PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(4): 90
DOI: 10.1055/s-0032-1321416
Résumé
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Alles neu in der Sucht … oder doch nicht?

Bettina  Wilms, Hans  Lieb, Michael  Broda
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Publication Date:
05 December 2012 (online)

Wir haben versucht, mit diesem Heft einen Überblick über aktuelle Sichtweisen und Ansätze in der Behandlung stoffgebundener Süchte, insbesondere der Alkoholabhängigkeit, zu geben.

Manches, was wir in den letzten Jahren sehen, bietet erheblichen Anlass zur Sorge: Die Biografien unserer Suchtpatienten und -patientinnen wirken immer desorganisierter, stabile Beziehungen, Ausbildungswege, soziale Ressourcen sind manchmal nur schwer zu finden. Wir sehen immer jüngere Menschen mit schwersten Intoxikationen aufgrund von Substanzmischungen, die umfangreiche intensivmedizinische Maßnahmen notwendig machen, um das Leben der Patienten zu retten. Insbesondere der Gebrauch unterschiedlicher Reinigungsmittel scheint hier eine neue Dimension einzuleiten, die medizinisch wie psychotherapeutisch alles von uns fordert, was wir können: Neben individualpsychotherapeutisch ausgelegten Konzepten wird schon im Rahmen der Motivationsförderung deutlich, dass der Förderung sozialer Kompetenzen, Ressourcen und Kontakte eine große Bedeutung zukommt (siehe Beitrag von Lindenmeyer in diesem Heft). Nicht umsonst sind die Gruppenbehandlung und die Selbsthilfebewegung in diesem Feld über Jahrzehnte hinweg ein Kern der Therapie.

Gleichzeitig sind wir weiterhin konfrontiert mit hohen Abbruchraten in der Behandlung und Rückfallraten im Verlauf, die manch einem die Entscheidung, Suchttherapeut werden zu wollen, von vornherein als Masochismus erscheinen lässt.

Dabei leben wir in einer Welt, in der kaum eine Sportveranstaltung nicht von einem Hersteller von alkoholischen Getränken beworben wird. So entsteht der Eindruck, dass unterschiedliche Substanzen in ihrer Gefährlichkeit leicht mit allgemeingültigen Einschätzungen belegt werden, die im vielfach verborgenen Alltag von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen eine andere Dimension erhalten: Vermutlich ist für jeden Einzelnen die Substanz am gefährlichsten, die ihm oder ihr in bestimmten Situationen am nächsten ist: sei es zum Feiern, zum Ärgern, zum Trauern oder zum „Dampf“ ablassen. Die einmal gezogene Linie Kokain, das Besäufnis unter Kollegen sind nach wie vor je nach sozialem Kontext nicht nur normal, sondern weiterhin durchaus auch Ausdruck von Kompetenz oder zumindest schnell normalisierter Affektregulation.

Wenn Sie, liebe Leser, denken, es hätte sich schon längst ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein zum Suchtmittelgebrauch eingestellt, so wird in den Beiträgen der Autoren dieses Heftes eines deutlich: Dem ist wohl nicht so. Vielmehr gilt es, gerade dem in der Lebensgeschichte frühzeitigen Gebrauch von Suchtmitteln zu begegnen, um etwas aufzubauen, wofür es sich lohnt, schmerzhafte Entzugs- und Entwöhnungsbehandlungen auf sich zu nehmen: Beruf, geliebte Freizeitaktivitäten und soziale Bindungen. Denn niemand kann sich sicher sein, dass es ihn oder sie nicht erwischt. Ohne eine moralistische Haltung vertreten zu wollen, ist doch eigentlich klar, wie es passiert: gelegentlich ein Glas Wein oder das obligatorische Bier am Ende des Arbeitstags, die Schlaftablette, weil gerade so viel los ist; diese Mechanismen dürften auch wir Therapeuten nur allzu gut kennen. „Gründe“, die diese Mechanismen aus dem Ruder laufen lassen, sind ebenso leicht gefunden: das Eheproblem, die pflegebedürftige Mutter, die neue Chefin, die Fusion der Firma, die Agentur für Arbeit, oder nicht vorhergesehene finanzielle Probleme … Die Liste ist endlos erweiterbar.

Und weil uns das Problem mit der Sucht eigentlich so nah ist, stellt es uns in unserem Behandlungsalltag vor so große Herausforderungen: Da ist der Patient mit seiner Psychoseerkrankung, der nun wirklich nichts dafür kann und Herr F. müsste einfach nur aufhören … tut er aber nicht, sondern war jetzt schon zum vierten Mal in der Klinik …

Was hilft uns in dieser nach Resignation klingenden kognitiven Schleife? Zwei Sätze möchten wir Ihnen am Ende dieses und zum Anfang des neuen Jahres dazu mitgeben: Menschen mit Suchterkrankungen haben ein besonderes Privileg: Sie leiden unter einer chronischen Erkrankung, die sie aus eigener Kraft zum Stillstand bringen können. Dies ist bei anderen Erkrankungen, wie z. B. Asthma oder chronischen Gelenkerkrankungen nicht so. Und diese Kräfte zu stärken, das ist u. a. unsere Aufgabe, denn: Von den Begründern der Anonymen Alkoholiker, in einigen Quellen „Bill“ und „Bob“ genannt, wird berichtet, sie hätten vor Gründung dieses so überaus wirksamen Behandlungsbausteins beide jeweils über 30 stationäre Entgiftungen hinter sich gebracht …

Wir wissen also schlicht und ergreifend nicht, wann jemand die therapeutische Botschaft hören kann und dann die Kraft findet, sein Verhalten zu ändern. Solange es einen einzigen Menschen gibt, der nach 120 Entgiftungen beschließt, ohne Suchtmittel zu leben, sollte uns das Mut machen, bei uns selbst oder bei einem Kollegen oder einer Kollegin, die gerade etwas weniger resigniert daherkommt, die Anteile zu aktivieren, die an die Kraft unserer Suchtpatienten und -patientinnen glauben können … Vermutlich hilft das dann auch für die Menschen, die demnächst mit anderen längerfristigen Veränderungsthemen zu uns kommen …