Diabetes aktuell 2012; 10(3): 115-117
DOI: 10.1055/s-0032-1320051
Schwerpunkt
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diagnostik des Diabetes mellitus – Einsatz der neuen Leitlinien

Diagnosis of Diabetes Mellitus – The New Guidelines
Erwin Schleicher
1   Zentrallabor. Universitätsklinikum Tübingen Mitglied im Deutschen Zentrum für Diabetesforschung (DZD)
› Author Affiliations
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Korrespondenz

Prof. Erwin Schleicher
Universitätsklinikum Tübingen/Zentrallabor
Otfried Müller-Str. 10
72076 Tübingen

Publication History

Publication Date:
11 June 2012 (online)

 

Die Glukosemessung für die Diagnostik des Diabetes mellitus hat eine Reihe von Nachteilen, die in der täglichen Praxis zu Fehlern führen können. Da das HbA1c diese Nachteile nicht aufweist wurde es – nach Etablierung einer international anerkannten Referenzmethode – für die Labordiagnostik des Diabetes mellitus zugelassen. Ein mit einer qualitätskontrollierten Methode gemessener HbA1c-Wert von ≥ 6,5 % (≥ 48 mmol/mol Hb) ist diagnostisch für einen Diabetes mellitus, während ein niedrigerer Wert einen Diabetes nicht ausschließt. Für Werte zwischen 5,7 und 6,5 % (39–47 mmol/mol Hb) wird vorgeschlagen, einen oralen Glukosetoleranztest durchzuführen. Die bislang anerkannten Kriterien zur Diabetesdiagnostik mittels der Messung der Blutglukose im Nüchternzustand oder nach Glukosebelastung bleiben in Kraft. Die Zulassung des HbA1c als Diabetesdiagnostikum führt zu Vereinfachung in der Praxis und, bei Beachtung der Limitierungen, auch zu verbesserter Diagnostik.


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The determination of glucose for the diagnosis of diabetes mellitus shows numerous disadvantages which may lead to mistakes in daily practice. Since HbA1c does not exert these disadvantages HbA1c was accepted as a laboratory parameter for the diagnosis of diabetes after improvement of the method by establishing a reference method. An HbA1c value of ≥ 6.5 % (≥ 48 mmol/mol Hb) is diagnostic for diabetes mellitus while a lower value does not exclude diabetes. For values between 5.7 % and 6.5 % HbA1c (39-47 mmol/mol Hb) it has been suggested to perform an oral glucose tolerance test. The current criteria for the diagnosis of diabetes using the determination of blood glucose in the fasting state or after a glucose load remain valid. The introduction of HbA1c as a laboratory parameter for diagnosis of diabetes leads to simplification and to an improved diagnosis if the limitations are recognized.


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Da die chronische Hyperglykämie ein Leitsymptom des Diabetes mellitus ist, spielt die Blutglukosemessung traditionell eine wichtige Rolle bei der Diabetesdiagnostik [1]. Allerdings hängt die Blutglukosekonzentration stark von der aktuellen Ernährungssituation ab. Daher wurden genaue Kriterien für die Labordiagnostik eines Diabetes mellitus festgelegt. Nach diesen Kriterien konnte, bei entsprechender Klinik, ein Diabetes mellitus anhand des Nüchternblutglukosewertes, einer Gelegenheitsblutglukose oder durch einen oralen Glukosetoleranztest diagnostiziert werden [1] [2]. Für die Diagnostik eines Gestationsdiabetes wurden eigene Kriterien festgelegt [3]. In der Praxis hat die Bestimmung von Blutglukosewerten eine Reihe von Nachteilen, die vor allem in der präanalytischen Phase liegen. Einerseits ist nicht immer sichergestellt, dass der Patient bei der Blutabnahme nüchtern ist und andererseits ist die Glukose im Vollblut nicht stabil, da sie von den Blutzellen weiter verstoffwechselt wird. Während man die Glukose durch Zusatz von Glykolyseinhibitoren in den Abnahmeröhrchen stabilisieren kann, lässt sich eine kürzliche Nahrungsaufnahme des Patienten nie sicher ausschließen. Außerdem sind die Blutglukosewerte in Kapillarblut und in venösem Blut unterschiedlich und im Plasma um circa 11 % höher als im Vollblut. Das letztere Problem wurde inzwischen gelöst, indem die Glukosewerte nur noch auf Plasmaglukose bezogen angegeben werden sollen [4].

Referenzmethode zur Bestimmung des HbA1c

Seit langem wird zur Beurteilung der Stoffwechselkontrolle von Diabetikern die Bestimmung des HbA1c durchgeführt. Als Laborparameter „mittelt“ das HbA1c die letzten 4–8 Wochen die Hyperglykämie des Patienten und ist so von der aktuellen Ernährungssituation unabhängig. Der HbA1c-Wert ist im Wesentlichen nur von der Hyperglykämie und der Überlebenszeit der Erythrozyten abhängig. Bislang war das HbA1c nicht für die Diabetesdiagnostik zugelassen, da es mit verschiedenen Methoden gemessen wurde, die jeweils unterschiedliche Ergebnisse lieferten. Daraufhin wurde eine internationale Arbeitsgruppe gebildet, die eine Referenzmethode zur Bestimmung des HbA1c etablierte, die inzwischen von allen internationalen Gesellschaften akzeptiert wurde [5] [6]. Alle Hersteller von Messgeräten haben sich verpflichtet ab dem 1.1.2010 ihre HbA1c-Methoden an der neuen Referenzmethode zu kalibrieren, sodass die HbA1c-Werte untereinander vergleichbar sind [6]. Außerdem wurde beschlossen, dass HbA1c-Ergebnisse weltweit einheitlich in den SI-Einheiten mmol/mol und auch den abgeleiteten NGSP-Einheiten (%) angegeben werden können [7].


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HbA1c eigenständiger Parameter zur Diagnose

Die Vorteile bei der Präanalytik, Standardisierung und Aussagekraft für das Auftreten mikroangiopathischer Schäden (UKPDS-, DCCT-Studien) haben die amerikanische Diabetesgesellschaft dazu bewogen, das HbA1c zusätzlich zu den bisher bestehenden diagnostischen Kriterien als eigenständigen Parameter zur Diagnose eines Diabetes mellitus in ihre Leitlinien mit aufzunehmen [8]. Ein HbA1c-Wert ≥ 6,5 % (≥ 48 mmol/mol Hb) belegt somit einen Diabetes mellitus. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft hat sich diesen Leitlinien angeschlossen und die abgewandelten Leitlinien in einem diagnostischen Flussschema zusammengefasst [Abb. 1] [9]. Für den „Graubereich“ von HbA1c-Werten von 5,7 bis 6,5 % (39–47 mmol/mol Hb) wird vorgeschlagen einen oGTT durchzuführen. Da sich die Überlebenszeit der Erythrozyten in der Schwangerschaft ändert, kann das HbA1c für die Beurteilung der Hyperglykämie in dieser Phase nicht verwendet werden und wurde deshalb nicht in die Leitlinien zur Diagnostik eines Gestationsdiabetes aufgenommen [3].

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Abb. 1 Diagnostisches Flussschema nach den Leitlinien der Deutschen Diabetesgesellschaft [9].

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HbA1c durch Erythrozytenlebenszeit beeinflusst

Allerdings zeigte sich insbesondere nach der Standardisierung, dass der HbA1c-Wert nicht allein von der Glukosekonzentration im Blut abhängig ist. So wird der HbA1c-Wert durch alle Einflüsse, die die Überlebenszeit der Erythrozyten beeinflussen, glykämieunabhängig erniedrigt bzw. erhöht. So ist bei unplausibel niedrigen HbA1c-Werten eine Anämiediagnostik angezeigt. Auch eine eingeschränkte Nierenfunktion kann den HbA1c-Wert beeinflussen. Allgemein wenig bekannt ist auch, dass sich bei schlechter Stoffwechseleinstellung (HbA1c > 10 %) die Erythrozytenlebenszeit verkürzt und der HbA1c-Wert damit eine relativ bessere Stoffwechseleinstellung vorspiegelt. Andererseits führt eine Verlängerung der Überlebenszeit der Erythrozyten (z. B. durch Splenektomie) zu einem erhöhtem HbA1c-Wert, der durchaus über 6,5 % (> 48 mmol/mol Hb) also im diabetischen Bereich liegen kann. Die Vor- und Nachteile, das HbA1c im Vergleich zur solitären Glukosebestimmung als Suchtest bzw. für die Diagnose eines Diabetes zu verwenden, sind in [Tabelle 2] aufgelistet [10]. Analytische Fehler z. B. durch Hämoglobinvarianten spielen durch die methodischen Verbesserungen nur noch vereinzelt eine Rolle.

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Tab. 1 Diagnostik des Diabetes mellitus nach Empfehlungen der DDG [2] [16].
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Tab. 2 Vor- und Nachteile der HbA1c-Messung im Vergleich zur Plasmaglukosemessung als diagnostischem oder Screeningtest für einen Diabetes mellitus [10].

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HbA1c-Wert: hohe Spezifität, niedrige Sensitivität

Trotz oder gerade wegen der Standardisierung tauchen nun neue Aspekte auf, die vorher wahrscheinlich aufgrund der hohen Unterschiede zwischen den Methoden und der hohen Variabilität vieler HbA1c-Methoden nicht „sichtbar“ waren [11] [12]. So zeigte sich, dass das HbA1c zwar intraindividuell sehr konstant ist, aber interindividuell sehr große Differenzen bestehen. Verschiedene Studien, insbesondere Zwillingsstudien, belegen eindeutig, dass der HbA1c-Wert familiär beeinflusst ist; ca. 50 % des HbA1c-Wertes sind nicht durch die Höhe der Blutglukose bestimmt. Für einen genetischen Einfluss auf den HbA1c-Wert spricht auch die Tatsache, dass bei z. B. Afroamerikanern die Referenzwerte um 0,4 % HbA1c höher liegen, was für die Diabetesdiagnostik zu berücksichtigen ist.

Studien zur Aussagekraft des HbA1c-Wertes bezüglich der Diabetesdiagnostik zeigten, dass die Spezifität dieses Cut-off-Wertes sehr hoch ist, die diagnostische Sensitivität allerdings sehr gering. In einem Risikokollektiv hatten mehr als die Hälfte der Individuen mit einem pathologischen oGTT einen HbA1c-Wert < 6,5 % und wurden deswegen nicht als Diabetiker diagnostiziert, während fast alle Individuen mit einem HbA1c ≥ 6,5 % (≥ 48 mmol/mol Hb) richtig als Diabetiker erkannt wurden [13] [14].

Allerdings stellt der festgelegte scharfe „Cut-off“ von 6,5 % (48 mmol/mol) für die Diagnose eines Diabetes mellitus eine hohe Anforderung an die Methodik und das ausführende Labor. Einerseits muss die Richtigkeit nach Kalibrierung der jeweiligen Methoden an der internationalen Referenzmethode unabhängig von der Methode und den jeweiligen Herstellern gewährleistet sein, andererseits müssen an die Präzision der Methode hohe Anforderungen gestellt werden. Soll z. B. ein HbA1c-Wert von 6,5 % mit einem Vertrauensbereich von 95 % zwischen 6,3 und 6,7 % HbA1c liegen, so muss die Präzision der Methode unter 1,7 % liegen. Die Auswertung der Ringversuche des Referenzinstituts für Bioanalytik zeigt deutlich, dass mit den am häufigsten verwendeten Methoden (HPLC, immunologisch) sehr genau der Referenzmethodenwert erhalten wird, dass aber die Präzision noch verbesserungswürdig ist. Außerdem zeigt sich in den Auswertungen auch, dass viele POCT-Methoden die geforderten Qualitätskriterien nicht erreichen. Aus diesem Grunde sind POCT-Geräte für die Diagnostik eines Diabestes mellitus ausdrücklich nicht zugelassen. In den Richtlinien der Bundesärztekammer wird die maximal zulässige relative Abweichung auf 18 % begrenzt [15].


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Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Zulassung des HbA1c als Diabetesdiagnostikum zu einer Vereinfachung und, bei Beachtung der Limitierungen, zur Verbesserung der Diagnostik führt.

Autorenerklärung

Der Autor erklärt, dass für diesen Artikel kein Interessenkonflikt besteht.


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Korrespondenz

Prof. Erwin Schleicher
Universitätsklinikum Tübingen/Zentrallabor
Otfried Müller-Str. 10
72076 Tübingen


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Abb. 1 Diagnostisches Flussschema nach den Leitlinien der Deutschen Diabetesgesellschaft [9].
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Tab. 1 Diagnostik des Diabetes mellitus nach Empfehlungen der DDG [2] [16].
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Tab. 2 Vor- und Nachteile der HbA1c-Messung im Vergleich zur Plasmaglukosemessung als diagnostischem oder Screeningtest für einen Diabetes mellitus [10].