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DOI: 10.1055/s-0032-1310039
Vergiftungen durch alkoholische Händedesinfektionsmittel
Publication History
Publication Date:
27 June 2012 (online)
Gormley und Mitarbeiter beschreiben den Fall eines 17-jährigen Mannes, der sich mit einer Angsterkrankung und Depression bei einem komplizierten Verlauf einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung im Verlaufe des stationären Aufenthaltes 500 ml eines 61 %igen alkoholischen Händedesinfektionsmittels über die liegende PEG-Sonde verabreicht hat. Eine suizidale Absicht wurde retrospektiv verneint, sondern das Erzielen eines Rauschzustandes als Ziel der Handlung, die in einem komatösen Zustand resultierte, angegeben. Die Autoren nahmen diesen Fall zum Anlass die Zahlen des amerikanischen Vergiftungsregisters (National Poison Data System) hinsichtlich der Inzidenz von Vergiftungen durch Händedesinfektionsmittel zu untersuchen und eine Literaturrecherche nach vergleichbaren Fällen durchzuführen.
In den Jahren 2005 – 2009 wurden insgesamt 68 712 Vergiftungen mit Händedesinfektionsmittel registriert, wobei die Mehrzahl (80,5 %) der Fälle die akzidentelle Ingestion bei Kindern unter 6 Jahren betraf. Eine genaue Aufschlüsselung, ob diese Vergiftungen im häuslichen Umfeld oder innerhalb einer medizinischen Einrichtung geschahen, lag nicht vor. In der Gruppe der 6 – 19-Jährigen steigt die Anzahl der Suizidversuche auf 16 % bei den Vergiftungspatienten an (mehr Jungen als Mädchen). 13 % der Vergiftungen in der Gruppe der über 20-jährigen Patienten wurden als Suizidversuch bewertet (mehr Frauen als Männer). Die daraus berechnete Rate der Vergiftungen mit Suizidabsicht betrug im Jahr 2005 0,68 /Mio. Einwohner (95 %-Konfidenzintervall [KI] 0,17 – 1,2) und stieg bis 2009 im Durchschnitt um 0,32 /Mio. Einwohner pro Jahr an (KI 0,11 – 0,53, p = 0,02).
In den publizierten 14 Fallberichten aus stationären Einrichtungen fanden sich psychiatrische Grunderkrankungen und Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit als wesentliche Risikofaktoren; in 4 Fällen handelte es sich um einen eindeutigen Suizidversuch. Ein Fall endete letal.
Die Autoren raten in ihrer Diskussion, bei Risikopersonen mit Zugang zu Händedesinfektionsmittel bei unklaren Vergiftungen auch an diese Quelle zu denken und empfehlen ein Monitoring bzw. eine Restriktion des freien Zugangs zu alkoholischem Händedesinfektionsmittel z. B. in psychiatrischen Einrichtungen.
Fazit: Der Fallbericht und die Analyse der Daten der amerikanischen Vergiftungszentrale zeigen, dass der Missbrauch alkoholischer Händedesinfektionsmittel bzw. deren Verwendung für Suizidversuche eine reale, wenn auch insgesamt seltene Gefahr darstellt und eindeutige Risikopopulationen definiert werden können. Für die Praxis bedeutet dies, z. B. in pädiatrischen Einrichtungen Spender für das Personal außer- bzw. oberhalb der Reichweite von Kleinkindern anzubringen und ältere Kinder in den richtigen Gebrauch des Desinfektionsmittels einzuweisen. In psychiatrischen Kliniken mit besonders hohem Gefährdungspotenzial stellen z. B. Kitteltaschenflaschen für das Personal eine sinnvolle Alternative zu Wandspendern in frei zugänglichen, öffentlichen Bereichen dar.
PD Dr. Sebastian Schulz-Stübner, Freiburg