Aktuelle Neurologie 2013; 40(09): 515-517
DOI: 10.1055/s-0033-1349645
Aktueller Fall
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Infratentorielle Progressive Multifokale Leukenzephalopathie

Infratentorial Progressive Multifocal Leukoencephalopathy
S. Brown
1   Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinik Dresden
,
K. Engellandt
2   Institut und Poliklinik für Radiologische Diagnostik, Abteilung Neuroradiologie, Universitätsklinik Dresden
,
P. Spornraft-Ragaller
3   Klinik und Poliklinik für Dermatologie, Universitätsklinik Dresden
,
J. Schaefer
1   Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinik Dresden
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Korrespondenzadresse

Dr. Sebastian Brown
LWL Klinik
Friedrich-Wilhelm-Weber-Str. 30
48147 Münster

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. Oktober 2013 (online)

 

Zusammenfassung

Die Progressive Multifokale Leukenzephalopathie (PML), Ausdruck einer JC-Virus-Reaktivierung, ist vorrangig als supratentorielle Entzündung bei kompromittiertem Immunstatus bekannt. Als Folge der AIDS-Pandemie, jedoch auch neuer immunsuppressiver Therapien, haben Bedeutung und Verständnis dieser oft fatal verlaufenden Erkrankung erheblich zugenommen. Da eine etablierte spezifische Therapie fehlt, richtet sich die Behandlung in erster Linie auf eine Verbesserung des Immunstatus. Ein 49-jähriger HIV-positiver Patient entwickelte eine rasch progrediente Hemiataxie und Dysarthrie. Die Diagnose einer PML konnte mithilfe von MRT und JC-Virus-PCR im Liquor cerebrospinalis gesichert werden, interessanterweise mit anfangs ausschließlich zerebellärer Manifestation. Trotz kombinierter antiretroviraler Therapie verlief die Erkrankung innerhalb weniger Wochen letal. Dieser Fallbericht soll die Möglichkeit einer selektiv infratentoriellen Manifestation der PML unterstreichen.


Abstract

Progressive multifocal leukoencephalopathy (PML), manifestation of a JC virus reactivation, is mainly known as supratentorial inflammation due to immunosuppression. The importance and comprehension of this disease, that is terminal in many cases, has increased over the past years as a consequence of new possibilities of medical immunosuppression and as a consequence of the AIDS pandemia. Treatment mainly aims at improving the patient’s immunostatus as there is no established specific therapy to date. A 49-year-old HIV-positive man presented with rapid progressive hemiataxia and dysarthria. The diagnosis of PML could be made using magnetic resonance imaging and JC virus PCR testing of cerebrospinal fluid, interestingly first concerning the cerebellum only. In spite of combined antiretroviral medication the disease was lethal within a few weeks. This case report is intended to underline the possibility of a selectively infratentorial manifestation of PML.


Einleitung

Die Progressive Multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine rasch progrediente demyelinisierende ZNS-Erkrankung mit typischerweise asymmetrischem zerebralem Befallsmuster. Auslöser ist die Reaktivierung eines nach dem Patienten John Cunningham benannten und Gliazellen befallenden DNA-Polyomavirus, das mit 80 % eine hohe Durchseuchungsrate in der Allgemeinbevölkerung aufweist [1]. Für das Auftreten einer PML bedarf es in aller Regel einer relevanten Immunsuppression: in über 80 % tritt sie als AIDS-definierende Erkrankung auf, darüber hinaus nach immunsuppressiver Therapie, etwa im Rahmen der Therapie mit monoklonalen Antikörpern, oder bei hämatologischen Neoplasien. Das klinische Bild umfasst in der Regel ein progredientes Psychosyndrom in Verbindung mit fokalneurologischen Auffälligkeiten, vorrangig Mono- oder Hemiparesen und visuelle Störungen wie Hemianopsien. Aber auch Aphasien, Dysarthrien, Ataxien, Okulomotorikstörungen, sensible Defizite oder gar epileptische Anfälle können Ausdruck einer PML sein [2].


Kasuistik

Der 49-jährige Patient mit seit 19 Jahren bekannter HIV-Infektion stellte sich in gutem Allgemeinzustand aufgrund einer seit 4 Wochen bestehenden Koordinationsstörung vor. Neben einer Gangunsicherheit und einem lallenden Sprechen habe er eine „Kraftlosigkeit“ der rechten Hand bemerkt. Eine kombinierte antiretrovirale Therapie war frühzeitig im Krankheitsverlauf initiiert worden, sie umfasste zum Aufnahmezeitpunkt ein Salvage-Regime, bestehend aus Abacavir/Lamivudin, Lopinavir, Tenofovir, Saquinavir und Raltegravir. Vorangegangen waren 1996 eine Kryptokokkenmeningitis und 2003 eine atypische Mykobakteriose der Lunge mit Z. n. Lungenteilresektion als jeweils AIDS-definierende Erkrankungen. In den letzten Jahren bestanden erhebliche Compliance-Probleme hinsichtlich der Therapie. Trotz langfristig stark erniedrigter CD4+-Zellzahlen (< 50 /µl) und hoher HIV-Viruslast (> 100 000 Kop./ml) bei Resistenzen gegen nahezu alle verfügbaren antiretroviralen Medikamente konnte der Patient von einem etwa 5 Jahre anhaltenden stabilen Gesundheitszustand berichten. Die neurologische Aufnahmeuntersuchung wies eine rechtsseitige Hemiataxie mit dysmetrischen Zeigeversuchen und Bradydysdiadochokinese auf, darüber hinaus eine Rumpfataxie, ein breitbasig-ataktisches Gangbild, eine moderat ausgeprägte Dysarthrie und eine Okulomotorikstörung mit sakkadierter Blickfolge. In der kranialen MRT zeigte sich eine an den Kleinhirnbrückenwinkel angrenzende Marklagerschädigung der rechten Kleinhirnhemisphäre ([Abb. 1]). Den Charakteristika einer PML folgend zeigte sich die Läsion T1-hypointens, T2-hyperintens und weder deutlich raumfordernd, ödematös verändert noch gadoliniumhaltiges Kontrastmittel aufnehmend. Anschließende Liquordiagnostik bestätigte die Verdachtsdiagnose durch eine stark positive JC-Virus-DNA PCR (2,4 Mio. Kopien/ml), während sowohl die Liquorzellzahl (1 Zelle/µl) wie auch weitere Erregerdiagnostik negativ ausfielen (Liquor: HSV-, VZV-, CMV-, HHV-6-, -8-, Enterovirus-, Toxoplasma-PCR; Kryptokokken-Antigen, Borrelien-IgG, -IgM, TPPA; Serum: Borrelien-IgG, -IgM, FSME, Mumps-, Masern-, Röteln-Serologie, TPHA). Die CD4+-Zellzahl war massiv erniedrigt (7/µl, Normbereich 450 – 2000/µl). Andere auffallende Laborwerte betrafen IgE (Hyperimmunglobulinämie, 8402 kU/l), Differenzialblutbild (Eosinophilie, 1,35 G/l) und erhöhte Leichtketten im Serum (Kappa-Leichtketten 53 mg/l, Lambda-Leichtketten 58 mg/l). Während des stationären Aufenthalts wurde die antiretrovirale Therapie kontrolliert verabreicht und ein Therapieversuch mit Mirtazapin unternommen. Dennoch entwickelte der Krankheitsverlauf eine rasche Progredienz mit Verlust der Gehfähigkeit und Dysästhesien im rechten Trigeminusareal, was sich MR-morphologisch in einer ausgedehnteren, auch den Hirnstamm einbeziehenden, Läsion widerspiegelte ([Abb. 2]). Der Patient verstarb nach Entwicklung einer Dysphagie und zentraler Atemlähmung, 10 Wochen nach Symptombeginn.

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Abb. 1  a, b) cMRT mit T2-Hyperintensität im Marklager der rechten Kleinhirnhemisphäre und Kleinhirnstiel, Nucleus dentatus sowie die Kleinhirnrinde aussparend. Die Läsion zeigt sich überwiegend homogen mit allenfalls geringer raumfordernder Wirkung. c) Signalhypointensität in T1-Wichtung ohne Kontrastmittelenhancement.
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Abb. 2a – c) Verlaufskontrolle 2 Wochen nach oben stehender Bildgebung. Es zeigt sich eine Progression in den mittleren und oberen Kleinhirnstiel rechts bis zum lateralen Anteil des Tegmentum pontis.

Diskussion

Dargestellt ist der Fall eines HIV-positiven Patienten mit zunächst subtiler, dann rasch progredienter Hemiataxie, die im Verlauf von einem Hirnstammsyndrom begleitet wurde und letal endete. Auch ohne eine Hirnbiopsie ließ sich die Diagnose einer PML sichern, vorrangig anhand der stark positiven JC-Virus-PCR im Liquor. Differenzialdiagnosen hatten im Anfangsstadium neben Ursachen erworbener Ataxien auch psychiatrische Krankheitsbilder [3] umfasst. Nach bildgebender Diagnostik verblieben vorrangig Infektionen und ZNS-Lymphome: Andere Erreger opportunistischer ZNS-Infektionen hatten sich nicht nachweisen lassen. ZNS-Lymphome finden sich zwar gehäuft bei HIV-positiven Patienten, und erhöhte freie Leichtketten im Serum können hier als zusätzlicher Risikofaktor interpretiert werden [4], auf der anderen Seite sprach im MRT die fehlende Kontrastmittelanreicherung gegen diese Diagnose. Neben einer PML sind andere JC-Virus-assoziierte Erkrankungen zu bedenken. Das JC-Virus ist seit jüngeren Veröffentlichungen für eine Neurono- und Enzephalopathie verantwortlich gemacht worden [5]. Letztere ist als Erkrankung der grauen Substanz beschrieben worden. Erstere kann bei einer PML begleitend auftreten und äußert sich durch Befall der Körnerzellen ebenfalls als zerebelläres Syndrom, jedoch zusätzlich in einer, in diesem Fall fehlenden, Kleinhirnatrophie. Eine Differenzialdiagnose im Krankheitsverlauf stellt das Immune Reconstitution Inflammatory Syndrom (IRIS) dar, eine Entzündungsreaktion, die mit Wiedererlangen der Immunkompetenz auftreten kann. Im Falle von AIDS kann IRIS die Erklärung einer paradox erscheinenden Symptomzunahme nach Beginn erfolgreicher antiretroviraler Therapie sein. Befunde, die ein IRIS im Verlauf unterstützt hätten, fehlten jedoch, insbesondere eine steigende CD4+-Zellzahl oder Kontrastmittelaufnahme der Läsion, zumal bei multiresistentem HI-Virus von einem nunmehr kompletten Therapieversagen auszugehen war.

Der infratentorielle Befall wirft Fragen nach Ursachen des Verteilungsmusters auf. Ein fundiertes Erklärungsmodell ist unseres Wissens nicht bekannt. Dass die Ursache der Immunsuppression einen Einfluss ausübt, scheint möglich, so sind nach AIDS-assoziierter PML zerebelläre und Hirnstammsymptome, unter Natalizumab frontale Läsionen anteilig häufiger aufgetreten [2].

Die Wiederherstellung der Immunkompetenz, im geschilderten Fall erreichbar durch antiretrovirale Therapie, ist die einzig nachgewiesen wirksame Therapie, auch wenn für Cidofovir, Mefloquin oder Mirtazapin positive Einzelfallberichte vorliegen [6] [7] [8]. Die hohe Kopienanzahl im Liquor und die extrem niedrige CD4+-Zellzahl, hier unter Umständen auch Ursache einer adaptiven Hyperimmunglobulinämie und Eosinophilie, stellten jedoch einen prognostisch ungünstigen Faktor dar [8]. Tritt die PML nicht im Rahmen von AIDS auf, stehen grundsätzlich andere Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, so im Falle von Immunsuppressiva eine Entfernung des Medikaments mittels Plasmapherese oder Immunadsorption, wie für den α4-Integrin-Antikörper Natalizumab empfohlen [9]. Auf den CD19-Antikörper Rituximab ist dies nicht ohne Weiteres übertragbar, dessen Wirkung, die Reduktion spezifischer B-Zellen, die Elimination des Antikörpers überdauert. Hier wird die Möglichkeit einer Knochenmarksstimulation diskutiert. Neben oben genannten sind auch Fälle einer PML im Zusammenhang mit der Gabe von Efalizumab, Mycophenolat-Mofetil, Methotrexat oder Leflunomid beschrieben [10] [11].

Fazit für die Praxis

Bemerkenswert am geschilderten Fall ist die ausschließlich infratentorielle Manifestation der PML, eines Krankheitsbilds, das mit der AIDS-Pandemie und der Einführung neuer Immunsuppressiva erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Nur vereinzelte Fallberichte von infratentoriellem oder gar spinalem Befall sind bekannt, auch wenn 5 – 10 % der an AIDS Leidenden eine PML entwickeln [1] [2] [12] [13] [14] [15]. Dass entgegen früherer Auffassung eine PML auch bei rein infratentoriellen Läsionen differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen ist, soll dieser Fallbericht verdeutlichen.



Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Sebastian Brown
LWL Klinik
Friedrich-Wilhelm-Weber-Str. 30
48147 Münster


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Abb. 1  a, b) cMRT mit T2-Hyperintensität im Marklager der rechten Kleinhirnhemisphäre und Kleinhirnstiel, Nucleus dentatus sowie die Kleinhirnrinde aussparend. Die Läsion zeigt sich überwiegend homogen mit allenfalls geringer raumfordernder Wirkung. c) Signalhypointensität in T1-Wichtung ohne Kontrastmittelenhancement.
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Abb. 2a – c) Verlaufskontrolle 2 Wochen nach oben stehender Bildgebung. Es zeigt sich eine Progression in den mittleren und oberen Kleinhirnstiel rechts bis zum lateralen Anteil des Tegmentum pontis.