Pneumologie 2012; 66(10): 617-618
DOI: 10.1055/s-0032-1325745
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Antwort

X. Baur
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. X. Baur
Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin, Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf
Seewartenstraße 10
20459 Hamburg

Publication History

Publication Date:
10 October 2012 (online)

 

Zu 1 Es ist richtig, dass v. a. in Kanada – initiiert von der nach wie vor produzierenden Asbestindustrie mit breiter Vernetzung zu gesponserten Forschern und zu politischen Entscheidungsträgern – eine die Gefahren von Weißasbest verharmlosende Debatte läuft, die ihre Ausläufer auch hierzulande hat. Vgl. hierzu das kürzlich erschienene Editorial in der Nr. 1 der naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften NATURE [1]: „The minerals industry has long tried to convince regulators that white asbestos – or chrysotile – is safe when handled properly. It argues that only the already controlled forms – blue and brown asbestos, known collectively as amphibole – are of concern.

To support this, industry advocates point to scientific data and studies. Yet although the relevant literature is a mire of conflicting results, this should not be seen as an endorsement of their position. Rather, it reflects a string of industry-sponsored studies designed only to cast doubt on the clear links. These are familiar tactics…."

Zum Schutz vor den Gesundheitsgefahren durch Weißasbest haben Wissenschaftler aus 28 Ländern an den Premierminister in Kanada appelliert, den Asbestexport zu stoppen [2]. In gleichem Sinne fordern führende internationale epidemiologische Fachgesellschaften in einem soeben veröffentlichten Positionspapier alle Asbest-exportierenden und -anwendenden Länder auf, den Vertrieb bzw. die Verarbeitung von Asbest einzustellen (http://www.jpc-se.org/documents/03.JPC-SE-Position_Statement_on_Asbestos-June_4_2012-Full_Statement_and_Appendix_A.pdf). In der letzteren Veröffentlichung wird außerdem Folgendes festgehalten:

„A rigorous review of the epidemiologic evidence confirms that all types of asbestos fibre are causally implicated in the development of various diseases and premature death. Numerous well-respected international and national scientific organizations, through an impartial and rigorous process of deliberation and evaluation have concluded that all forms of asbestos are capable of inducing mesothelioma, lung cancer, asbestosis and other diseases. These conclusions are based on the full body of evidence, including the epidemiology, toxicology, industrial hygiene, biology, pathology and other related literature published on the time of the respective evaluations.”

Es trifft also zweifelsfrei zu, dass es in der Literatur zahlreiche Arbeiten gibt, die sich mit den Gesundheitsgefahren durch Asbestfaserstäube befassen. Wir dürfen auch auf unsere Buchveröffentlichung von 1983 verweisen, der bereits damals ca. 4000 Veröffentlichungen zugrunde lagen [3]. Wie von uns erwähnt, wurde kein anderer Arbeitsstoff bisher so intensiv bzgl. seiner gesundheitsadversen Eigenschaften untersucht. Es existieren auch ältere Übersichtsarbeiten, auf die in diesem Leserbrief v. a. eingegangen wird. Unser Ziel war es, den aktuellen Wissensstand darzulegen. Zur Frage der unterschiedlichen Wirkungen von Blau- bzw. Weißasbest haben wir die experimentellen und die In-vitro-Befunde vorgestellt. Zur Frage der Lungenkrebserkrankung sind insbesondere neuere epidemiologische Metaanalysen zitiert, die im Hinblick auf die Fragestellung durchgeführt wurden. Auch aus diesen Metaanalysen ist zu entnehmen, dass sich Unterschiede bei Chrysotil- im Vergleich zu Amphibolasbest-Exponierten kaum feststellen ließen.

Dem Argument einer häufigen Mischexposition in den Kohorten ist zu entgegnen, dass der in einigen Studien quantifizierte Amphibolanteil im Chrysotil nicht mit dem Risiko korreliert und die gleichartige Effekte zeigenden tierexperimentellen und In-vitro-Untersuchungen mit verschiedenen reinen Chrysotilfaserarten erfolgten [4].

Zu 2 Mit unserem Beitrag haben wir keine neue Ableitung des Verdopplungsrisikos für Lungenkrebserkrankungen nach Asbestfaserstaub-Einwirkungen am Arbeitsplatz vornehmen wollen. Dies ist – wie von Herrn Prof. Kentner korrekterweise berichtet – vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat beim BMAS erfolgt. Es trifft daher zu, dass kein Unterschied der Risikoverdopplung für die Amphibolasbeste oder Chrysotilasbest in der Legaldefinition zur Nr. 4104 BKV Anlage vorgenommen werden konnte. Auch zeigen unsere Erfahrungen mit ungezählten Arbeitsanamnesen das Folgende: Patienten haben meist große Schwierigkeiten, mehrere Jahrzehnte später die Asbestfasermineralogie in den nach Tausenden zählenden, von ihnen hergestellten, be- oder verarbeiteten, insoweit auch niemals deklarierten Asbestprodukten belastbar zu unterscheiden. Dementsprechend lassen sich auch international in größeren Kohorten die arbeitsanamnestischen Expositionsszenarien wohl niemals im Sinne einer Schwarz-Weiß-Betrachtung simplifizieren. Aufgrund der in unserer Publikation dargelegten Erkenntnisse ergeben sich deshalb auch keine Gründe, um von einer unterschiedlichen Bewertung beider Asbestarten mit der Folge ausgehen zu müssen, eine BK-Anerkennung von Erkrankungen an Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs lediglich bei 25 Amphibolfaserstaubjahren zur Anerkennung vorzuschlagen, nicht jedoch bei Chrysotilasbest. Die internationalen Kohortenstudien zum Bronchialkarzinom-Risiko nach Asbestfaserstaubgefährdung am Arbeitsplatz sind den Autoren bekannt und z. B. bereits in Übersichtsarbeiten [5] zitiert. Da es keine relevanten wirkungsbezogenen Unterschiede zwischen den Asbestarten gibt, liegt wissenschaftlich keine Veranlassung vor, von der Legaldefinition zur BK Nr. 4104 der BKV abzuweichen. Bei einem evidenzbasierten Versuch, jene Tumorerkrankungen nach der weitaus häufigeren Exposition durch Chrysotilasbest nunmehr aus dem Geltungsbereich der Legaldefinition auszugliedern, sollten sehr überzeugende wissenschaftliche Fakten und Gegenbeweise aufgeboten werden. Speziell wäre es erforderlich, nicht nur die gesicherten epidemiologischen Befunde, kasuistischen Beschreibungen, sondern auch die Erkenntnisse zu den Pathomechanismen der Wirkung einer Inkorporation von Chrysotilasbest ganzheitlich zu bewerten. Aufgrund der dargelegten Erkenntnisse ist es nicht möglich, diese von Herrn Prof. Kentner angedachten Gegenbeweise zu führen und auch nicht erforderlich, zumal Lungenkrebserkrankungen und Mesotheliomerkrankungen nach reiner Chrysotilasbestexposition aufgetreten und tierexperimentell gut belegt sind.

Zu 3 Herrn Prof. Kentner ist zuzustimmen, dass es zur mindestens additiven, in einigen epidemiologischen Studien sogar multiplikativen Risikosteigerung infolge von Asbestfaserstäuben und PAH (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) u. a. im Tabakrauch kommt. Auch nach unseren Kenntnissen ist bei Chrysotilasbest mindestens von einer additiven Wirkung auszugehen. Unzweifelhaft stellt Zigarettenrauch einen konkurrierenden Risikofaktor für die Entstehung von Lungenkrebserkrankungen dar. Herr Prof. Kentner lässt jedoch außer Betracht, dass sozialmedizinisch auch dem Chrysotilasbest eine wesentliche Teilursächlichkeit bei der Erkrankungsentstehung zukommt. Für außergewöhnlich spekulativ halten wir die Äußerung, dass „bei Chrysotilexpositionen… die Asbestexposition ihre vom Rauchen unabhängige Wirkung verliert“. Bekanntlich ist im Sozialrecht die „Theorie der wesentlichen Bedingung“ anzuwenden. Hierbei werden als kausal solche Ursachen als rechtserheblich angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg und damit wesentlich zu dessen Eintritt mitgewirkt haben. Haben mehrere Ursachen zu einem Erfolg – hier also zu einem Gesundheitsschaden – beigetragen, so kann es mehrere rechtlich wesentliche Ursachen geben. Es wird dann von einer sogenannten „konkurrierenden Kausalität“ gesprochen. Dies setzt jedoch nicht voraus, dass die Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig sind. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein. Bei einer Lungenkrebserkrankung infolge arbeitsbedingter Asbestfaserstaub-Einwirkungen in Höhe von 25 Faserjahren ist das arbeitsbedingte Risiko für den Schadeneintritt keinesfalls hinwegzudenken. Insofern ist die Aussage, dass eine Reihe von Raucher-Krebserkrankungen als Berufskrankheit anerkannt und entschädigt wurde, sozialmedizinisch nicht nur äußerst fragwürdig, sondern steht auch im Gegensatz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung. In diesem Zusammenhang verwundert es auch, dass Herr Prof. Kentner die neue Berufskrankheit der Nr. 4114 „Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen ….“ auf den Rauchkonsum beziehen will, was nicht vom Verordnungsgeber beabsichtigt ist.

Zu 4 Herr Prof. Kentner widerspricht in auffallender Übereinstimmung mit der Asbestindustrie (s. o.) dem klinisch und experimentell gut belegten Fahrerfluchtphänomen.

Zu den Risiken durch Asbestfaserstäube und dem sogenannten „Fahrerfluchtphänomen“ wurde in der interdisziplinären S2-Leitlinie „Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten“ ausführlich Stellung genommen, sodass hierauf verwiesen werden soll. Diese interdisziplinäre S2-Leitlinie ist von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin unter Mitwirkung der Deutschen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie e. V., der Deutschen Gesellschaft für Pathologie e. V. und der Deutschen Röntgengesellschaft e. V. erarbeitet worden. Auf eine Wiederholung kann an dieser Stelle verzichtet werden. Es verwundert, warum sich Herr Prof. Kentner weiterhin gegen die internationalen Erkenntnisse (vgl. [6]) und ebenso die Leitlinie stellt, ohne relevante eigene wissenschaftliche Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet vorzuweisen.

Zu 5 Dass Marketing für die eigenen Laboreinrichtungen betrieben wird, ist eine reichlich unfreundliche, nicht haltbare Unterstellung. Dies ist mitnichten der Fall. Nicht erst in unserem jetzigen Artikel wird dargelegt (vgl. [7]), dass die ausschließliche Asbestkörperchenzählung zur Beurteilung des Vorliegens einer asbestbedingten Berufskrankheit weder hinreicht noch leitlinienkonform ist. Bei negativem Ausfall der Asbestkörperchenanalyse kann gemäß Leitlinie [4] eine elektronenmikroskopische Begutachtung allenfalls als ultima ratio angeschlossen werden. In diesem Zusammenhang sei erneut darauf hingewiesen, dass sowohl Asbestkörperchenzählungen als auch die elektronenmikroskopischen Untersuchungen hinsichtlich ihrer Aussagekraft bei dem wenig biobeständigen Chrysotilasbest meist an ihre Grenzen stoßen und somit falsch negative Befunde ergeben. Dies ist unabhängig von der Laboreinrichtung, sodass auch elektronenmikroskopische Lungenstaubfaseranalysen aufgrund dieser diagnostischen Einschränkungen kaum zur Kausalitätsfindung beitragen. Das in unserer Kasuistik dargestellte externe Vorgehen entspricht weder den Leitlinien noch wird es von den Autoren in der BK-Beurteilung angewandt. Herr Prof. Kentner unterstützt offensichtlich das vielfach praktizierte Vorgehen, eine positive Arbeitsanamnese zu negieren, mit der Folge von Ablehnungen von Berufskrankheiten infolge des mangelnden Asbestkörperchennachweises. Das Leugnen der Gefahren des Weißasbestes schützt aber nicht vor dessen (oftmals tödlichen) Folgen.

Xaver Baur, Hamburg
Marcial Velasco Garrido, Hamburg
Joachim Schneider, Gießen
Hans-Joachim Woitowitz, Gießen


#

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. X. Baur
Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin, Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf
Seewartenstraße 10
20459 Hamburg