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DOI: 10.1055/s-0032-1331752
Medizinische Leitlinien sind wettbewerbsrechtlich nicht justiziabel
Oberlandesgericht Köln weist Klage eines Pharmaunternehmens abPublication History
Publication Date:
30 July 2013 (online)
Das Oberlandesgericht Köln (OLG) hat mit seinem Urteil vom 06.11.2012 die Klage eines Pharmaunternehmens gegen die Träger der Nationalen VersorgungsLeitlinien (NVL) auch in zweiter Instanz zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde damit das Urteil des Landgerichts Köln vom 30.11.2011 aus der ersten Instanz bestätigt. Die Revision zum Bundesgerichtshof hat das OLG nicht zugelassen.
Mit diesen Gerichtsentscheidungen wird die auch von hiesiger Seite vertretene Auffassung bestätigt, dass Nationale Versorgungsleitlinien und die Leitlinien einzelner medizinisch-wissenschaftlicher Fachgesellschaften wegen ihrer rein wissenschaftlichen Zielsetzungen einer wettbewerbsrechtlichen Beurteilung entzogen und damit jedenfalls insoweit nicht justiziabel sind.
Zwar sind – so die Gerichte übereinstimmend – die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die Bundesärztekammer (BÄK) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) als Träger und Herausgeber der NVL grundsätzlich für den Inhalt solcher Leitlinien verantwortlich. Dies gilt gleichermaßen für medizinische Fachgesellschaften, die in eigener Verantwortung Leitlinien erarbeiten und veröffentlichen. Äußerungen in Leitlinien zur Anwendung bestimmter Arzneiwirkstoffe oder anderer medizinischer Verfahren können grundsätzlich auch in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb eines Pharmaunternehmens oder eines anderen Dritten eingreifen. Sie können, soweit sie falsche Tatsachenbehauptungen beinhalten, auch geeignet sein, im Sinne einer Kreditgefährdung des § 824 BGB Nachteile für den Erwerb oder das Fortkommen eines gewerblichen Unternehmens herbeizuführen. Bei den hier angegriffenen Äußerungen handelte es sich allerdings durchgängig um Bewertungen und Meinungsäußerungen, deren Unterlassung oder Berichtigung das Pharmaunternehmen nicht beanspruchen konnte. Wettbewerbsrechtliche Ansprüche bestanden daneben ebenfalls nicht.
Aus den nun vorliegenden Entscheidungen des Landgerichts Köln vom 30.11.2011 und des Oberlandesgerichts Köln vom 06.11.2012 lassen sich für den Bestand und die weitere Entwicklung medizinischer Leitlinien die nachfolgenden Erkenntnisse gewinnen:
1. Herausgeber von medizinischen Leitlinien und NVL trifft – auch wenn sie an der inhaltlichen Gestaltung der Leitlinien selbst nicht mitgewirkt haben – ohne weiteres eine sog. Störerhaftung als Verbreiter. Die Verfasser des angegriffenen Leitlinientextes, also die Leitlinienautoren, werden in den Leitlinien regelmäßig als „Gesamtheit“ aufgeführt, ohne dass eine Zuordnung zu den angegriffenen Beiträgen erfolgt. Hervorgehoben sind demgegenüber regelmäßig die Herausgeber der jeweiligen Leitlinien, also die medizinischen Fachgesellschaften oder die AWMF, die BÄK und die KBV als Träger der Nationalen VersorgungsLeitlinien. Aus der Sicht des Durchschnittsrezipienten ruft diese Form der Außendarstellung in den Publikationen der Leitlinien regelmäßig den Eindruck hervor, dass sie die „Herren“ des Leitlinienprojektes waren und sind und dass sie für dessen Inhalt nicht nur die Verantwortung übernommen haben, sondern sich den jeweiligen Inhalt der Leitlinie auch zu eigen machen.
Herausgeber und Träger von medizinischen Leitlinien, also insbesondere die einzelnen medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, sollten sich daher ihrer rechtlichen Verantwortung im Rahmen der Entwicklung und Publikation von Leitlinien bewusst sein.
2. Bei den in Leitlinien wiedergegebenen Empfehlungen zur Anwendung bestimmter Arzneiwirkstoffe oder anderer therapeutischer Verfahren handelt es sich nach Auffassung der Gerichte regelmäßig um Meinungsäußerungen, mit denen subjektive Wertungen zu der Geeignetheit bestimmter arzneilicher Wirkstoffe oder therapeutischer Verfahren für die Behandlung bestimmter Erkrankungen zum Ausdruck gebracht werden.
Entscheidend ist im Einzelfall die Abgrenzung, ob es sich bei den angegriffenen Äußerungen um Tatsachenbehauptungen oder um Meinungsäußerungen handelt. Während wahre Tatsachenbehauptungen grundsätzlich hinzunehmen sind, sind unwahre Tatsachenbehauptungen grundsätzlich nicht zu dulden. Demgegenüber unterfallen Meinungsäußerungen grundsätzlich dem Schutz von Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Der Unternehmer muss daher kritische Äußerungen über seine unternehmerischen Leistungen bis zur Grenze der Schmähkritik hinnehmen. Erfolgen die Äußerungen im Rahmen von vergleichenden Warentests oder sonstigen Bewertungen, ist regelmäßig davon auszugehen, dass den Äußerungen ein überwiegender Meinungsäußerungsgehalt zukommt, sodass für die Anwendung von § 824 BGB in der Regel kein Raum ist. In diesem Zusammenhang ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die mit der Veröffentlichung verbundene Meinungsäußerung keinen rechtswidrigen Eingriff darstellt, wenn die Untersuchung und Bewertung neutral, objektiv, sachkundig und sorgfältig unter Anwendung einer vertretbaren Bewertungsmethode erfolgt.
3. Nach allgemeinem Sprachgebrauch kommt dem Begriff der „Empfehlung“ regelmäßig das Verständnis eines von subjektiven Bewertungen geprägten Rates zu. Er bringt zum Ausdruck, dass ein bestimmtes Verhalten nach der Einschätzung des sich Äußernden befürwortet wird und wird daher von dem Element der Stellungnahme zu einer bestimmten Fragestellung oder zu bewältigenden Problemlage getragen.
Das Oberlandesgericht Köln unterstützt diese Auffassung in seiner Entscheidung vom 06.11.2012, wenn es ausführt:
„Soweit ausgeführt wird, dass die Ärzte in begründeten Fällen von den Empfehlungen der Leitlinie abweichen müssten, steht das dem Charakter der ausgesprochenen Empfehlung als auf subjektiver Wertung beruhend nicht entgegen. Selbst wenn man diesen Hinweisen eine Bindungswirkung der Leitlinie entnehme wollte, ändert das nichts daran, dass eben diese Empfehlungen das Ergebnis einer subjektiver Beurteilung dessen darstellt, was als das „derzeit beste medizinische Wissen“ verstanden wird.“
4. Soweit die Anforderungen der Neutralität, Objektivität, Sachkunde und Sorgfalt gewahrt werden, besteht für den sich in medizinischen Leitlinien Äußernden aufgrund der Meinungsäußerungsfreiheit des Artikels 5 Abs. 1 GG ein erheblicher Beurteilungsspielraum, der Grenzen nur noch dort erfährt, wo
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die Bewertung nicht mehr sachbezogen ist, sondern reine Schmähkritik darstellt;
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die Bewertung offensichtlich unrichtig ist, es sich um bewusste Fehlurteile oder bewusste Verzerrungen handelt oder
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die Bewertung eigenständige, nicht in ihr aufgehende und ihr untergeordnete unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält.
Der AWMF, der Bundesärztekammer und der KBV sowie den einzelnen medizinischen Fachgesellschaften kommt bei der Entwicklung und Publikation der Leitlinien eine besondere „Autorität“ zu, die den Äußerungen in den von ihr publizierten Empfehlungen ein besonderes Gewicht gibt. Den Herausgebern und Verantwortlichen solcher Leitlinien ist daher die Einhaltung eines besonders hohen Sorgfaltsmaßstabes abzuverlangen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Bewertung der wissenschaftlichen Evidenz hinzugezogener Quellen, insbesondere medizinisch-wissenschaftlicher Studien und Untersuchungsergebnisse.
5. Wettbewerbsrechtliche Unterlassungs- und Berichtigungsansprüche sind regelmäßig nicht gegeben, da mit den Äußerungen in NVL oder anderen medizinisch-wissenschaftlichen Leitlinien ein „geschäftliches Handeln zu Zwecken des Wettbewerbs“ nicht erkennbar ist. Damit fehlt es regelmäßig an einer tatbestandlichen Grundvoraussetzung für die Anwendung des Wettbewerbsrechts. Das Merkmal einer geschäftlichen Handlung erfordert ein Handeln, das bei objektiver Betrachtung darauf gerichtet ist, durch Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidungen der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer den Absatz oder Bezug zu fördern. Bei NVL oder anderen medizinisch-wissenschaftlichen Leitlinien geht es in erster Linie darum, den angesprochenen Fachkreisen eine Orientierungshilfe bei der Behandlung bestimmter Erkrankungen zu bieten und ihnen Optionen einer möglichst effektiven Therapie aufzuzeigen. Den Patienten soll im Rahmen von Patientenleitlinien in möglichst verständlicher Form eine Aufklärung über Behandlungsmöglichkeiten geboten werden. Angesichts dieses Ziels der Unterrichtung der beteiligten Fachkreise und der betroffenen Patienten lässt sich ein auf die Absatzförderung ausgerichteter Marktbezug des Handelns der Träger der Nationalen VersorgungsLeitlinien und der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften regelmäßig nicht erkennen.
6. Mit den nun vorliegenden gerichtlichen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Köln wird die auch von hiesiger Seite vertretene Auffassung bestätigt, dass Nationale VersorgungsLeitlinien und Leitlinien der einzelnen medizinischen-wissenschaftlichen Fachgesellschaften wegen ihrer originär wissenschaftlichen Zielsetzungen einer wettbewerbsrechtlichen Beurteilung entzogen und damit jedenfalls insoweit nicht justiziabel sind.
Dies gilt allerdings nicht für etwaige, vom jeweiligen Anspruchsteller nachzuweisende, unwahre Tatsachengrundlagen in Leitlinien, die zu Rechtsverletzungen der jeweiligen Anspruchsteller führen können. Soweit es dadurch – kausal – zu einer Kreditgefährdung, also einer Schädigung des Umsatzes oder des gewerblichen Fortkommens des jeweiligen Unternehmens kommt, sind auch Schadensersatzansprüche Dritter gegenüber den Trägern der NVL und den einzelnen medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften als Herausgeber der Leitlinien denkbar. Auch die einzelnen Autoren der Leitliniengruppen können als Urheber etwaiger unwahrer Tatsachengrundlagen in Leitlinien aufgrund fehlerhafter Inhalte auf Berichtigung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden. Insoweit sind eine sorgfältige Erarbeitung und ein sorgfältiges „wording“ bei der Erstellung von Leitlinien zwingend.
Allen Autoren und Herausgebern von Leitlinien sei angeraten, das sorgfältig erarbeitete und vom Landgericht und Oberlandesgericht Köln ausdrücklich in diesem Sinne bestätigte AWMF-Regelwerk Leitlinien bei der Erarbeitung und Verabschiedung von Leitlinien zu berücksichtigen. Soweit die dort enthaltenen Empfehlungen bei der Erarbeitung und Verbreitung von Leitlinien berücksichtigt werden (sog. Leitlinien für Leitlinien), können rechtliche Implikationen im Zusammenhang mit medizinisch-wissenschaftlichen Leitlinien wirksam vermieden werden.
Die Urteile des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Köln bekräftigen die Freiheit von medizinischer Wissenschaft und Forschung und den ungehinderten, unabhängigen wissenschaftlichen Diskurs unter den Beteiligten. Sie tragen damit auch den durch das Grundgesetz geschützten Rechtspositionen der Freiheit der medizinischen Wissenschaften und der Meinungsäußerungsfreiheit in besonderer Weise Rechnung.
(Landgericht Köln, Urteil vom 30.11.2011–28 O 523/11 –)
(Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 06.11.2012–15 U 221/11 –)