Allgemeine Homöopathische Zeitung 2013; 258(2): 15
DOI: 10.1055/s-0032-1314752
© Karl F. Haug Verlag MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Interview mit Professor Dr. Robert Jütte

Robert Jütte
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Publication Date:
21 March 2013 (online)

AHZ: Sehr geehrter Herr Professor Jütte, auf dem LIGA Kongress im Dezember 2011 haben Sie in New Delhi Ihre Forschungsergebnisse zur Verwendung von Placebos durch Samuel Hahnemann vorgetragen. Wie ist Hahnemann auf die Idee gekommen, Placebos einzusetzen?

Professor Jütte: In seiner homöopathischen Praxis sah Hahnemann sich schon früh vor das Problem gestellt, dass seine Patienten an die täglichen Arzneigaben, wie sie in der damaligen „Schulmedizin“ üblich waren, gewöhnt waren, während es in der Homöopathie seiner Meinung nach darauf ankam, die Mittel auswirken zu lassen. In einem Aufsatz, der 1814 im Allgemeinen Anzeiger der Deutschen erschien, empfahl Hahnemann seinen Mitstreitern: „In dieser Zwischenzeit, bis das zweite Medicament gereicht wird, kann man den Kranken zur Stillung seines Verlangens nach Arznei und Beruhigung seines Gemüts etwas Unschuldiges, z. B. täglich ethliche Theelöffel voll Himbeersaft, oder etliche Pulver Milchzucker einnehmen lassen.“

Hahnemann war nicht der Entdecker des Placeboeffekts, dieser war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits einigen Ärzten bekannt. Aber offenkundig hat kein anderer zeitgenössischer Mediziner diesen Effekt so systematisch in die Therapie eingebaut wie der Begründer der Homöopathie, der man immer noch vorwirft, sie sei reine Placebotherapie.

Zu welchem Zweck verwendete Hahnemann Placebos?

Hahnemann wollte mit Placebogaben nicht nur ungeduldige Patienten zufriedenstellen. Auch um die Langzeitwirkung von homöopathischen Arzneien zu beobachten, setzte Hahnemann solche „unarzneilichen“ Gaben ein.

Woraus bestanden seine Placebos?

Anfangs benutzte Hahnemann Himbeersaft oder auch Austernschalenpulver, später verwendete er fast ausschließlich Milchpulver, das er für unarzneilich im homöopathischen Sinn hielt.

Gab es damals eine Debatte darüber, ob es ethisch ist, Patienten Placebos zu verabreichen?

Zu Hahnemanns Zeiten gab es auch allopathische Ärzte, die gelegentlich Placebos einsetzten. Sie hatten keine Skrupel, ihre Patienten zu täuschen. Die ethische Debatte über den Einsatz von Placebos in klinischen Studien, aber auch in der ärztlichen Praxis, beginnt erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Informed Consent, die Zustimmung des Patienten zu Behandlung und die Aufklärung über den Therapieplan, durch die Rechtsprechung und durch ethische Grundsatzerklärungen (Deklaration von Helsinki) zur Grundlage ärztlichen Handelns wird. Hahnemanns Patienten nahmen ihm diese Form der Täuschung nicht unbedingt krumm, wie wir aus Briefen von Patienten an den Begründer der Homöopathie wissen.

Wie unterschied Hahnemann zwischen homöopathischen Arzneimitteln und Placebos?

Hahnemann kennzeichnet die Placebos in seinen Krankenjournalen mit Abkürzungen. Die bekannteste ist das Paragraphenzeichen (§): Die Patienten wussten nicht, ob sie ein Placebo oder ein homöopathisches Mittel bekamen. Sie erhielten die Globuli in kleinen Papierkuverts ausgehändigt, die mit arabischen Ziffern durchnummeriert waren. Nur Hahnemann wusste aufgrund der speziellen Kennzeichnung in seinen Krankenjournalen, welches Verum enthielt.

Welche Bedeutung haben diese Forschungsergebnisse für die heutige Homöopathie?

Schaut man sich die überlieferten Krankenjournale Hahnemanns an, so stellt man mit Erstaunen fest, dass in einigen Jahren der Anteil der Placebos an der Medikation bei über 50 % lag. Bei den meisten homöopathischen Ärzten dürfte heute dieser Anteil sehr viel geringer sein. Hahnemann war zweifellos an der Weiterentwicklung seiner Lehre interessiert und dazu nutzte er auch den Placeboeffekt, der ihm als wirkmächtiges Prinzip in der Medizin bekannt war. Einzelfälle aus Hahnemanns Praxis zeigen, dass eine „Entblindung“ durch den Patienten nicht unbedingt zu einer gravierenden Störung des Arzt-Patient-Verhältnisses führen musste.

Sah Hahnemann Placebos nur als eine Art „Notbehelf“ im Umgang mit ungeduldigen Patienten an?

Für Hahnemann war der Einsatz von Placebos nur ein Mittel zum Zweck. In einem Brief aus dem Jahr 1828 an seinen Schüler Ernst Stapf schrieb er: „[…] der homöopathische Arzt muss dahin kommen, dass er endlich nie mehr Schein-Arznei gebe, sondern bloß das helfende Mittel, wann und wo es noth tut.“

Herr Professor Jütte, wir danken Ihnen für das Interview!

Das Interview führte Michael Teut