Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(03): 107
DOI: 10.1055/s-0032-1314796
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Intelligenz und Sprache

Intelligence and Language
C. Kiese-Himmel
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Publication Date:
25 September 2012 (online)

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Prof. Dr. rer. nat. Christiane Kiese-Himmel, Dipl.-Psych.

Historisch betrachtet ist Intelligenz ein zentrales, mit der psychometrischen Tradition verbundenes Thema der Psychologie – das vermutlich am meisten untersuchte und ein gut gesichertes Persönlichkeitskonstrukt. Intelligenz fußt auf Denken, also auf kognitiven Informationsverarbeitungsprozessen. Denken hat verschiedene Erscheinungsformen (z. B. logisches; problemlösendes; kreatives Denken). Vor allem das induktive Denken (Erkennen von Regelmäßigkeiten) gilt als bedeutende Komponente der allgemeinen Intelligenz des Menschen. Fast schon trivial mutet es an, auf den engen Zusammenhang von Intelligenz und Sprache hinzuweisen. Doch wie so oft: der Teufel steckt im Detail. Und da haben in der Vergangenheit anerkannte Intelligenz- wie auch Sprachforscher unterschiedliche, z. T. konträre, Akzente zum Verhältnis von Sprachentwicklung und Denken gesetzt.

Der Denk- und Sprachpsychologe Karl Bühler (1879–1963) bezeichnete die Aktivitäten von Kindern vor dem Spracherwerb als „praktische Intelligenz“ oder „Werkzeugdenken“ [1]. Abgeleitet aus dem Faktum des Werkzeugdenkens nahm er an, dass dieses dem Sprechen vorausgeht und die Sprachentwicklung bzw. Sprache entscheidend beeinflusst (vorintellektuelle Wurzeln der Sprache). Auch der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) räumte dem handelnden Denken Vorrang gegenüber der Sprache ein [2]. In seinem Stufenmodell zur kognitiven Entwicklung wird der Übergang vom „sensu-motorischen Stadium“ der beiden ersten Lebensjahre zum Stadium des „präoperativen Denkens“ (2–7 Jahre) durch den Spracherwerb und die Entdeckung der Symbolfunktion der Sprache indiziert. Sprache wird intellektuell durchdrungen und Denken wird sprachlich, wenn ein Kind beginnt, nach dem Namen von Dingen zu fragen und sein Wortschatz sprunghaft anwächst (heute bekannt als „vocabulary spurt“). L.S. Wygotsky (1896–1934) ging von einer gegenseitigen, untrennbaren Beeinflussung von Sprache und Denken aus, indem die kognitive Entwicklung eine „gemeinsame Konstruktion“ von Kind und sozialer Umwelt darstellt [3].

Ganz anders der Linguist Edward Sapir (1884–1939), der – allerdings nicht aus der Entwicklungsperspektive – feststellt: Sprache beeinflusst Denken [4]. Sein Schüler, der Linguist B. J. Whorf (1897–1941), entwickelte aus diesem Ansatz die „Sapir-Whorf-Hypothese“, nach der das Denken eines Menschen stark durch seine Muttersprache determiniert ist [5]. Dieser „linguistische Determinismus“ gilt inzwischen als überholt, erfährt aber möglicherweise durch empirische Studien der ­Kognitionswissernschaftlerin Lera Boroditsky eine Renaissance: Sie zeigt den ­Einfluss von Sprache (z. B. die mit Wörtern verbundenen Konzepte; Wortwahl; das grammatische ­Geschlecht) auf Wahrnehmung und Denken in verschiedenen Sprachräumen, also inter- wie auch in­trakulturell [6]. Das Thema „Intelligenz und Sprache“ ist weiterhin eine Herausforderung. Ihr soll in diesem Heft multidisziplinär begegnet werden, durch die Zusammenführung von Beiträgen aus den ­Psycho-, Neuro-, Geistes- und Erziehungswissen­schaften.

Im ersten Beitrag versuche ich als Ausgangspunkt das Phänomen „Intelligenz“ aus traditionell psychologischer Perspektive zu beschreiben, Einflussgrößen auf die Entwicklung von Intelligenz und die normorientierte Intelligenzmessung zu beleuchten und dabei immer wieder die Verbindung zur Sprache als ein kognitives Tool herauszustellen. Der Beitrag von Lilian Fried fokussiert auf die sprachlich-kognitive Entwicklung im Zeitfenster des Übergangs vom Kindergarten in die Schule. Über relevante Bereiche der Thematik „Intellektuelle Hochbegabung und Sprache“ informieren Christoph Perleth und Dorothee Dörfel-­Baasen. Edeltrud Marx untersucht, ob von Denk­programmen ein Transfer auf Sprachleistungen bzw. von einem Sprachtraining auf die Intelligenz zu erwarten ist. Nicht nur zwischen Intelligenz und Sprache, sondern auch zwischen Intelligenzminderungen und Sprache respektive Sprachstörungen und Intelligenz besteht ein hoher Zusammenhang, was Julia-Katharina Rißling und Franz Petermann für primäre und für sekundäre Sprachentwicklungsstörungen beschreiben. Dies führen sie für letztgenannte exemplarisch an Störungen des autistischen Spek­trums, des Down- und des Williams-Syndroms aus und anhand einer eigenen Studie an Kindern mit unterdurchschnittlicher Intelligenz. Das letzte Kapitel widmet sich dem Thema „Intelligenzabbau“: Fiona Haag und Jürgen Steiner stecken das logopädische Aufgabenfeld bei Demenzerkrankungen ab. Mein Dank gilt allen, die hier aus ihrer je fachspezifischen Expertise einen aktuellen Einblick in das Thema „Intelligenz und Sprache“ geben und last, but not least meinem Interviewpartner Manfred Spitzer, der praxisbezogene Fragen aus neurowissenschaftlichem Blickwinkel beantwortet.