Z Sex Forsch 2012; 25(4): 309-313
DOI: 10.1055/s-0032-1330298
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Sven Lewandowski
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Publication Date:
19 December 2012 (online)

Eine Soziologie der Sexualität hat innerhalb wie außerhalb der Soziologie keinen leichten Stand.[1] Von der Allgemeinen Soziologie über lange Zeit weitgehend vernachlässigt bzw. ignoriert und außersoziologisch von den alten soziologischen „Erbfeinden“ Psychologie, Philosophie und Biologie sowie der Hirnforschung und den Lebenswissenschaften als neuen Gegnern bedrängt, kämpft die Sexualsoziologie jenen Kampf, den die Soziologie bereits vor mehr als 100 Jahren gewonnen hat: Es ist der Kampf nicht nur um einen eigenständigen Erklärungsanspruch, sondern auch um die Anerkennung ihres Forschungsfeldes als genuin sozial.

Die bisherige Abstinenz der (deutschen) Soziologie gegenüber dem Sexuellen lässt sich an zwei Beobachtungen festmachen: Zum einen sind in der deutschen Nachkriegssoziologie nur zwei Werke erschienen, die sich explizit eine Soziologie der Sexualität zum Ziel gesetzt haben. Das eine Werk stammt von Helmut Schelsky (1955) und ist heute allenfalls noch als historisches Zeugnis genießbar. Die andere Soziologie der Sexualität schrieb Rüdiger Lautmann (2002) bewusst als „Anti-Schelsky“ (Lautmann 2003). In all den Jahren dazwischen ist sexualsoziologisch vergleichsweise wenig passiert – jedenfalls wenn man auf die akademisch etablierte Soziologie blickt. Beiträge zu einer Soziologie der Sexualität kamen – jedenfalls im deutschen Sprachraum – oftmals von Außenseitern innerhalb der soziologischen Disziplin oder aber von außerhalb des Fachs. Zu nennen sind etwa Gunter Schmidt und seine Mitarbeiter sowie Volkmar Sigusch, die, obwohl keine Soziologen von Haus aus, die soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Erforschung des Sexuellen vorantrieben. Zum anderen kamen fachsoziologische Beiträge zu einer Soziologie des Sexuellen eher vereinzelt und vor allem von Seiten des Nachwuchses – etwa in der Form von Qualifikationsarbeiten –, während die etablierten Fachvertreter meist stumm blieben.

Bemerkenswert (und erklärungsbedürftig) ist die (fach-) soziologische Reserviertheit gegenüber dem Sexuellen insofern, als sich bei den soziologischen Klassikern durchaus bemerkenswerte Ansätze zu einer Soziologie des Sexuellen finden lassen (vgl. auch Rüdiger Lautmanns Beitrag in diesem Heft), an die der soziologische Diskurs des 20. Jahrhunderts jedoch nicht angeschlossen hat. Zu erinnern sei etwa an Überlegungen bei Georg Simmel, aber auch an Max Webers berühmte Zwischenbetrachtung im ersten Band seiner Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in der er die Ausdifferenzierung unterschiedlicher, jeweils eigengesetzlich rationalisierter sozialer „Wertsphären“ skizziert und – wie selbstverständlich – davon ausgeht, dass sich gegenüber dem Religiösen nicht nur ökonomische, politische, ästhetische und wissenschaftliche Wertsphären, sondern auch eine erotische Wertsphäre ausgebildet habe: Sexualität sei „durch ihre Sublimierung zur ‚Erotik‘ (…) zu einer (…) bewußt gepflegten und dabei außeralltäglichen Sphäre“ geworden (Weber 1915: 223, Herv. im Original). Die Soziologie ist Weber in dieser Hinsicht nicht nur nicht gefolgt, sondern hat sich, selbst dort, wo sie sich mit Sexualität befasste, seiner These nicht angeschlossen, sondern sie möglicherweise verdrängt, auf jeden Fall aber vergessen. Bemerkenswert ist dieses Vergessen freilich – etwa im Gegensatz zum Vergessen der Ansätze Simmels – insofern, als man nicht behaupten kann, dass es in der Soziologie je eine Phase gab, in der Max Weber vergessen worden wäre.[2]

Nach Jahren des (relativen) Dornröschenschlafs, in denen soziologische Arbeiten zur Sexualität ebenso spärlich wie randständisch waren und Sexualität weder in soziologischen Curricula noch in soziologischen Lehrbüchern und Nachschlagewerken vorkam, scheint sich nun eine neue Morgenröte anzukündigen. Die Anzeichen sind vielfältig: Das Thema Sexualität findet zunehmend Eingang in die soziologischen Lehrbücher bzw. ihre neueren Auflagen, einschlägige soziologische Veranstaltungen sind gut besucht und last but not least sind in den letzten Jahren in renommierten sozialwissenschaftlichen Verlagen eine Reihe einschlägiger Werke erschienen,[3] die nicht nur von den „üblichen Verdächtigen“, den alten Meistern der Sexualwissenschaften oder dem wissenschaftlichen Nachwuchs kommen,[4] sondern von Soziologinnen und Soziologen, die fest in der zeitgenössischen Soziologie etabliert sind, ja gar an ihrer Spitze stehen.

Dass es soziologisch lohnenswert ist, sich mit Sexualität und sexuellen Phänomenen zu befassen, scheint somit keine Minderheitenposition mehr zu sein, was zugleich ein Glücksfall für einen erneuten Versuch ist, eine Soziologie der Sexualität nicht nur innerhalb der Sexualwissenschaften, sondern auch in der akademischen Soziologie sowohl thematisch als auch organisatorisch zu etablieren. Gelänge Letzteres, so dürfte sich das zentrale Manko einer von Nichtfachsoziologen betriebenen Soziologie der Sexualität – die mangelnde Anbindung an fachsoziologische Diskurse wie an die soziologische Gesellschaftstheorie – in absehbarer Zeit beheben lassen.

Die Etablierung einer eigenständigen Soziologie der Sexualität setzt jedoch eine Emanzipation in zweierlei Hinsicht voraus. Einerseits muss sich eine Soziologie der Sexualität gegenüber anderen Wissenschaften abgrenzen, die sich ebenfalls mit Sexualität respektive angrenzenden Themengebieten befassen. Diesen Emanzipations- bzw. Autonomieanspruch teilt sie mit der Allgemeinen Soziologie, die in dieser Hinsicht ihr natürlicher Verbündeter ist.[5] Andererseits muss sich eine Soziologie der Sexualität aber auch gegenüber der Allgemeinen Soziologie und den soziologischen Teildisziplinen – etwa der Geschlechterforschung, der Paar- und Familiensoziologie und der Körpersoziologie – emanzipieren.

Wenngleich unbestritten ist, dass die Geschlechterforschung wichtige Beiträge zur Erforschung des Sexuellen geleistet hat, lässt sich aus ihr – aufgrund ihres anders gelagerten spezifischen Erkenntnisinteresses – selbst da, wo sie die Sexualforschung nicht ignoriert, keine Soziologie der Sexualität im eigentlichen Sinne gewinnen. Da Sexualität mehr und anderes ist als „Verkehr der Geschlechter“, ergeben das Geschlechterverhältnis und der sexuelle Umgang der Geschlechter miteinander noch keine Soziologie der Sexualität. Eine soziologische Konzeption des Sexuellen erfordert vielmehr, Sexualität nicht auf Geschlecht und Geschlechtlichkeiten zu verengen, sondern als eigenständige Emergenzebene des Sozialen zu fassen. Man muss nicht – wie etwa der Autor’– von einem Primat sexueller Lust, der die zeitgenössische Sexualität bestimmt (vgl. Lewandowski 2008a), ausgehen oder – wie andere – die körperliche Praxis zum Zentrum einer Soziologie der Sexualität machen, um sehen zu können, dass ein primär gender-zentrierter Zugriff Gefahr läuft, wesentliche Aspekte des Sexuellen zu verfehlen. Wenngleich Geschlechtliches und Sexuelles oftmals miteinander verwoben sein mögen, ist doch zu betonen, dass sie jeweils eigenständige Dimensionen des Sozialen darstellen, die – um eine Metapher Freuds aufzugreifen – allenfalls miteinander „verlötet“ sind. Aus dieser Überlegung ergibt sich die These, dass die Entwicklung und Etablierung einer eigenständigen Soziologie des Sexuellen eine Emanzipation von der Geschlechterforschung zwingend voraussetzt.

Die Etablierung einer Soziologie der Sexualität als eigenständiger soziologischer Teildisziplin setzt aber nicht nur eine Abgrenzung gegenüber der Geschlechterforschung, sondern auch gegenüber der Paar- und Familiensoziologie sowie gegenüber der Körpersoziologie voraus: Will die Sexualsoziologie Eigenständigkeit erlangen, so darf sie weder in auf Sexualität angewandte Geschlechterforschung oder Paarsoziologie noch in einen körpersoziologischen Zugriff auf das Sexuelle kollabieren. Damit ist nicht gesagt, dass die verschiedenen speziellen Soziologien keine wertvollen Beiträge zur Erforschung des Sexuellen leisten können, wohl aber, dass eine Soziologie der Sexualität mehr sein muss als eben Geschlechterforschung, Paar- oder Körpersoziologie, die sich dem Sexuellen widmet. Ähnlich wie sich Körper- wie Geschlechtersoziologie von anderen soziologischen Teildisziplinen emanzipiert haben, muss es auch eine Sexualsoziologie tun. Und wie die Geschlechterforschung keine auf Geschlecht angewandte Familiensoziologie und Körpersoziologie kein Zweig der Sport- oder Medizinsoziologie ist, so darf auch die Sexualsoziologie – sofern sie eine solche sein will – weder ein Anwendungsfeld noch eine Subdisziplin der Geschlechter-, Körper-, Paar- oder sonst einer (Bindestrich-)Soziologie sein.

Eine erfolgreiche Etablierung eines soziologischen Zugriffs auf Sexualität hängt also letzten Endes davon ab, ob und inwieweit es gelingt, Sexualität als ein soziales Phänomen sui generis zu konzipieren, das weder mit anderen Wissenschaften noch mit anderen soziologischen Teildisziplinen hinreichend erklärt werden kann. Nur wenn gezeigt werden kann, dass eine Sexualsoziologie nicht nur einen eigenständigen Erklärungsanspruch vertreten kann, sondern auch eine eigenständige emergente soziale Realität erfolgreich als eigenes Forschungsfeld reklamieren und behaupten kann, ist Sexualsoziologie im eigentlichen Sinne möglich. Dieses Schwerpunktheft und die in ihm versammelten Aufsätze sollen dazu einen Beitrag leisten, indem sie auf verschiedene Weise zeigen, wo und worin der eigenständige Beitrag der Soziologie zur Erforschung des Sexuellen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen liegen kann.

Die Auswahl der Beiträge wie der Beitragenden folgte drei Überlegungen. Zum einen sollten Autorinnen und Autoren gewonnen werden, die nicht bereits zur Stammautorenschaft dieser Zeitschrift gehören und die zum anderen in unterschiedlichen Kontexten forschen, unterschiedlichen Generationen angehören und sich auf unterschiedlichen Stufen der akademischen Karriereleiter befinden: Neben Altmeistern und Etablierten sollte der Mittelbau ebenso wie der Nachwuchs zu Wort kommen. So freut es mich, dass neben Rüdiger Lautmann (als „Altmeister“) nicht nur Thorsten Benkel, der sexualsoziologisch mit einer Studie über das Frankfurter Bahnhofsviertel (2010) hervorgetreten ist, sondern auch die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Martina Löw, und ihre Mitarbeiterinnen Kim Ritter und Eva Kemler als Autorinnen gewonnen werden konnten.

Da von vornherein klar war, dass es sich als unmöglich erweisen würde, in einem Schwerpunktheft die gesamte Bandbreite einer Soziologie der Sexualität abzudecken, trat als ein drittes, thematisches Kriterium für die Auswahl der Beiträge die Überlegung hinzu, dass es zumindest wünschenswert wäre, ein möglichst großes Spektrum sexualsoziologischer Themen und Ansätze abzudecken und zugleich exemplarisch vorzuführen, wo und inwiefern soziologische Ansätze über andere Konzeptionen des Sexuellen – etwa psychologischer Art – hinausweisen. Am Falle der Bisexualität zeigt dies etwa besonders deutlich der Beitrag von Eva Kemler, Martina Löw und Kim Ritter. Auch Thorsten Benkels Plädoyer für eine praxeologisch ansetzende Sexualsoziologie macht deutlich, wie und wo der soziologische Zugriff auf Sexualität über biologische wie psychologische Ansätze und erst recht über evolutionspsychologische Spekulationen hinausweist. Dass auch Rüdiger Lautmann den eigenständigen Erklärungsanspruch der Soziologie betont, wird niemanden überraschen. Die Bedeutung seines Beitrags liegt – neben der Betonung der Bedeutung von körperlichen Praktiken – nicht zuletzt auch darin, dass er sich auf eine Suche nach den Spuren des Sexuellen bzw. sexualsoziologischen Ansätzen bei den Klassikern der Soziologie begibt, um so der Sexualsoziologie ihre verwischte respektive verlorene Geschichte zugänglich zu machen und zu zeigen, dass man sexualsoziologisch nicht (immer wieder) bei null anfangen muss. Dass alle drei Beiträge programmatische Überlegungen zu einer (künftigen) Soziologie der Sexualität beisteuern, darf als eine zusätzliche Stärke gelten.