Aktuelle Neurologie 2012; 39(06): 274-275
DOI: 10.1055/s-0032-1305195
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zielgerichtetes Planen von Zusatzuntersuchungen

Targeted Planning of Additional Examinations
H. C. Hopf
Neurologische Universitätsklinik Mainz
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Publication Date:
07 August 2012 (online)

Binsenweisheit: Wenn eine Diagnose nicht schon klinisch gesichert werden kann, helfen gezielte Zusatzuntersuchungen, welche die Schädigung oder Lokalisation bestätigen, und solche, welche eine (Mit-)Schädigung anderer Strukturen ausschließen. Bei dieser Aussage, der wohl jeder zustimmen kann, kommen jedoch unreflektierte Bedingungen ins Spiel. Gegenüber früher hat sich die Wertzumessung im diagnostischen Vorgehen grundlegend verändert. Die Zuverlässigkeit der Interpretation klinischer Daten (Analyse der Beschwerden und ihrer Entstehung, Untersuchungsbefunde) wird – man darf wohl sagen zunehmend – unterschätzt. Gründe dafür sind Zeitdruck (lange Dauer des gründlichen neurologischen Status), geringere Zuwendung zum Patienten (Erhebung der Anamnese mit dem Blick auf den Bildschirm des Computers gerichtet) und Überbewertung der Möglichkeiten und Aussagekraft technischer Zusatzverfahren. Die Ergebnisse der Zusatzverfahren erscheinen wegen ihrer „greifbareren“ optischen Darstellung (strukturell: MRT, CT usw.; funktionell Ultraschall, NLG usw.) überzeugender und werden weniger hinterfragt. Der logische Bezug zwischen diagnostischer Zielsetzung und Nutzen bzw. Angemessenheit von Zusatzuntersuchungen kann so verloren gehen. Das habe ich bei einer nennenswerten Zahl von Patienten in den letzten 5 Jahren beobachtet. Zwei Beispiele dazu möchte ich darstellen.

Ein ca. 60-jähriger Patient war beim Mauern mit der Leiter umgestürzt und mit der Schulterpartie gegen eine Stahlstütze gefallen. Am Folgetag wird eine eingeschränkte Abduktion der rechten Schulter gefunden. Wenig später wird eine Skapula alata rechts erwähnt. Im MRT, wegen bleibender Schulterschmerzen, wird ein Anriss in ansatznahen Partien der Sehne des M. supraspinatus rechts beschrieben. Drei Monate später findet der Neurologe eine Parese (KG 4) der Armhebung rechts. Über die Zusatzuntersuchung heißt es: EMG rechts von M. biceps und supraspinatus unauffällig, Interferenzbild im M. deltoideus „knapp dicht“, Amplituden und Leitgeschwindigkeiten der Armnerven unauffällig, SEP-Amplitude des N. medianus rechts leicht verspätet. Fazit: eine muskuläre Funktionsstörung wird ausgeschlossen.

Die angewandte Zusatzdiagnostik lässt die Zielrichtung vermissen. Abstehendes Schulterblatt und Hebeschwäche des Armes sind bekannte Merkmale einer N.-thoracicus-longus-Läsion. Dieser Nerv wird bei Traumen gegen die Schulter leicht geschädigt. Weder Nerv noch M. serratus wurden gezielt untersucht. Warum M. biceps, lange Armnerven und sogar SEP untersucht wurden, lässt sich aus medizinischen Gründen nicht herleiten. Es ist zu erwarten, dass Zusatzbefunde normal sind, wenn nicht betroffene nicht aber betroffene Strukturen untersucht werden, nur darf dieses Ergebnis nicht als Resultat des Diagnoseprozesses ausgegeben werden. Die vermutlichen Lücken peripher neurologischer Kenntnisse hätten leicht durch einen Blick in „den Mumenthaler“ überwunden werden können, allerdings mit Zeitaufwand.

Glücklicherweise war die Verletzung dieses Mannes nicht so schwer wie die der zweiten Patientin. Bei einem Mädchen von 12 Jahren wurde eine Ellbogenfraktur operativ stabilisiert. Nach Metallentfernung wies der Operateur auf eine mögliche Ulnarisläsion hin (!). Wenig später fiel eine veränderte Handhaltung mit gekrümmtem Klein- und Ringfinger auf. Die Neurografie ergab eine isolierte „erniedrigte“ Muskelantwort vom Hypothenar nach Reizung am Oberarm. Das SEP vom N. medianus war normal. Eine Teilschädigung des N. ulnaris wurde angenommen und zum Abwarten geraten. Mir schien die niedrige Muskelantwort ohne weitere Potenzialveränderung und ohne Leitverzögerung auf eine „Kontamination“ durch Mitreizung des N. medianus verdächtig. Die erbetene Kontrolle ergab eine komplette Leitungsunterbrechung des N. ulnaris am Ellbogen. Freilegung und erforderliche Nervennaht bestätigten die Vermutung.

Ich sehe zwei Ursachen der Fehlinterpretation der Schädigung. Der klinischen Befundanalyse wurde weniger geglaubt als der (anscheinend) normalen Leitfunktion, die durch den Normalbefund des (völlig überflüssigen und ökonomisch nicht vertretbaren) SEP bestätigt erschien. Eine motorische Leitung unterhalb des Ellbogens und eine sensible Leitung des N. ulnaris wären richtig und zielführend gewesen. Kenntnis der variablen Innervationsverhältnisse an der Hand und Beachtung der Möglichkeit der Mitreizung des N. medianus bei höheren Reizstärken (charakteristische Folge der Unerregbarkeit des N. ulnaris) hätten vor der Fehlbeurteilung schützen können. Solche Fehleinschätzungen sind sogar vorprogrammiert, wenn Hilfspersonal mit der Neurografie betraut wird und ein „übliches“ Untersuchungsprogramm abspult.

Was lässt sich daraus ableiten? Geraten wir in Gefahr die klinischen Grundlagen aus den Augen zu verlieren? Für die beiden geschilderten Fälle gilt: Auch nur leicht auffällige Befunde in traumatisierten Bereichen verlangen erhöhte Aufmerksamkeit und eine ins Detail gehende klinische Befundanalyse. Zusatzuntersuchungen müssen die Strategie verfolgen, in erster Linie die Strukturen zu prüfen, welche die erkennbar gestörte Funktion vermitteln. Wenn das nicht möglich ist, helfen vielleicht „Umgebungsuntersuchungen“ weiter. Sie sind allerdings mit größter Zurückhaltung zu bewerten – insbesondere wenn sie als Ausschlusskriterium einer Funktionsstörung dienen. Ökonomische Hintergedanken kollidieren leicht mit einer stringent sachbezogenen Strategie. Ein zu großer Fächer an technischen Untersuchungen kann eher Verwirrung stiften: zu viele normale Befunde verführen zur Unterschätzung eines klinischen Befundes. Zusatzverfahren sollen Hilfestellung geben, deren Ergebnisse nicht die Diagnose dominieren oder gar ersetzen. Nebenerkenntnis: SEP des N. medianus erfreuen sich in der Praxis großer Beliebtheit, nicht aber die des N. ulnaris.