PPH 2013; 19(04): 178
DOI: 10.1055/s-0033-1351358
Szene
Brunos Welt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

…wahnsinnig gesund

Bruno Hemkendreis
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Publication Date:
24 July 2013 (online)

Ist der aktuelle Fitness- und Gesundheitstrend eine Erkrankung, die sich pandemieartig über den Erdball ausbreitet, oder handelt es sich um eine neue, Konfessionen und Kulturen übergreifende Religion? Für beide Vermutungen gibt es Hinweise.

Für die Wahntheorie spricht, dass die wachsende Gruppe der Gesundheitsfanatiker überall Gifte, Bakterien, Viren oder Strahlungen vermutet. Kennen Sie nicht auch den ökologisch korrekten Tischnachbarn, der Ihnen beim leckeren Essen im Detail erklärt, welche schrecklichen Dinge sich in Ihrem Essen befinden könnten? Sollten Sie noch immer mit Appetit essen, erklärt er, wie viel Trinkwasser für die Produktion Ihres Schnitzels vergeudet wurde; nebenbei, er trage übrigens nur Baumwolle. Die typische selektive Wahrnehmung – man vergegenwärtige sich den Wasserverbrauch bei der Baumwollverarbeitung – eines isolierten Wahns, der sich zunehmend auf kollektiv vereinbarte Feinde verständigt und andere Faktoren ausblendet.

Eines der beliebtesten Feindbilder sind Raucher, die mittlerweile weltweit in alter Jahrmarktstradition in Glaskästen oder gelb markierten Vierecken an den Pranger gestellt werden. Da sie zukünftig so effizient aus allen öffentlichen Gebäuden verbannt sein werden, dass sie anderen nicht mehr schaden können, sollen sie nun mit Horrorbildern auf Zigarettenschachteln pädagogisch beeinflusst werden. Logisch wären dann auch abschreckende Bilder auf Zucker, Schnapsflaschen, Autos oder Flugtickets, da die Welt voller versteckter Gefahren scheint, vor denen die Dummen gewarnt werden müssen. Für die pandemieartige Verbreitung spricht beispielsweise ein Rauchverbot auf Fußgängerbrücken über extrem stark befahrenen Straßen in Manila, einer Stadt, in der die Luftverschmutzung den Grenzwert der Welthandelsorganisation (WTO) um das Dreifache überschreitet. Über eine solche Brücke zu gehen und sich das Rauchverbot zu vergegenwärtigen, ähnelt der Forderung, während einer Schießerei auf rückenschonende Haltung zu achten. Es drängt sich der Gedanke auf: Das ist krank – psychisch.

Für (körperliche) Gesundheit als Ersatzreligion sprechen ebenso viele Faktoren. Vor allem die damit verbundene Moralität, die die Werte der traditionellen Religion verdrängt. Fahrradfahren ohne Helm und dabei noch einen Hamburger essen oder gar rauchen, kann heute Reaktionen provozieren, wie außerehelicher Sexualkontakt vor einigen Jahrzehnten. Zwar wird die Freiheit des Individuums noch proklamiert, doch lassen sich gute Argumentationen finden, weshalb diese zum Wohle der Allgemeinheit beschnitten werden muss.

Beispielsweise, weil die Solidargemeinschaft dafür aufkommen muss, wenn ein Individuum sich unvernünftig verhält und krank wird. Hier wird die Gesundheit über die Freiheit gestellt und rückt in gefährliche Nähe zu religiösem Dogmatismus. Nichts, was ich tue, bleibt ohne Auswirkungen auf die Allgemeinheit, und eröffnet für die selbsternannten Moralapostel die Möglichkeit, alles zu kontrollieren. Sie sitzen neben mir am Tisch und erheben den Zeigefinger wegen meines Schnitzels, sitzen in Ministerien und erlassen Gesetze, die die Freiheit des Einzelnen massiv einschränken, selektiv natürlich, nur wenn viele Sittenwächter Beifall klatschen. Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen hat das wenig zu tun, sonst würden wichtige, evidente Änderungen im Staats- und Gesundheitswesen mit gleicher Vehemenz umgesetzt. Hier schleicht sich etwas ein, was an religiösen Fundamentalismus erinnert: Eine Moral, die weiß, was richtig und was Sünde ist. Der Schritt dahin, Sünden zu bestrafen, ist klein.

Auf der Strecke bleibt dabei die seelische Gesundheit, weil sie sehr viel mit persönlicher Freiheit und Entfaltung zu tun hat. Mit Möglichkeiten, aus Fehlern zu lernen, mal unvernünftig sein zu dürfen und Grenzen auszutesten. Ich bin mir nicht sicher, was erstrebenswerter ist: In guter psychischer Gesundheit körperlich zu erkranken oder bei bester körperlicher Verfassung verrückt zu werden. Ich bin mir allerdings sicher, dass ich in dieser Frage weder von meinem Tischnachbarn (dem mit dem Schnitzel) noch vom Staat bevormundet werden möchte.

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