so ein bisschen wie bei der Physiotherapie: „Ich habe noch drei Massagen gut, die will ich jetzt auch noch haben.“ Nun könnte man sagen, es ist ja nicht schlecht, wenn da sinnvolle Sachen gemacht werden und wenn man etwas über sich lernt. Ich persönlich fürchte leider, dass es eben doch das Risiko gibt, dass man Dinge wieder zerredet, die eigentlich klar sind und dass der Eindruck entsteht „mein Therapeut macht das“, statt dass ich das selber kann. Die Selbstwirksamkeit wird auf diese Weise nicht gesteigert. Und letzten Endes ist dieser Einsatz von Ressourcen nicht wirklich vertretbar.

Unabhängig von den durch die deutschen Richtlinien vorgegebenen Werten – wo fängt für Sie Kurztherapie an? Gibt es eine Mindeststundenzahl, als Abgrenzung zur Beratung, und wo hört Kurztherapie nach oben hin auf?

Alles unter drei bis fünf Stunden ist in der Regel Beratung, wobei sich das nicht immer so ganz leicht abgrenzen lässt, es kommt ja auch auf das Ziel an. Eine Beratung ist Vermittlung von Informationen, vielleicht auch Tipps geben oder die richtigen Adressen benennen, während eine Therapie darauf abzielt, im Leben und Verhalten Veränderungen zu erzeugen und Kompetenzen zu vermitteln. Das kann aber auch manchmal in drei bis vier Stunden gelingen.

Zwei Beispiele aus meinem persönlichen Erfahrungsfeld: Bei der Behandlung von Panik gibt es Patienten – wenn die Agoraphobie nicht zu stark ist und noch keine Chronifizierung eingetreten ist – bei denen wir mit wenigen Stunden, also drei bis vier alles was möglich ist, auch erreicht haben. Da kann man nicht immer vorher sagen, bei wem das so klappt und es ist auch nicht der Durchschnittsfall, aber es doch relativ häufig. Ist das jetzt Beratung oder Therapie?

Eine Mutter mittleren Alters mit sehr, sehr großem Leidensdruck kam einmal zu uns wegen Depression und generalisierter Angststörung. Ausgelöst wurde das dadurch, dass sie sich größte Sorgen über ihren Sohn machte, der mit 20 noch unter dem Dach der Eltern wohnte. Sie machte sich große Sorgen, er könne homosexuell sein. Sehr schnell stellte sich heraus, dass das eigentlich ihr Hauptthema war. Die Intervention verlagerte sich darauf mit ihr zu erarbeiten, dass Homosexualität keine Krankheit ist, sondern eine Variante des Normalen. Es brauchte noch ein Gespräch zu „Und wie soll sie dies jetzt ihrem Mann beibringen?“ und dann waren die Probleme im Wesentlichen weg. Hier haben wir angefangen als Therapie, aber eigentlich hat es geendet als Beratung.

Und wo hört es nach oben auf mit der Kurzzeittherapie? Ich bin von der Ausbildung her ursprünglich Gesprächstherapeut, für mich sind 40 Sitzungen wirklich lang. Ich würde die Grenze eher bei 20 Sitzungen sehen.

Halten Sie die deutschen Psychotherapierichtlinien hier für sinnvoll formuliert?

Ah, das ist diese Geschichte mit Glas halb voll oder halb leer. Ich war nun elf oder zwölf Jahre im Ausland und nach meiner Rückkehr sehe ich vielleicht deutlicher den Sprung, den es gegeben hat in dieser Zeit. Grundsätzlich glaube ich, dass die Psychotherapie in Deutschland sich dramatisch verbessert hat, dass wir im Bereich der Ausbildung eine der Besten der Welt haben. Ich wüsste jetzt keine bessere, weder in den USA noch in Kanada oder Australien. Ich denke, dass England und die Niederlande noch recht gut sind, aber von der Gesamtregelausbildung nicht mithalten können. Und ich denke, dass die Situation in der Schweiz, Österreich, Frankreich sicherlich schlechter ist, andere Länder kann ich nicht so beurteilen. Also ich glaube, dass wir einen sehr guten Zustand haben, eine sehr gut ausgebildete Psychotherapeutenschaft und die Rahmenbedingungen sind so, dass man auch davon leben kann. Es ist immer noch eine Frage, ob es gerechtfertigt ist, dass Psychotherapeuten weniger verdienen als andere Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, aber man kann davon leben.

Natürlich gibt es Sachen, die man kritisieren kann. Mir stößt gerade als wissenschaftlich tätigem Psychotherapeuten unangenehm auf, dass es ein Innovationshemmnis gibt. Wenn man neue Sachen entwickeln will, bis die dann in irgendwelchen Richtlinien ihren Niederschlag finden, das ist viel zu lang. Es gibt Detailregelungen, die nicht so schön sind, z. B. zur Häufigkeit von Sitzungen bei intensiver Reizkonfrontation. Auch die Kombination von Einzelsitzungen und Gruppen scheint mir viel zu schwierig.

Ich hätte Sympathie für ein Modell mit einer hohen Eingangsschwelle – man muss sehr gut ausgebildet sein und alle sollten eine systematische Routineevaluation ihrer Fälle machen, die bezahlt wird, aber dafür gibt es Therapiefreiheit. Leute, die sehr gut ausgebildet sind und die sich einer Evaluation stellen, sollten die Freiheit haben, das, was sie in diesem Fall für sinnvoll halten, auch zu machen. Sofern man evaluiert, finde ich das absolut vertretbar.

Wenn man nicht evaluiert, dann gibt es natürlich die ganzen Probleme der menschlichen Urteilbildung – da sind Psychotherapeuten kein Deut besser als andere Menschen. Wir haben einen unrealistischen Optimismus, wir lügen uns in die Tasche, wir erwarten alle möglichen positiven Dinge, weil sonst zu viel kognitive Dissonanz bestünde. Dem muss man entgegenwirken – genau das kann Evaluation. Und im Durchschnitt ist Psychotherapie so gut und so erfolgreich, dass man keine Sorgen vor der Evaluation haben muss, und man kann aus den Fällen, in denen es nicht so gut geht, dann eher lernen.

Ja, aber sehen Sie, dass gerade die Kurztherapie innerhalb der aktuellen Richtlinien angemessen honoriert wird?

Ich bin vielleicht nicht der Beste, um das zu beantworten, da ich ja an der Universität arbeite und mein Gehalt anders zustande kommt, aber grundsätzlich finde ich, dass man über Modelle nachdenken sollte, die eine bessere Honorierung der ersten Stunden beinhalten. Damit stärkt man die Motivation, neue Leute reinzunehmen, möglichst schnell Abklärung zu machen – und das sollte gut bezahlt sein, da viel Aufwand gerade am Anfang der Behandlung entsteht. Aber natürlich steckt der Teufel im Detail, wenn man in sozialen Brennpunkten arbeitet, wenn man mit chronisch Suchtkranken oder Schizophrenen arbeiten möchte, dann mag es vielleicht auch andere sinnvolle Modelle geben. Aber für den großen Bereich Ängste, Depressionen, somatoforme Störungen, Essstörungen, Schlafstörungen, würde ich das für sinnvoll halten.

Sie haben ja schon Ihre internationalen Erfahrungen angesprochen und haben daher Überblick darüber, wie unsere Psychotherapielandschaft im internationalen Vergleich ist. Stimmt es eigentlich, dass wir in Deutschland besonders lange behandeln, oder ist das nur eine Vermutung?

Also wir behandeln in Deutschland länger als im Durchschnitt in den USA und wohl auch als in Großbritannien und Australien. Aber ich denke, dass wir im Durchschnitt kürzer behandeln als in der Schweiz oder in Frankreich oder in Argentinien. Und ich glaube, dass die Behandlungsdauer sehr stark von den vorgegebenen Richtlinien abhängt – wenn es bestimmte Kontingente gibt, dann werden die halt auch ausgeschöpft. Ich glaube, dass man bei uns mehr erreichen kann in der gleichen Zeit. Mir geht es jetzt aber dabei nicht einfach um eine Steigerung der „Produktivität“, sondern ich glaube, dass es wirklich ein Risiko gibt, wenn man den Fokus und die Dynamik verliert und ich glaube, dass man mehr Gutes tun kann, wenn man die Therapie mehr konzentriert. Wenn man mit amerikanischen Kollegen spricht, für die ist eine acht Sitzungen dauernde Therapie bei einer Depression eine absolut normale Behandlung und sie würden auch zwölf oder 15 Sitzungen bei einer Zwangsstörung für absolut normal halten und für sie wäre sicherlich eine Therapie von 25 Sitzungen eine Langzeittherapie. Man muss nicht alles machen, was die Amerikaner machen, aber es ist auch nicht alles schlecht dort.

Das wäre meine nächste Frage. Was sollten wir nach Ihrer Meinung von anderen Ländern lernen und was besser nicht?

Es ist vielleicht ein bisschen schwierig, das an Ländern und Nationalitäten festzumachen. Aber im Durchschnitt würde ich denken, dass es in angelsächsischen Ländern ein pragmatischeres Herangehen gibt und eine größere Bereitschaft, auf Daten und Studienergebnisse zu reagieren. Ich würde mir mehr davon hier wünschen, weil alle Forschung aus der Psychologie lehrt, dass Menschen nicht perfekt sind in ihrer Urteilungsbildung. Wir kommen weiter, wenn wir Hilfsmittel heranziehen wie wissenschaftliche Studien. Die Bereitschaft hierzu ist größer in angelsächsischen Ländern und auch in den Niederlanden. Ich glaube darüber hinaus, dass eine größere Flexibilität da ist in diesen Ländern. Wenn neue Verfahren auftauchen, werden die relativ schnell aufgegriffen, bald gibt es Institutionen oder Gruppierungen, die sich spezialisieren und die es dann auch umsetzen.

Umgekehrt, was sollten wir nicht tun? Ich glaube, dass wir mit dem Psychotherapeutengesetz vieles sehr richtig gemacht haben und ich glaube, dass manches Auswirkungen auf die ärztliche Psychotherapie gehabt hat und dass das auch nützlich war. Ich vermute, wir werden noch stärker über Parallelisierungen zwischen ärztlicher, medizinischer und psychologischer Psychotherapie sprechen müssen, aber grundsätzlich glaube ich, dass Deutschland eigentlich da einen sehr hohen Standard hat, und wenn wir den Weg gehen würden, den etwa die Österreicher gegangen sind, dann wäre das eine große Katastrophe. Dort hat man ein Gesetz gemacht, in dem alle Psychotherapieverfahren gleich behandelt werden, wenn ich es richtig erinnere sind es etwa 16 Formen, die im Gesetz genannt sind, ohne irgendeinen Beleg für die Wirksamkeit zu fordern. In Österreich ist die Ausbildung zum Psychotherapeuten möglich mit einem ganz kleinen Propädeutikum und ohne, dass sie jemals studiert haben. So hat man berufsrechtlich eine sehr liberale Situation, sozialrechtlich allerdings wird das alles überhaupt nicht bezahlt und das ist eine große Gefahr.

Auch in der Schweiz gibt es die Tendenz, dass die Leute, die nun wirklich kosten-nutzenmäßig die schwierigsten Formen von Therapie ausüben, die anderen „zu Geiseln nehmen“, also sagen: Wir wollen, dass auch die Langzeitanalysen alle von den Krankenkassen bezahlt werden, und wenn ihr das nicht mittragt, dann blockieren wir alle Versuche, zu einer einheitlichen Lösung zu kommen. Das wird möglicherweise dazu führen, dass die Psychotherapie nicht mehr in der Regelversorgung der Krankenkassen enthalten ist. Das finde ich absolut nicht gerechtfertigt. Vom reinen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkt betrachtet, sind Langzeittherapien nicht effektiv, und es ist gerechtfertigt, dass ein Gesundheitssystem auch auf Kosten-Nutzen-Aspekte achtet. Langzeitanalysen machen einen verschwindend kleinen Teil der in der GKV abgerechneten Psychotherapien aus, und ich finde nach wie vor problematisch, dass in der psychodynamischen Ausbildung so viel Wert auf die Langzeittherapie gelegt wird, obwohl sie in der Praxis nur noch eine sehr, sehr kleine Rolle spielt. Es gibt allerdings Länder, in denen es so läuft wie etwa in Frankreich, wo es nach wie vor Leute gibt, die wirklich nur Langzeitanalyse der intensiven Art machen. Das sollte man nicht übernehmen.

Wie entscheiden Sie, wie viel Therapie welcher Patient braucht, und wann ist es möglich, da eine Vorhersage zu machen?

Ich entscheide vor allem nach den Problemen, die der Patient berichtet. Ich versuche, ein umfassendes Bild davon zu bekommen, dazu verwende ich regelmäßig strukturierte Interviews, weil ich das für sehr viel aussagekräftiger halte und auch noch zeitsparender. Danach mache ich einen Vorschlag für Behandlung, Behandlungsziel und Behandlungsplan. Es gibt Erfahrungswerte, dass wir im Durchschnitt bei einer Panikstörung mit nur maximal mittelschwerer Agoraphobie mit 15 Sitzungen auskommen, bei einer Agoraphobie mit 20 bis 25 Sitzungen und bei einem Zwang mit 30 bis 35. Ich würde dem Patient auch sagen: Lassen Sie uns nach einigen Sitzungen noch mal schauen, wie es läuft und ggf. das Ziel adjustieren, aber wir definieren vorher, was das Hauptproblem ist und wie die Zielerreichung genau operationalisiert wird. Wenn das Ziel erreicht ist, dann ist das normalerweise auch das Ende der Therapie. Natürlich können manchmal zusätzliche Probleme auftauchen, aber das sollte im Normalfall nicht sein. Wenn das dauernd aufträte, dann würde ich mir Gedanken machen.

Schon bei meinem ersten DFG-Projekt hatten wir die Vorgabe, bestimmte Stundenzahlen ganz genau einzuhalten und das fanden wir natürlich gar nicht so toll als Kliniker. Als Projektleiter durfte ich selbst nicht mitmachen, und ich war erst mal froh, meine eigenen Therapien weiter ohne diese strengen Vorgaben machen zu können. Aber dann stellte sich heraus, dass die Therapien ziemlich gut funktioniert hatten und dass in relativ kurzer Zeit, nämlich in dem berühmten 15-Stunden-Panikprogramm bessere Erfolge erzielt wurden als von mir in meinen längeren Therapien. Ich habe mir natürlich Gedanken gemacht, wie es dazu kommen konnte, dass die von mir ausgebildeten Therapeuten in kürzerer Zeit ein höheres Erfolgsniveau erreichen konnten als ich … Und da habe ich eine selbstwertschonende Erklärung gefunden, nämlich, dass eine gut strukturierte Therapie wirklich sehr sinnvoll ist und dass für mich persönlich z. B. die Gefahr besteht, dass ich mich ablenken lasse von unwichtigen Dingen. Wenn ich zum 101. Mal mit einem Patienten erarbeite, was ein Panikanfall ist und dass er daran nicht sterben kann, dann ist das salopp gesagt für mich als Therapeut nicht so spannend als wenn mir der Patient – ein sehr kontrollierter, bisher immer nur liebenswürdiger Mensch – berichtet, was für einen sehr, sehr merkwürdigen Traum er letzte Nacht hatte. Aber das war nicht sein Hauptproblem, das war nicht das, was er da eigentlich wirklich gebraucht hat und es hat ihm und mir zwar gefallen, diesen Traum zu analysieren, aber es macht die Therapie nicht effizienter.

Dietmar Schulte, mein Vorgänger hier in Bochum, hat mal eine Untersuchung gemacht, in der Therapeuten Aufzeichnungen von ihren Sitzungen angeschaut haben, und sie sollten jedes Mal angeben, wenn sie ihre ursprüngliche Intension in der Sitzung gerade geändert haben. Und das erstaunliche Ergebnis war: Das passiert ganz oft, manchmal Dutzende von Malen, und es korreliert ausgesprochen negativ mit dem Therapieerfolg. Man darf natürlich nicht rigide ein Schema F durchziehen, aber es scheint eher so zu sein, dass sehr viele Therapeuten sich zu oft zu Hin- und Herspringen verführen lassen – auf Kosten des Therapieerfolgs.

Nun wird in Berichten zur Richtlinienpsychotherapie oft argumentiert, dass z. B. Angstpatienten erst im Laufe der Therapie von einer Traumavorgeschichte berichten und dass sich das natürlich verlängernd auf die Therapiedauer auswirkt – wie sehen Sie das?

Ich sehe nicht notwendigerweise, dass sich das verlängernd auswirkt. Es spielt eine Rolle, wann im Entwicklungsverlauf Traumata aufgetreten sind. Ein kindliches Trauma hängt typischerweise mit der Kombination von Depression und allen möglichen Angststörungen zusammen, während ein Trauma im Erwachsenenalter eher mit posttraumatischen Störungen einhergeht. Es gibt die Frage „warum habe ich ein Problem bekommen?“, eine andere Frage ist „wie gehe ich damit um und wie geht es weg?“ Und ich habe den Eindruck, dass die Frage, „wie gehe ich damit um, wie geht es weg, wie lebe ich weiter?“ die Patienten weiterbringt und mehr interessiert und die Frage „warum habe ich es gekriegt?“ eher die Therapeuten interessiert. Ich glaube, dass es gar nicht so nützlich ist, lebenslang über alle Probleme, die man einmal gehabt hat, immer wieder intensiv nachzudenken. Ich glaube, dass wir von unserer Natur her mit Selbstheilungskräften ausgestattet sind, und dass dazu auch gehört, dass ich vergangene Probleme irgendwann mal ad acta legen kann.

Nach wie vor gibt es lange Wartelisten auf Therapieplätze. Ist es Ihrer Meinung nach eine Aufgabe der Psychotherapeuten sich darum Gedanken zu machen, oder sollten die sich primär um ihre aktuellen Patienten kümmern, und alles andere ist Aufgabe der Kostenträger und der Politik?

Natürlich müssen Kostenträger und Politik sich darum kümmern, dass wir eine anständige Gesundheitsversorgung haben, dass die Ressourcen vernünftig verwendet werden. Jeder einzelne Psychotherapeut, jede Psychotherapeutin ist auch als Staatsbürgerin oder -bürger aufgerufen, sich da auch politisch zu engagieren. Aber ich glaube, dass man auch nicht einfach warten darf, bis irgendwann Herr Bahr, oder wer immer ihm nachfolgen wird, auf die richtige Idee kommt, sondern wir sollten auch selber überlegen, was wir machen können, um Wartelisten zu verkürzen. Und da würde ich mir von unseren Fachgesellschaften und Standesvertretern mehr Aktivität wünschen. Ich denke, es ist nicht wirklich vertretbar, dass wir so lange Wartelisten haben und deswegen wäre es schön über Dinge wie offene Sprechstunden nachzudenken oder über Vergütungsmodelle, die schnell verbessern, dass wir nicht unnötig lange Behandlungen machen.

Halten Sie mehr Kurztherapie für ein Mittel, um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern?

Ja, in jeder Hinsicht. Nicht nur, dass man mehr Patienten behandeln kann, sondern ich glaube, dass sie auch besser behandelt werden. Ich glaube, dass weniger da oft mehr ist.

Sehen Sie eigentlich einen Zusammenhang zwischen Eingangsbelastung der Patienten und Dauer der Therapie?

Meine persönliche Erfahrung, ohne dass ich das jetzt statistisch nachgerechnet hätte, ist, dass am schwierigsten eigentlich die sind, die auf einem mittleren Niveau sich so durchlavieren können, bei denen nicht genügend Druck da ist, auch etwas ändern zu wollen. Richtig schwere Störungen kann man auch gut behandeln; wenn man die Verläufe anschaut, dann sind die Kurven parallel mit den leichteren, allerdings auf einem unterschiedlichen Niveau. Ausnehmen möchte ich davon allerdings Fälle, in denen die Schwere der Problematik nicht in der psychischen Störung liegt, sondern in dem Umfeld. Wenn Sie mit Hartz IV und einem sehr, sehr trostlosen allgemeinen Umfeld eine Depression überwinden wollen, ist das tatsächlich schwerer als wenn Sie das vor einem soliden Mittelschichthintergrund mit einer funktionierenden Partnerschaft und einem Arbeitsplatz machen. Und da sehe ich auch die Grenzen der Psychotherapie, und da schließt sich der Kreis zum Anfang meiner Berufstätigkeit, als ich in der Psychiatrie in Kalifornien gearbeitet hatte und fand, dass eigentlich die Sozialarbeiterin auf der Station die wichtigste Arbeit gemacht hat.

Nun kann man Amerika nicht einfach auf uns übertragen. Dort sind die sozialen Netze dramatisch schlechter als hier. Ich glaube, dass diese soziale Seite sträflich vernachlässigt wird, sie ist bei uns in der Ausbildung nicht stark genug drin, sie ist in der Forschung viel zu wenig drin und man kriegt auch kaum Forschungsgelder dafür, Psychotherapeuten haben leider eine sehr lange Tradition, da nicht genügend hinzuschauen.

Noch zwei allgemeine Fragen zum Schluss: Was glauben Sie, in welche Richtung wird sich die Psychotherapie in Zukunft entwickeln?

Mark Twain hat gesagt: Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Trotzdem macht man sich natürlich Gedanken darüber, was passieren wird. Ich persönlich glaube, dass wir eigentlich auf einem guten Weg sind in Deutschland, dass wir eine gute Ausbildung, eine gute Basis haben. Wenn ich die Absolventen unserer Studiengänge sehe, die haben was gelernt und die haben Selbstbewusstsein. Ich glaube, die Professionalisierung wird weitergehen, man wird davon wirklich leben können, man wird anständig arbeiten können, wir bilden Strukturen heraus, wo wir auch Interessenvertreter, Verbandsvertreter haben, die sich sinnvoll für Psychotherapie einsetzen, sodass diese Basis gut ist.

Wenn man jetzt zum Inhalt der Psychotherapie selber kommt, wird es unsere Aufgabe sein, die richtige Dosierung zu finden und die entscheidenden Wirkfaktoren zu identifizieren und wegzukommen von den Fesseln des alten Schulendenkens. Das heißt aber nicht, alles ist gleich oder man kann alles zusammenrühren oder je mehr Zutaten, desto besser wird das Gericht. Das glaube ich alles nicht. Aber ich glaube, man sollte wegkommen von dieser Therapieschulenfixierung in den Richtlinien und in anderen Regelungen und Gesetzen. Wenn es gelingt, das zu überwinden, dann werden wir vorankommen.

Ich sehe mit großer Freude, was sich alles getan, etwa bei der Behandlung positiver Symptome der Schizophrenie durch psychologische Maßnahmen, das ist dramatisch, man kann viel mehr machen, als man früher je gedacht hat. Ich glaube darüber hinaus, dass es sinnvoll sein kann, Psychotherapie mit anderen Interventionen zu kombinieren und seien es auch pharmakologische. Ich bin sehr kritisch über die allgemeine Aussage, dass wenn man eine gute Sache nimmt, eine zweite gute Sache dazu tut, dass dann die Kombination noch besser ist. Ich glaube, dass häufig die Kombination von Antidepressiva und Verhaltenstherapie gar nicht sinnvoll ist, aber ich glaube, dass es trotzdem sinnvolle Kombinationen gibt, sei es bei sehr schweren oder chronischen Störungen oder aber auch mit einem anderen Ansatz, nämlich mit Enhancement, da ist z. B. Cortisol sehr interessant, Dinge, die die Gedächtniskonsolidierung beeinflussen, sodass das, was man in der Therapie lernt, besser verarbeitet wird. Wir haben in einer neuen Studie gerade gefunden, dass das auch im Schlaf geht: Wenn die Leute nach einer Therapie direkt schlafen, ist der Therapieeffekt stärker. In einem randomisierten Design gegen die Vergleichsbedingung „langweiliger Film gucken“ war die zusätzliche Effektstärke ungefähr 0,5, das ist nicht riesig, aber auch nicht nichts.

Ich glaube, dass wir die Wirkmechanismen von Therapie besser verstehen werden und dann besser zuweisen können. Ich denke, unter Versorgungsgesichtspunkten wäre es aber der allergrößte Erfolg, wenn man das, was heute schon machbar ist, überhaupt erst einmal macht und konsequent in der Versorgung umsetzt.

Ich glaube nicht, dass man Psychotherapie jemals auf biologische Prozesse vollständig reduzieren können wird. Psychische Störungen wie Ängste, Depression usw. wird man ebenso wenig nur auf biologische Prozesse reduzieren können. Ich glaube, dass die angemessene Ebene der Intervention tatsächlich eine höhere ist, nämlich die psychologische. Natürlich darf man die soziale und die biologische Ebene nicht vergessen, aber ich glaube, dass es wirklich sinnvoll ist, auf der psychologischen Ebene zu intervenieren; solche Dinge wie die Psychotherapiepille oder den Scanner, der alles vorhersagt, das halte ich für Science Fiction …

Was denken Sie, welche Rolle das Internet bei der Weiterentwicklung der Psychotherapie spielen wird? Einerseits in Richtung Therapie im Internet, andererseits durch die Zunahme von Internet-Inbournes. Brauchen wir die eine andere Art von Therapie? Wird sich daraus eine andere Therapiekultur entwickeln?

Die zweite Frage finde ich schwieriger als die erste. Therapie im Internet ist eine sinnvolle Sache. Je mehr Studien wir haben, desto mehr sehen wir, dass das wirklich funktioniert und machbar ist. In der Regel ist ein gewisses Ausmaß an Austausch von Mensch zu Mensch notwendig, aber das muss nicht face to face sein, man kann auch chatten oder skypen. In den Niederlanden ist Internettherapie inzwischen gang und gäbe und wird völlig zu Recht von den Krankenversicherungen bezahlt. Natürlich gibt es hier Einschränkungen, z. B. akute Suizidalität, aber die Alternative ist ja oft, dass die Leute gar nicht in Therapie gehen. Also ich glaube, dass Internettherapie mehr werden wird, in Ländern wie Australien, wo riesige Entfernungen zurückzulegen sind, geht das gar nicht anders, und ich glaube, dass Stepped-Care-Ansätze wahrscheinlich sinnvoll sind.

Ob die jungen Leute, die ganz anders aufwachsen mit dem Internet, andere Therapieformen brauchen, finde ich schwieriger zu beantworten. Wenn ich jetzt raten sollte, würde ich denken, dass es gar nicht so anders sein wird. Die sind natürlich sehr viel kompetenter im Umgang mit diesen Dingen, die sind sehr viel offener und unbefangener, ich sehe aber diese Unbefangenheit auch als problematisch, zum Beispiel, was man bei Facebook oder anderswo alles über sich offenbart. Es wird neue Probleme geben, nicht nur die Abhängigkeit von Computern zum Beispiel, sondern auch das enorme Verstärkungspotenzial im Internet: Wenn es früher Tratsch in einem Dorf gab, da ist es jetzt ein globales Dorf. Ich glaube, jetzt mache ich mich zwar unpopulär in der Piratenpartei, aber es gibt Regulationsbedarf im Internet, z. B. hinsichtlich übler Nachrede, beim Löschen nach einer gewissen Zeit, bei kriminellen Inhalten und auch beim Copyright, da müsste man besser regulieren. Es gibt Chancen und Risiken, aber ich glaube, dass die Menschen durch das Internet nicht grundsätzlich anders geworden sind und deshalb wird es keine wirklich revolutionäre Veränderung der Psychotherapie durch das Internet geben.

Lieber Herr Margraf, herzlichen Dank für das Gespräch.