10.1055/s-0032-1325744
Zu 1 Es ist richtig, dass v. a. in Kanada – initiiert von der nach wie vor produzierenden
Asbestindustrie mit breiter Vernetzung zu gesponserten Forschern und zu politischen
Entscheidungsträgern – eine die Gefahren von Weißasbest verharmlosende Debatte läuft,
die ihre Ausläufer auch hierzulande hat. Vgl. hierzu das kürzlich erschienene Editorial
in der Nr. 1 der naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften NATURE [1]: „The minerals industry has long tried to convince regulators that white asbestos –
or chrysotile – is safe when handled properly. It argues that only the already controlled
forms – blue and brown asbestos, known collectively as amphibole – are of concern.
To support this, industry advocates point to scientific data and studies. Yet although
the relevant literature is a mire of conflicting results, this should not be seen
as an endorsement of their position. Rather, it reflects a string of industry-sponsored
studies designed only to cast doubt on the clear links. These are familiar tactics…."
Zum Schutz vor den Gesundheitsgefahren durch Weißasbest haben Wissenschaftler aus
28 Ländern an den Premierminister in Kanada appelliert, den Asbestexport zu stoppen
[2]. In gleichem Sinne fordern führende internationale epidemiologische Fachgesellschaften
in einem soeben veröffentlichten Positionspapier alle Asbest-exportierenden und -anwendenden
Länder auf, den Vertrieb bzw. die Verarbeitung von Asbest einzustellen (http://www.jpc-se.org/documents/03.JPC-SE-Position_Statement_on_Asbestos-June_4_2012-Full_Statement_and_Appendix_A.pdf). In der letzteren Veröffentlichung wird außerdem Folgendes festgehalten:
„A rigorous review of the epidemiologic evidence confirms that all types of asbestos
fibre are causally implicated in the development of various diseases and premature
death. Numerous well-respected international and national scientific organizations,
through an impartial and rigorous process of deliberation and evaluation have concluded
that all forms of asbestos are capable of inducing mesothelioma, lung cancer, asbestosis
and other diseases. These conclusions are based on the full body of evidence, including
the epidemiology, toxicology, industrial hygiene, biology, pathology and other related
literature published on the time of the respective evaluations.”
Es trifft also zweifelsfrei zu, dass es in der Literatur zahlreiche Arbeiten gibt,
die sich mit den Gesundheitsgefahren durch Asbestfaserstäube befassen. Wir dürfen
auch auf unsere Buchveröffentlichung von 1983 verweisen, der bereits damals ca. 4000
Veröffentlichungen zugrunde lagen [3]. Wie von uns erwähnt, wurde kein anderer Arbeitsstoff bisher so intensiv bzgl. seiner
gesundheitsadversen Eigenschaften untersucht. Es existieren auch ältere Übersichtsarbeiten,
auf die in diesem Leserbrief v. a. eingegangen wird. Unser Ziel war es, den aktuellen
Wissensstand darzulegen. Zur Frage der unterschiedlichen Wirkungen von Blau- bzw.
Weißasbest haben wir die experimentellen und die In-vitro-Befunde vorgestellt. Zur
Frage der Lungenkrebserkrankung sind insbesondere neuere epidemiologische Metaanalysen
zitiert, die im Hinblick auf die Fragestellung durchgeführt wurden. Auch aus diesen
Metaanalysen ist zu entnehmen, dass sich Unterschiede bei Chrysotil- im Vergleich
zu Amphibolasbest-Exponierten kaum feststellen ließen.
Dem Argument einer häufigen Mischexposition in den Kohorten ist zu entgegnen, dass
der in einigen Studien quantifizierte Amphibolanteil im Chrysotil nicht mit dem Risiko
korreliert und die gleichartige Effekte zeigenden tierexperimentellen und In-vitro-Untersuchungen
mit verschiedenen reinen Chrysotilfaserarten erfolgten [4].
Zu 2 Mit unserem Beitrag haben wir keine neue Ableitung des Verdopplungsrisikos für Lungenkrebserkrankungen
nach Asbestfaserstaub-Einwirkungen am Arbeitsplatz vornehmen wollen. Dies ist – wie
von Herrn Prof. Kentner korrekterweise berichtet – vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat
beim BMAS erfolgt. Es trifft daher zu, dass kein Unterschied der Risikoverdopplung
für die Amphibolasbeste oder Chrysotilasbest in der Legaldefinition zur Nr. 4104 BKV
Anlage vorgenommen werden konnte. Auch zeigen unsere Erfahrungen mit ungezählten Arbeitsanamnesen
das Folgende: Patienten haben meist große Schwierigkeiten, mehrere Jahrzehnte später
die Asbestfasermineralogie in den nach Tausenden zählenden, von ihnen hergestellten,
be- oder verarbeiteten, insoweit auch niemals deklarierten Asbestprodukten belastbar
zu unterscheiden. Dementsprechend lassen sich auch international in größeren Kohorten
die arbeitsanamnestischen Expositionsszenarien wohl niemals im Sinne einer Schwarz-Weiß-Betrachtung
simplifizieren. Aufgrund der in unserer Publikation dargelegten Erkenntnisse ergeben
sich deshalb auch keine Gründe, um von einer unterschiedlichen Bewertung beider Asbestarten
mit der Folge ausgehen zu müssen, eine BK-Anerkennung von Erkrankungen an Lungenkrebs
oder Kehlkopfkrebs lediglich bei 25 Amphibolfaserstaubjahren zur Anerkennung vorzuschlagen,
nicht jedoch bei Chrysotilasbest. Die internationalen Kohortenstudien zum Bronchialkarzinom-Risiko
nach Asbestfaserstaubgefährdung am Arbeitsplatz sind den Autoren bekannt und z. B.
bereits in Übersichtsarbeiten [5] zitiert. Da es keine relevanten wirkungsbezogenen Unterschiede zwischen den Asbestarten
gibt, liegt wissenschaftlich keine Veranlassung vor, von der Legaldefinition zur BK
Nr. 4104 der BKV abzuweichen. Bei einem evidenzbasierten Versuch, jene Tumorerkrankungen
nach der weitaus häufigeren Exposition durch Chrysotilasbest nunmehr aus dem Geltungsbereich
der Legaldefinition auszugliedern, sollten sehr überzeugende wissenschaftliche Fakten
und Gegenbeweise aufgeboten werden. Speziell wäre es erforderlich, nicht nur die gesicherten
epidemiologischen Befunde, kasuistischen Beschreibungen, sondern auch die Erkenntnisse
zu den Pathomechanismen der Wirkung einer Inkorporation von Chrysotilasbest ganzheitlich
zu bewerten. Aufgrund der dargelegten Erkenntnisse ist es nicht möglich, diese von
Herrn Prof. Kentner angedachten Gegenbeweise zu führen und auch nicht erforderlich,
zumal Lungenkrebserkrankungen und Mesotheliomerkrankungen nach reiner Chrysotilasbestexposition
aufgetreten und tierexperimentell gut belegt sind.
Zu 3 Herrn Prof. Kentner ist zuzustimmen, dass es zur mindestens additiven, in einigen
epidemiologischen Studien sogar multiplikativen Risikosteigerung infolge von Asbestfaserstäuben
und PAH (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) u. a. im Tabakrauch kommt.
Auch nach unseren Kenntnissen ist bei Chrysotilasbest mindestens von einer additiven
Wirkung auszugehen. Unzweifelhaft stellt Zigarettenrauch einen konkurrierenden Risikofaktor
für die Entstehung von Lungenkrebserkrankungen dar. Herr Prof. Kentner lässt jedoch
außer Betracht, dass sozialmedizinisch auch dem Chrysotilasbest eine wesentliche Teilursächlichkeit
bei der Erkrankungsentstehung zukommt. Für außergewöhnlich spekulativ halten wir die
Äußerung, dass „bei Chrysotilexpositionen… die Asbestexposition ihre vom Rauchen unabhängige
Wirkung verliert“. Bekanntlich ist im Sozialrecht die „Theorie der wesentlichen Bedingung“
anzuwenden. Hierbei werden als kausal solche Ursachen als rechtserheblich angesehen,
die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg und damit wesentlich zu dessen Eintritt
mitgewirkt haben. Haben mehrere Ursachen zu einem Erfolg – hier also zu einem Gesundheitsschaden
– beigetragen, so kann es mehrere rechtlich wesentliche Ursachen geben. Es wird dann
von einer sogenannten „konkurrierenden Kausalität“ gesprochen. Dies setzt jedoch nicht
voraus, dass die Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig sind. Auch eine
nicht annähernd gleichwertige, sondern verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache
kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein. Bei einer Lungenkrebserkrankung infolge
arbeitsbedingter Asbestfaserstaub-Einwirkungen in Höhe von 25 Faserjahren ist das
arbeitsbedingte Risiko für den Schadeneintritt keinesfalls hinwegzudenken. Insofern
ist die Aussage, dass eine Reihe von Raucher-Krebserkrankungen als Berufskrankheit
anerkannt und entschädigt wurde, sozialmedizinisch nicht nur äußerst fragwürdig, sondern
steht auch im Gegensatz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung. In diesem Zusammenhang
verwundert es auch, dass Herr Prof. Kentner die neue Berufskrankheit der Nr. 4114
„Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen
Kohlenwasserstoffen ….“ auf den Rauchkonsum beziehen will, was nicht vom Verordnungsgeber
beabsichtigt ist.
Zu 4 Herr Prof. Kentner widerspricht in auffallender Übereinstimmung mit der Asbestindustrie
(s. o.) dem klinisch und experimentell gut belegten Fahrerfluchtphänomen.
Zu den Risiken durch Asbestfaserstäube und dem sogenannten „Fahrerfluchtphänomen“
wurde in der interdisziplinären S2-Leitlinie „Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter
Berufskrankheiten“ ausführlich Stellung genommen, sodass hierauf verwiesen werden
soll. Diese interdisziplinäre S2-Leitlinie ist von der Deutschen Gesellschaft für
Pneumologie und Beatmungsmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin
und Umweltmedizin unter Mitwirkung der Deutschen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und
Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie e. V., der Deutschen Gesellschaft für Pathologie
e. V. und der Deutschen Röntgengesellschaft e. V. erarbeitet worden. Auf eine Wiederholung
kann an dieser Stelle verzichtet werden. Es verwundert, warum sich Herr Prof. Kentner
weiterhin gegen die internationalen Erkenntnisse (vgl. [6]) und ebenso die Leitlinie stellt, ohne relevante eigene wissenschaftliche Forschungsergebnisse
auf diesem Gebiet vorzuweisen.
Zu 5 Dass Marketing für die eigenen Laboreinrichtungen betrieben wird, ist eine reichlich
unfreundliche, nicht haltbare Unterstellung. Dies ist mitnichten der Fall. Nicht erst
in unserem jetzigen Artikel wird dargelegt (vgl. [7]), dass die ausschließliche Asbestkörperchenzählung zur Beurteilung des Vorliegens
einer asbestbedingten Berufskrankheit weder hinreicht noch leitlinienkonform ist.
Bei negativem Ausfall der Asbestkörperchenanalyse kann gemäß Leitlinie [4] eine elektronenmikroskopische Begutachtung allenfalls als ultima ratio angeschlossen
werden. In diesem Zusammenhang sei erneut darauf hingewiesen, dass sowohl Asbestkörperchenzählungen
als auch die elektronenmikroskopischen Untersuchungen hinsichtlich ihrer Aussagekraft
bei dem wenig biobeständigen Chrysotilasbest meist an ihre Grenzen stoßen und somit
falsch negative Befunde ergeben. Dies ist unabhängig von der Laboreinrichtung, sodass
auch elektronenmikroskopische Lungenstaubfaseranalysen aufgrund dieser diagnostischen
Einschränkungen kaum zur Kausalitätsfindung beitragen. Das in unserer Kasuistik dargestellte
externe Vorgehen entspricht weder den Leitlinien noch wird es von den Autoren in der
BK-Beurteilung angewandt. Herr Prof. Kentner unterstützt offensichtlich das vielfach
praktizierte Vorgehen, eine positive Arbeitsanamnese zu negieren, mit der Folge von
Ablehnungen von Berufskrankheiten infolge des mangelnden Asbestkörperchennachweises.
Das Leugnen der Gefahren des Weißasbestes schützt aber nicht vor dessen (oftmals tödlichen)
Folgen.
Xaver Baur, Hamburg
Marcial Velasco Garrido, Hamburg
Joachim Schneider, Gießen
Hans-Joachim Woitowitz, Gießen