Pneumologie 2012; 66(10): 602-606
DOI: 10.1055/s-0032-1325661
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tuberkulose und Persönlichkeit[*]

Versuch einer Psychopathologie der Tuberkulose
von Wilhelm Roloff, Heilstätte Donaustauf bei Regensburg
Tuberculosis und Personality
R. Kropp
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Korrespondenzadresse

Dr. Robert Kropp
Liegnitzer Straße 5
36100 Petersberg

Publication History

Publication Date:
10 October 2012 (online)

 

Über die Bindungen zwischen Tuberkulose und Persönlichkeit ist in den letzten Jahrzehnten viel diskutiert worden, ohne dass man zu einem Abschluss gekommen ist. Der Eindruck, wie er sich in Thomas Manns „Zauberberg“ vom Leben der Tuberkulosekranken in einem internationalen Kurort widerspiegelt, haftet noch in manchen Vorstellungen und hält hier und dort die Meinung von dem besonderen, oft bedenklichen Charakter der Tuberkulösen aufrecht. Im Banne der überlegenen, wenn auch überspitzten dichterischen Gestaltung ging man darüber hinweg, dass an einem kleinen Kreis sensibler und psychisch brüchiger Menschen, die den Forderungen des Alltags entrückt ganz in ihrer Krankheit aufgehen und wie auf einer fernen Insel leben, nicht alle zu messen sind, denen die Tuberkulose zum Schicksal wird.

Die Erfahrungen in unseren Heilstätten, in den Fürsorgen und in der Praxis lassen uns die Wechselbeziehungen zwischen Tuberkulose und Tuberkulosekranken heute anders sehen und verstehen. Wenn ich mich trotz der vielen Versuche, das Spezifische im Wesen der Tuberkulösen darzustellen, an dieses Problem heranwage, lege ich hier nicht die umfassende Studie des geschulten Psychologen vor, sondern nur eine Skizze, die der tägliche Umgang mit Tuberkulösen in langen Jahren gezeichnet hat und die von der Ordnung des Friedens in die Unruhe unserer Zeit hineinreicht.

Allzu vieles wird als Folge der Tuberkulose gedeutet, was schon der prämorbiden Persönlichkeit eigen war. Der Anteil an Egoisten, Nörglern, Verbitterten und Einzelgängern, aber auch an Geselligen, Kraftvollen, Ausgeglichenen und all den Schattierungen der Psyche unterscheidet sich bei den Tuberkulösen keineswegs auffällig von anderen chronisch Kranken und ist letzten Endes kaum anders als in jeder menschlichen Gemeinschaft, die gleiches Schicksal und gleiche Not zusammenführt. Es gibt keinen tuberkulösen Charakter mit spezifischen Eigenschaften, sondern jeder Tuberkulöse hat seinen Charakter! Man braucht nur einen Blick in Ebsteins Buch vom Leben und Sterben genialer Tuberkulöser zu tun. Mir scheint, dass die Tuberkulose die Anlagen nicht eigentlich wandelt, sie kann sie beim Einzelnen aber deutlicher hervortreten lassen. Alter, Geschlecht und Beruf, überraschendes oder schleichendes Einsetzen der Krankheit, Form und Ausdehnung der Herde, Auftreten von Rückfällen, Komplikationen und Nebenkrankheiten, Art und Aussichten der Behandlung und nicht zuletzt alles das, was er vom Leben noch erwartet, zerren den Tuberkulösen je nach seiner Grundhaltung hin und her und bestimmen das Ausmaß seiner Reaktion. Zu dem beunruhigenden, bohrenden Wissen um das unheimliche Leiden kommt das Odium, das nun einmal der Tuberkulose anhaftet und bei dem Empfindsamen leicht das Gefühl wachruft, dass man ihn wie einen Aussätzigen meidet. Fieberhafte Zustände und frische Schübe, auch ein operativer Eingriff, können wohl gelegentlich das Befinden und Verhalten des Patienten beeinflussen, sind aber selten von nachhaltiger Wirkung auf die Persönlichkeit, wenn wir das Stadium der körperlichen Auflösung hier beiseitelassen. Die Tuberkulose drängt nicht so sehr durch ihre Toxine als durch die veränderte Lebenssituation, die manchen Weg versperrt und viele Wünsche und Pläne offenlässt, den Tuberkulösen weiter in die Richtung, in der sich seine individuelle Eigenart von jeher bewegt. Der Hypochonder wird in seiner Tuberkulose die Bestätigung dafür sehen, dass ihm alles schief geht. Dem Pedanten ist sie Anlass, alle Vorschriften einer gesundheitsgemäßen Lebensweise noch peinlicher zu beachten. Der Leichtsinnige entnimmt ihr die Berechtigung zu flüchtigem Lebensgenuss und steckt den Kopf in den Sand. Der Anlehnungsbedürftige kann durch die Tuberkulose in die Abhängigkeit belebender und betäubender Mittel geraten und so zum Süchtigen werden. Von dem Ängstlichen sagt man, dass er mit seiner Bazillenfurcht die Tuberkulose geradezu herbeizieht. Dagegen überwindet der Gefestigte mit seinem Willen zur Gesundheit nicht nur Krisen mit ihren auf- und abschwankenden Stimmungen, wie sie bei jeder sich länger hinziehenden Krankheit einmal auftreten, sondern nicht selten auch schwere Formen der Tuberkulose. Auch bei den Unbeschwerten und Sturen, denen der Ernst der Krankheit überhaupt nicht aufgeht, sehen wir gelegentlich überraschende Spontanheilungen. Dem schöpferischen Menschen schließlich wird auch die Tuberkulose mit dem drohenden vorzeitigen Abschluss des Schaffens zur Quelle der Kraft bis zum Verbrennen des eigenen Lebens.

So ist das von Gerner, Brehmer und Schweizer angewandte Wort Alexander von Humboldts zu verstehen, dass der Tuberkulöse an seinem Charakter stirbt. Ein nivellierender Einfluss der Tuberkulose lässt sich nicht einmal feststellen bei Schwerkranken, die in der Treibhausatmosphäre sorgsamer häuslicher oder klinischer Pflege eine oft lange sich hinziehende vita minima führen. Wir erleben, wie der eine verzagt und voller Todesahnungen von Tag zu Tag das Schwinden seiner Kräfte verfolgt, während der andere noch auf dem Sterbebett seine Pläne weiterspinnt und für alle körperlichen Beschwerden immer wieder Gründe und Ausreden bereithält, die ihn selbst und seine Umgebung über den Ernst der Situation hinwegtäuschen. Die gern als Euphorie gedeutete Haltung ist durchaus nicht allen Tuberkulösen eigen. Eher kann man von einer Lebensbejahung sprechen. So ist auch das freiwillige Abkürzen eines noch so qualvollen, ausweglosen Daseins bei Tuberkulosekranken ein überaus seltenes Ereignis, das ich in mehr als zwanzig Jahren nur dreimal beobachten konnte. In dieser positiven Einstellung zum Leben findet auch die immer wieder an den Arzt gerichtete Frage nach der gesteigerten Sexualität der Tuberkulösen, aus der künstlich ein Problem gemacht wurde, ihre natürliche Lösung, wenn wir noch die individuelle Veranlagung, die Häufung der Tuberkulose in den jugendlichen und mittleren Jahrgängen mit ihrer Vitalität und nicht zuletzt den milieubedingten verführerischen Einfluss einer längeren Zeit der Untätigkeit und des Nichtausgefülltseins hinzunehmen. Mit dem Asozialen, der die Gemeinschaft rücksichtslos gefährdet, sind wir schon bei den geistig Abartigen, und der Psychiater tritt neben den Tuberkulosearzt. Die Tuberkulose ist nicht die Ursache einer krankhaften Änderung des psychischen Gefüges! Etwas anderes ist es, dass zu einer Geisteskrankheit häufig eine Tuberkulose hinzutritt. Ob dabei die Schizophrenie, die mach Kretschmer immer wieder als eine Art konstitutioneller Schwesterkrankheit der Tuberkulose angesprochen wird, wirklich mit der Tuberkulose so tief verwurzelt ist, erscheint mir bei unserer heutigen Auffassung, die dem Leptosomen keine besondere spezifische Anfälligkeit einräumt, zweifelhaft. Wir sehen die Tuberkulose bei allen Konstitutionsformen! Wenn die Leptosomen im Vordergrund stehen, so ist das vor allem dadurch bedingt, dass ihr Anteil schon in der Gesamtbevölkerung deutlich überwiegt. Jedenfalls entspricht auch gegenwärtig nach unseren Feststellungen wie bei Schülers Untersuchungen im Jahre 1934 die Aufteilung der Leptosomen, Athleten und Pykniker unter den Tuberkulösen diesem Verhältnis, und es gibt keine beweiskräftigen Unterlagen für die Annahme einer besonderen Tuberkuloseanfälligkeit der Astheniker, wie sie sich durch die Veröffentlichungen hindurchzieht. Nicht die Form des Körpers und der Charakter seines Trägers, sondern die gesamte Funktion der aus Erbgut und Umwelt gewordenen Persönlichkeit ist das Entscheidende für den Gang der Tuberkulose, und ihr ordnen sich alle anderen Faktoren unter!

Die herrschende Lehre sieht in dem Tuberkelbazillus den Erreger der Tuberkulose und beruft sich darauf, dass im Gewebe und in den Abscheidungen Tuberkulöser die von Robert Koch entdeckten charakteristischen Stäbchen nachzuweisen sind, die auf einen anderen Menschen übertragen oder im Tierversuch wieder die gleichen spezifischen Veränderungen hervorrufen. Aber die Erfahrung, dass kaum ein Zehntel der Bevölkerung in unseren Breiten an Tuberkulose erkrankt, während doch die tuberkulöse Infektion schließlich bei jedem Menschen angeht, muss Anlass sein, diese Auffassung vom Tuberkulosebazillus als Erreger der Tuberkulose zu überprüfen. Darin besteht ja das große Geheimnis: Weshalb führt nicht jede Tuberkulose zur Phthise? Diese Gedankengänge leiten zu dem Schluss, dass der Tuberkulosebazillus wohl die Infektion von einem Menschen zum anderen tragen kann, dass aber für das Erregen der Tuberkulose als Krankheit übergeordnete Kräfte vorhanden sind, die Angriff und Abwehr lenken. Das gleiche gilt mehr oder weniger für alle ansteckenden Krankheiten, und so scheint es an der Zeit, die Bakterien als Infektionserreger zu entthronen und ihnen eine bescheidenere Rolle anzuweisen, die ich als Infektionsträger bezeichnen möchte.

Die Tuberkulose ist nicht einfach die Summe aus Tuberkelbazillus plus Organismus. Zum Verständnis ihrer jeweiligen Entwicklung reichen die klinischen Erfahrungen, die Ergebnisse der pathologischen Anatomie und alle Theorien über Vererbung, Durchseuchung, Disposition, Resistenz, Superinfektion, Allergie und Immunität nicht aus und bedürfen der Ergänzung durch das Eingehen auf die individuelle Eigenart ihres Trägers. Beim Säugling und Kleinkind ist die psychische Differenzierung noch gering, wenn sich auch bereits Lust- und Unlustgefühle bemerkbar machen. Aber mit zunehmendem Alter tritt mit dem Erwachen der eignen Persönlichkeit ein neues förderndes und ebenso auch hemmendes Moment in Erscheinung durch das Unfassbare, das wir Seele nennen. Um in die Geheimnisse vom Entstehen und Heilen der Krankheiten einzudringen, sind auch die Relationspathologie Rikkers, die Stammhirnpathologie von Veil-Sturm und die Neuralpathologie Speranskys, die uns von der einseitigen Betrachtung der rein örtlichen krankhaften Vorgänge zu den Zentren ihrer Auslösung und Lenkung führen, noch zu sehr an die gewebliche Struktur des Gehirns und der Nervenbahnen gebunden, als dass sie über die Aufnahme und elektive Weitergabe der seelischen Irritationen letzte Aufschlüsse zu geben vermöchten, und so finden wir auch das Wort Seele in diesen Lehren nicht. Die Psychopathologie der Tuberkulose – wenn ich in diesem Begriff alles zusammenfassen darf, was uns hier bewegt – ist noch eine terra incognita. „Was weiß denn unsere Wissenschaft von den seelischen Symptomen, Wirkungen oder gar Ursachen und Bedingungen der körperlichen Krankheit Tuberkulose?“ fragt Hellpach in seiner Studie über die Zauberberg-Krankheit.[1] Heute, nach zwei Jahrzehnten, wissen wir ebenso wenig eine klare Antwort darauf, aber die Not unserer Zeit lässt uns das Zusammenspiel zwischen Tuberkulose und Persönlichkeit deutlicher sehen. Wie sehr das Auslösen eines tuberkulösen Schubes und seine Rückbildung seelischen Einflüssen unterliegt, dafür nur ein geradezu klassisches Beispiel aus eigener Beobachtung.

Eine dreißigjährige Krankenschwester aus gesunder Familie, seit 7 Jahren auf einer Tuberkuloseabteilung täglich der Ansteckungsgefährdung ausgesetzt, war bei fortlaufender Überwachung mit wiederholten Röntgenaufnahmen frei von allen Zeichen einer aktiven Lungentuberkulose. Die positive Tuberkulinreaktion wurde als Ausdruck stattgehabter, aber zur Ruhe gekommener Tuberkuloseinfektion gewertet.

Die Schwester machte keinen Hehl daraus, dass sie gerne heiraten wollte, fand aber keine Gelegenheit dazu. Als sie endlich die ersehnte Bindung mit einem Mann, der einige Jahre jünger war als sie, eingehen konnte, wurde sie von dessen Eltern abgelehnt, und der Mann wollte sich daraufhin von ihr trennen. Seelischer und körperlicher Zusammenbruch des enttäuschten Mädchens, das alle Zukunftshoffnungen vernichtet sah. Drei Monate später frische Tuberkulose im rechten Oberfeld (infraclavikuläres Infiltrat in Einschmelzung, Tuberkelbazillen positiv). Ein Heilverfahren wurde sofort eingeleitet. Unter dem Eindruck dieser Erkrankung entschloss sich der Verlobte trotz des Widerstandes seiner Eltern dann doch, sein Versprechen einzulösen. Rascher Umschwung im Gesamtbefinden mit spontaner Rückbildung der Tuberkulose, so dass der in Aussicht genommene Pneumothorax nicht mehr angelegt wurde. Ärztliches Abraten von sofortiger Heirat und Schwangerschaft beachtete das Mädchen nicht, da sie die wiedergewonnene Bindung nicht verlieren wollte und da sie wusste, dass der Mann unbedingt Kinder wünschte. Kurz darauf Heirat. Neun Monate später das erste Kind, dem rasch zwei weitere folgten. Trotz dieser Schwangerschaften kein Aufflackern der Tuberkulose und – happy end: Schwiegereltern ausgesöhnt und glücklich über die drei Enkelkinder!

Solchen eindrucksvollen Beobachtungen vom Kommen und Gehen der Tuberkulose, wie sie jeder aufgeschlossene Arzt immer wieder erlebt, kann man sich nicht leicht entziehen. Sie muten zuweilen wie ein Wunder an und lassen sich, da weder die angewendete Therapie noch das Abtun als zufälliges Zusammentreffen zur Erklärung ausreichen, nur auf das Entstehen und Bezwingen der Krankheit durch seelische Kräfte zurückführen. Ist bei Frauen und jungen Mädchen zumeist enttäuschte Liebe oder der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen der Anlass zu seelischem oder körperlichem Versagen, rufen beim Mann eher Beschränkungen der persönlichen Freiheit durch wirtschaftliche Not, berufliche Zurücksetzung, Gefangenschaft, Haft oder andere Einengungen der individuellen Entfaltung, namentlich wenn sie als ungerecht und unverdient empfunden werden, seelische Konflikte hervor und können tuberkulöse Schübe mit schweren organischen Veränderungen und der Reaktivierung ruhender Herde einleiten. Diese Spannungen treten nicht überall im jeweiligen Lebenslauf zutage. Oft liegen sie schon länger zurück, sind schon chronisch geworden und gelangen kaum in das Bewusstsein. Aber sie sind vorhanden und lassen sich vielfach auch aufdecken, wenn man ihnen nur nachgeht. Die Verschiedenheit der Geschlechter im Ansprechen auf seelische Dinge mag auch zu einem Teil ihre unterschiedliche Beteiligung an der gegenwärtigen Tuberkulosemorbidität und -mortalität erklären, die uns die Statistik nach diesem Kriege aufzeigt. Der auffällig überwiegende Anteil der Männer ist nicht allein durch die primäre relative Resistenzschwäche gegen Erkrankung beim Durchschnitt des männlichen Geschlechts (v. Pfaundler) und durch die körperlichen Strapazen des Berufes und des Krieges bedingt, sondern hier wirken sich sicher auch die schicksalhaften Umwälzungen unserer Zeit aus, die in manchem deutschen Mann eine Welt zusammenbrechen ließen.

Wie ein gewaltiges und zugleich erschütterndes Experiment zwingt uns das elementare Ereignis des eben zu Ende gegangenen Krieges, neben den äußerlich angreifenden Faktoren den Einfluss der seelischen Belastung auf den Beginn und den Gang der Tuberkulose anzuerkennen. Bei jedem länger dauernden Krieg ist es außer der vermehrten körperlichen Leistung bei gleichzeitig herabgesetzter Ernährung die gesteigerte seelische Beanspruchung, die mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Hoffen und Enttäuschtwerden, zwischen Freude und Leid, und dem steten Bereitseinmüssen, sich einer neuen Lage anzupassen, unablässig an der Widerstandskraft des gesamten Volkes im Felde und in der Heimat zehrt. An die seelische Not in und nach diesem Kriege reichen die Auswirkungen des verlorenen ersten Weltkrieges bei weitem nicht heran. Wurde damals für den Anstieg der Tuberkulose in Deutschland in erster Linie die ungenügende Ernährung verantwortlich gemacht, nach deren Behebung die Todeszahlen bald wieder absanken, sind durch den zweiten Weltkrieg alle Grundlagen unseres Lebens ins Wanken geraten und müssen erst wieder neu gefügt und gefestigt werden. Zu Unterernährung und Entbehrungen, Arbeitsüberlastung ohne ausreichende körperliche Erholung, unregelmäßiger Lebensweise und Ertragen von Kälte wegen Mangel an Kohle und Kleidung kamen die Binnenwanderung von der Stadt auf das Land und die große Völkerwanderung von Osten nach Westen mit der Entwurzelung aus der angestammten Heimat durch Evakuierung, Umsiedlung oder Flucht, mit dem ungewollten Zusammenleben zu vieler Menschen in beengten Wohnungen und Lagern, mit den unausbleiblichen täglichen Reibungen, mit der erzwungenen wirtschaftlichen und beruflichen Umstellung, der Sorge um das Schicksal von Angehörigen, dem lähmenden Druck einer ungewissen Zukunft – mit einem Wort: die Störungen in der Harmonie der eingespielten Lebensform. Sie unterhöhlen noch immer die Gesundheit des Einzelnen und des ganzen Volkes, bis die körperliche und seelische Abwehrkraft dieser Zerreißprobe nicht mehr standhält. Nur der Abschluss eines dauerhaften Friedens, der das Recht der Persönlichkeit auf eine angemessene Lebensform mit ausreichender Wohnung und Ernährung, Arbeit und Erholung wiederherstellt, kann dem weiteren Ansteigen der Tuberkulose ein festes Bollwerk entgegensetzen!

Es war mir ein Anliegen, der Persönlichkeit des Tuberkulösen den mystischen Mantel abzunehmen, den man ihr gern überwirft, und sie so darzustellen, wie sie ist, geworden aus Erbgut und Umwelt. Nicht die Tuberkulose als spezifisch toxische Krankheit, sondern die durch das chronische Leiden veränderte Lebenssituation oder mit anderen Worten: die Wandlung des Schicksals durch die Krankheit lässt den prämorbiden Charakter in seiner Eigenart stärker hervortreten, drängt ihn aber nicht aus seiner Grundrichtung. Gerade in der Gegenwart scheint mir aber diese Frage nach dem Einfluss der Tuberkulose auf das Seelenleben des Kranken weniger wichtig als die umgekehrte Frage: Wie weit wurzelt die Tuberkulose im Seelischen? Denn aus der Gesamtpersönlichkeit formt sich das Tuberkulosegeschehen, sobald der erste Keim von außen her eingedrungen ist und haftet.

Wir verfolgen und deuten den Weg der Infektion und Krankheit immer noch zu sehr nach groben äußeren Vorgängen, wenn wir auch mehr und mehr eine zentrale Steuerung durch das Nervensystem anerkennen, und sind in Gefahr, durch die immer weiter aufgezweigte Einzelforschung und das Experiment die lebendige Fühlung mit der Erkenntnis von dem alles beherrschenden Einfluss der Seele zu verlieren. Krehls Wort, dass Krankheit letzten Endes nicht vom Organ, sondern vom seelischen Wesen abhängig ist, gilt mit vielen anderen Zeugnissen gleicher Erfahrung auch für die Tuberkulose. Mit dem „schicksalsmäßigen Ablauf“ darf sich der Arzt – oder sagen wir besser die ärztliche Persönlichkeit, denn der Persönlichkeit des Kranken müssen wir die Persönlichkeit des Arztes entgegenstellen – nicht einfach abfinden. Es gehört zu seinem Auftrag, sich nicht auf das erkrankte Organ zu beschränken, sondern auch auf die Lebensumstände und Sorgen des Erkrankten einzugehen, um zu ergründen, was über die äußeren Angriffe hinaus Ursache der Krankheit war. Es ist ein großer Schritt vorwärts, wenn wir bewusster als bisher die nicht zu messenden und doch spürbaren seelischen Schwingungen mitempfinden und so nicht nur den Gang der Tuberkulose besser verstehen lernen, sondern auch unsere Behandlung mit ihren oft problematischen Arzneien und Eingriffen danach ausrichten. Es lassen sich, zumal heute, nicht alle schwierigen Probleme für den Einzelnen lösen. Aber wir können ihm helfen, innerlich frei zu werden, damit er in seiner Unruhe und Verwirrung wieder Halt findet und zu einer neuen Lebensform kommt, aus der er die Hoffnung auf die Überwindung der Krankheit schöpft. Erst dann, wenn die Hemmnisse und Disharmonien beiseite geräumt und die natürlichen, in jedem Menschen selbst ruhenden Kräfte aufgerufen und aufgeladen sind, wird der Weg frei für den Erfolg unseres ärztlichen Handelns!

Wer sich daran gewöhnt hat, die Zusammenhänge zwischen Tuberkulose und Persönlichkeit so zu sehen, kann sich mit der Deutung der Tuberkulose als infektionsbedingter, erbgebundener und umweltgeformter Krankheit nicht mehr zufriedengeben und wird darüber hinaus immer wieder ihren seelischen Quellen nachspüren. Wie aber lässt sich aus dieser Erkenntnis praktischer Gewinn für die Therapie ziehen? Hier scheidet sich der Mediziner, dem auch die Tuberkulose nur ein mechanisches Problem ist, von dem Arzt, der die Gabe und den Willen der Einfühlung in sich trägt, wie sie die seltsame Krankheit Tuberkulose in hohem Maße erfordert. Er bedarf dazu häufig nicht der Technik einer umfassenden Psychotherapie – diese scheint mir zuweilen sogar fehl am Platze – sondern schon das, was J. H. Schultz, Jores und andere die kleine Psychotherapie nennen, vermag das Tor zur Heilung zu öffnen. Am Eingang steht die ausführliche biographische Anamnese, um den Kranken in seiner ganzen Lebenssituation menschlich zu begreifen. Wie der Patient dann weiter angesprochen und geführt werden muss, um aus eigener Kraft an seiner Gesundung mitzuhelfen, und wie ihm das Bild seiner Krankheit überhaupt dargestellt wird, dafür gibt es kein erprobtes Schema und Rezept – das muss das Arzttum eingeben, denn jede Persönlichkeit verlangt persönliche Behandlung! Fragen der Lebensauffassung, der Weltanschauung und nicht zuletzt des Glaubens werden dabei angerührt, und die psychologische Forschung, die überall in der Medizin in Bewegung geraten ist, erhält ihre große Aufgabe, um herauszufinden, wie der Hebel anzusetzen ist.

Die Psychopathologie der Tuberkulose steht erst am Anfang. Sie führt zu einer therapeutischen Richtung, die nicht neu ist, bisher aber viel zu wenig erkannt und beschritten wurde. Sie hebt die gebahnten Wege unserer bewährten Tuberkulosebehandlung nicht auf, sondern festigt und verbindet sie. Die Forderung der Früherfassung und Frühbehandlung bleibt nach wie vor bestehen. Die hygienisch-diätetische Therapie mit den Freiluftliegekuren, das Gerüst all unserer Maßnahmen, wird noch mehr in den Vordergrund gestellt, denn wir sehen ihren Einfluss nicht allein in der körperlichen Ruhe, sondern mehr noch in der seelischen Entspannung durch das Fernhalten der zermürbenden Reize des Alltags. Auf operative Eingriffe wird dort, wo mechanische Hindernisse der Heilung entgegenstehen, auch künftig nicht immer verzichtet werden können. Aber auch hierbei wirkt sich das persönliche Eingehen auf den Kranken, vor allem bei der Vor- und Nachbehandlung, entscheidend aus. Solche Einstellung verlangt ein besonders kritisches Urteil in der Anzeige zur Operation und wägt das Für und Wider nicht allein nach dem lokalen Befund, sondern immer nur im Rahmen der Gesamtsituation sorgfältig ab. Der Arzt, der etwa auf jede Feststellung einer Kaverne schablonenmäßig mit dem Vorschlag zu sofortiger Pneumothoraxanlegung reagiert und die Allgemeinbehandlung als nebensächlich einschätzt, wird erstaunt sein, von der großen Zahl der spontanen Kavernenheilungen zu hören, die Bronkhorst in den letzten Jahren erzielte, bei sehr streng und langdauernd durchgeführter körperlicher und seelischer Ruhebehandlung, wobei er die psychische Entspannung besonders in den Vordergrund stellt. Von 180 Kavernenträgern wurden 100 (55 Prozent) spontan geschlossen, die übrigen durch Kollapsbehandlung. Dabei ist Bronkhorst, übrigens gleichzeitig – und sicher ist dieses Zusammentreffen kein Zufall – einer der erfolgreichsten Vorkämpfer der Arbeitstherapie für Tuberkulöse und Schöpfer der bekannten ADO-Werke in den Heilstätten Berg en Bosch (Holland), durchaus der operativen Therapie zugetan und hat zu derselben Zeit, dort wo es notwendig war, eine große Zahl von Pneumolysen ausführen lassen. Das sollte auch dem Skeptiker zu denken geben!

Die Hoffnung von ungezählten Tuberkulosekranken und ihren Ärzten richtet sich heute auf die Chemotherapie, die in letzter Zeit so verheißungsvoll vorangekommen ist. Wie diese sich künftig entwickeln wird und welchen Weg die Tuberkulosebehandlung überhaupt nimmt, vermögen wir nicht abzusehen. Aber eines wissen wir schon heute: Niemals wird man die Tuberkulose, deren Feuer von vielen Seiten angefacht und geschürt wird, mit einem einzigen Mittel allein auslöschen können! Immer wird das Zusammenwirken mehrerer Heilkräfte notwendig sein, und die wichtigste Aufgabe des Arztes wird immer bleiben, die seelische Abwehr des Kranken zu wecken und zu stärken, wie es Hufeland schon gesagt hat: „Wir haben andere Namen, selbst andere Formen der Krankheiten, andere Mittel der Heilung, andere Begriffe und Erklärungsarten als das Altertum, aber die Heilkunst ist noch immer dieselbe, und es bedarf noch immer derselben Eigenschaften, um ein großer Arzt zu sein wie zu Hippokrates‘ Zeiten. Es gibt nur eine Heilkunst, denn sie ist etwas Inneres, auf den ewigen Gesetzen der Natur Beruhendes!“


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* Nach einem Vortrag auf der Tagung der Deutschen Tuberkulose-Gesellschaft in Wiesbaden, 5. – 8. Oktober 1948 (erscheint in den „Beiträgen zur Klinik der Tuberkulose“.)
Zuerst veröffentlicht in PSYCHE 1950; 3:732 – 740. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlags.


1 „Es ist nicht die rein physische Lungentuberkulose; es ist jene seelische Komponente, die, vielleicht mit jeder tuberkulösen Disposition oder Primärinfektion verbunden, durch die Sanatoriumsatmosphäre zu üppiger Fülle entfaltet und nun ihrerseits zu einem leisen, aber unermüdlichen psychophysischen Antriebsmotor des körperlichen Krankbleibens, des Kränkerwerdens, zu einer immer unübersteiglicheren Barrikade vor der Genesung wird. Die systematische Lähmung des antituberkulösen Genesungswillens durch das Kurmilieu; die systematische Züchtung der tuberkulösen Krankheitsindolenz durch das Kurmilieu: das ist die Zauberberg-Krankheit!“ (Hellpach).


  • Literatur

  • 1 Bachmann W. Bestehen Zusammenhänge zwischen Schizophrenie und Tuberkulose?. Schweizer Medizinische Wochenschrift 1746; 62
  • 2 Bergmann Gvon. Psychophysische Vorgänge im Bereich der Klinik. Deutsche Medizinische Wochenschrift 1930; 1684
  • 3 Bronkhorst W. Spontane Cavernegenezing. Nederl. Tijdschr. Geneeskd 1947; 91: 3350
  • 4 Bronkhorst W. Het psychisch moment bij de behandeling van de longtuberculose. Rede uitgesproken bij de aanvaarding van het ambt van buitengewoon hoogleraar in de longziekten aan de rijksuniversiteit te Utrecht op maandag 6. Dezember 1948.
  • 5 Ebstein E. Tuberkulose als Schicksal. Stuttgart: 1932
  • 6 Hellpach W. Die „Zauberberg“-Krankheit. Medizinische Welt 1927; 1425 , 1465
  • 7 Hollmann W. Zur klinischen Psychologie der Tuberkulose. Tuberkulosearzt 1948; 553
  • 8 Hufeland CW. Enchiridion medicum. Berlin: 1836
  • 9 Jores A. Psychosomatische Therapie. Ärztliche Forschung 1948; 479
  • 10 Krehl L. Krankheitsform und Persönlichkeit. Dtsch Med Wschr 1928; 1745
  • 11 Khreninger-Guggenberger von. Psyche und Infektion. Arch Hyg 1933; 109: 333
  • 12 Kretschmer E. Körperbau und Charakter. 19. Auflage 1948
  • 13 Melzer LJ. Über das seelische Verhalten des Tuberkulösen. In: Die Tuberkulose. Ein Handbuch in 5 Bänden. Band I Leipzig: 1943
  • 14 Moormann LJ. The psychology of the tuberculous patient. Amer Rev Tbc 1948; 57: 528
  • 15 Pfaundler Mvon. Über das Geschlechtsverhältnis bei frühem Erkranken und Sterben. Münch. Med Wschr 1942; 115
  • 16 Roloff W. Die Lungentuberkulose. Berlin-Göttingen-Heidelberg: 1948
  • 17 Schüler W. Über Körperbau und Tuberkulose. Z Tbk 1934; 71: 292

Korrespondenzadresse

Dr. Robert Kropp
Liegnitzer Straße 5
36100 Petersberg

  • Literatur

  • 1 Bachmann W. Bestehen Zusammenhänge zwischen Schizophrenie und Tuberkulose?. Schweizer Medizinische Wochenschrift 1746; 62
  • 2 Bergmann Gvon. Psychophysische Vorgänge im Bereich der Klinik. Deutsche Medizinische Wochenschrift 1930; 1684
  • 3 Bronkhorst W. Spontane Cavernegenezing. Nederl. Tijdschr. Geneeskd 1947; 91: 3350
  • 4 Bronkhorst W. Het psychisch moment bij de behandeling van de longtuberculose. Rede uitgesproken bij de aanvaarding van het ambt van buitengewoon hoogleraar in de longziekten aan de rijksuniversiteit te Utrecht op maandag 6. Dezember 1948.
  • 5 Ebstein E. Tuberkulose als Schicksal. Stuttgart: 1932
  • 6 Hellpach W. Die „Zauberberg“-Krankheit. Medizinische Welt 1927; 1425 , 1465
  • 7 Hollmann W. Zur klinischen Psychologie der Tuberkulose. Tuberkulosearzt 1948; 553
  • 8 Hufeland CW. Enchiridion medicum. Berlin: 1836
  • 9 Jores A. Psychosomatische Therapie. Ärztliche Forschung 1948; 479
  • 10 Krehl L. Krankheitsform und Persönlichkeit. Dtsch Med Wschr 1928; 1745
  • 11 Khreninger-Guggenberger von. Psyche und Infektion. Arch Hyg 1933; 109: 333
  • 12 Kretschmer E. Körperbau und Charakter. 19. Auflage 1948
  • 13 Melzer LJ. Über das seelische Verhalten des Tuberkulösen. In: Die Tuberkulose. Ein Handbuch in 5 Bänden. Band I Leipzig: 1943
  • 14 Moormann LJ. The psychology of the tuberculous patient. Amer Rev Tbc 1948; 57: 528
  • 15 Pfaundler Mvon. Über das Geschlechtsverhältnis bei frühem Erkranken und Sterben. Münch. Med Wschr 1942; 115
  • 16 Roloff W. Die Lungentuberkulose. Berlin-Göttingen-Heidelberg: 1948
  • 17 Schüler W. Über Körperbau und Tuberkulose. Z Tbk 1934; 71: 292