Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2013; 20(05): 215-217
DOI: 10.1055/s-0033-1357340
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Beiträge zur deutschen Fleckfieberforschung – Hilda Sikora – Die Unsichtbare

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. Oktober 2013 (online)

 

Die Geschichte des Fleckfiebers wird gerne entlang der Biografie bedeutender Forscher und ihren akademischen Meriten oder der Bedeutung als Kriegsseuche erzählt. Dieser Artikel wählt eine andere Perspektive: Er beleuchtet die Beiträge einer unkonventionellen Frau, der Zeichnerin und Biologin Hilda Sikora (1889–1974), die aus der üblichen Perspektive unsichtbar bleiben. Anhand ihrer Arbeiten können die Querbezüge zur Tropenmedizin und die Nahtstelle zwischen Biologie und Medizin eindrucksvoll verdeutlich und dabei zugleich der Genderaspekt innerhalb der Krankheitserforschung berücksichtigt werden.

Vorgeschichte

Fleckfieber, heute eher eine exotische Infektionskrankheit, galt noch im 19. und 20. Jahrhundert in Europa als Kriegsseuche und wurde auch als Kriegstyphus oder -pest bezeichnet. Der Übertragungsweg über die Kleiderlaus wurde erstmals während des 1. Weltkriegs von 2 Mitarbeitern des Hamburger Tropeninstituts nachgewiesen, die beide keinen deutschen Pass besaßen. Der aus Böhmen stammende Stanislaus von Prowazek identifizierte gemeinsam mit seinem aus Brasilien stammenden Kollegen Henrique da Rocha Lima die Laus als Vektor für diese Krankheit. Beide ermutigten die junge Hilda Sikora, über die Biologie der Laus zu arbeiten.

Sikora, 1889 in Antananarivo, Madagaskar, als Tochter des österreichischen Sammlers und Naturalisten Franz Sikora geboren, kam im August 1914 aufgrund ihrer fundierten biologischen Kenntnisse und ihrer zeichnerischen Fähigkeiten ans Hamburger Tropeninstitut. Bereits 1916 veröffentlichte sie eine längere Monografie zur Anatomie, Physiologie und Biologie der Kleiderlaus, in der sie sich dezidiert mit deren zur Kopflaus unterschiedlichen Lebensweise auseinandersetzte. Ihre Zeichnungen waren detailliert, lehrreich und zugleich ästhetisch ansprechend (Abb. [ 1 ]). Zwar hat es den Anschein, als handele es sich bei dieser Publikation um eine Qualifikationsarbeit analog einer Dissertation, doch erhielt Sikora zeitlebens keinen akademischen Grad.

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Abb. 1 Anatomie der Kleiderlaus.
Quelle: Sikora H. Beiträge zur Anatomie, Physiologie und Biologie der Kleiderlaus (Pediculus vestimenti Nietzsche). Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene Bd. 20, 1916; Beiheft 1, beigefügte Tafel (Ausschnitte)
Mit freundlicher Genehmigung des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin, Hamburg

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Zwischenzeit

Bis 1925 wirkte Sikora am Hamburger Tropeninstitut und entwickelte ein Verfahren, wie die Rickettsien, die Erreger des Fleckfiebers in Kleiderläusen, die am Menschen gefüttert werden, gezüchtet werden konnten. Denn in Petrischalen überlebten sie nicht. Diese Arbeiten waren maßgeblich und grundlegend für die Entwicklung des Fleckfieberimpfstoffs nach der Weigl-Methode. Die nach dem polnischen Biologen Rudolf Weigl (1883–1957) benannte Methode bestand in einem zeit- und untersuchungsaufwendigen Verfahren, in dem Kleiderläuse über den Darm mit Fleckfieber infiziert wurden und diese Därme dann präpariert und zu Impfstoff verarbeitet wurden.

Sikora gebührt der Verdienst, wichtige Vorarbeiten im Rahmen der Impfstoffgewinnung aus Läusedärmen geleistet zu haben [ 1 ]. In diesem Verfahren werden die Läuse mithilfe feinster Kapillargefäße über den Darm infiziert. Als Infektionsmaterial diente das zerriebene und aufgeschwemmte Gehirn eines Meerschweinchens, welches mit Blut eines fleckfieberkranken Menschen infiziert worden war. Die infizierten Läusedärme wurden wiederum zur Infektion der Meerschweinchen genutzt, um so die Passage aufrechtzuerhalten [ 2 ]. Die anal angesteckten Läuse wurden bis zum Ausbruch der Infektion an Menschen gefüttert. Dafür wurden fleckfieberimmune Menschen benötigt. In Deutschland war diese Prozedur kaum durchführbar, weil nur sehr wenige Fleckfieberrekonvaleszente für die Fütterung der rickettsieninfizierten Läuse zur Verfügung standen. Sikora war jedoch eine davon. Sie hatte sich während ihrer Forschung unbeabsichtigt mit Fleckfieber infiziert und behielt neben der lebenslangen Immunität eine bleibende Herzschwäche zurück.

Sikora verbesserte die von Weigl empfohlenen Läusekäfige (Abb. [ 2 ]). Zunächst fertigte sie aus Streichholzschachteln kleine Käfige, die – am Arm getragen und an der diesem zugekehrten Seite mit Gaze versehen – den Läusen jederzeit die gewohnten Lebensbedingungen boten und genaue Beobachtungen ermöglichten. Die von Sikora sehr bald technisch vervollkommneten Käfige wurden später allgemein für Läusezuchten verwendet (Abb. [ 3 ]).

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Abb. 2 Läusekäfige nach Weigl.
Quelle: Sikora H. Meine Erfahrungen bei der Läusezucht. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 1944; 541–559; Abb. 1: 542
With kind permission of Springer Science+Business Media
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Abb. 3 Aus dem Fotoarchiv von Albin Nestler: Hilda Sikora (rechts) umgeben von Dr. Rolf Korkhaus, Lola Schmidt und Dr. Koncek vor dem Institut für Parasitenkunde und veterinärmedizinische Zoologie der Tierärztlichen Hochschule Berlin.
Quelle: Anonymus. Hilda Sikora 80 Jahre alt. Angewandte Parasitologie 11, 1970; 63
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Abb. 4 Zeitungslesende Läusefütterin.
Quelle: Behring-Archiv der Emil-von-Behring-Bibliothek für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Marburg.

Sikora galt als eigenwillig, nonkonformistisch und sehr tierlieb. Ihre unkonventionelle Erscheinungsform ließ sie nicht selten anecken. So beschreibt Erich Martini in seiner Biografie über Bernhard Nocht folgende Situation: "Fräulein Sikora hatte eine besondere Vorliebe für Schlangen und Katzen. Lange Zeit trug sie ständig eine junge Schlange in der Brusttasche ihres weißen Kittels, damit das kleine Wesen es recht schön warm habe. Unterhielt sie sich, so sah man sich manchmal plötzlich einem züngelnden Schlangenkopf gegenüber, und das hatte einen Kursisten, der im Lesezimmer ihr gegenüber gelesen hatte, so entsetzt, dass er sie beim Chef verklagte" [ 3 ].

Sikora musste aufgrund dieses Ereignisses und ihrer für das Institut vorgeblich nicht mehr haltbaren Tierliebe – in ihrem Dienstzimmer beherbergte sie bis zu 7 Katzen – das Hamburger Tropeninstitut 1925 verlassen. Victor Schilling, der während des 1. Weltkriegs als Militärarzt dorthin abkommandiert war, nahm sie in seiner Abteilung für Innere Medizin der Charité in Berlin unter seine Fittiche.


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2. Weltkrieg

Der am Hamburger Tropeninstitut bereits 1924 mit einer Venia Legendi für Tropenmedizin ausgestattete Hygieniker Heinz Zeiss leitete ab 1933 das Berliner Hygiene-Institut [ 4 ]. Zuvor war er in Moskau als Abteilungsleiter am Tarassewitsch-Institut für experimentelle Therapie und Serumkontrolle tätig gewesen. 1935 holte er Sikora an sein Institut für die Durchführung "Experimenteller Untersuchungen an Fleckfieber-Impfstoffen", die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurden.

In ihren Arbeiten wollte Sikora gemeinsam mit Zeiss ein Referenzinsekt aus der Klasse der Arthropoden finden, um eine einfachere und billigere Form der Impfstoffproduktion zu entwickeln. Zeiss ergänzte argumentativ, dass es für ein zivilisiertes Land unschicklich sei, größere Mengen an Läusen zu züchten. Sikora führte also Grundlagenstudien durch und veröffentlichte diese in einschlägigen Fachzeitschriften [ 5 ].


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Nachkriegszeit

Trotz ihrer Leistungen und einer eindrücklicher Publikationsliste gelang es Sikora nach Ende des Krieges nicht, eine gesicherte Stellung zu finden. Der Institutsleiter Zeiss, der während des Krieges unter anderem militärische Gutachten über die Fleckfiebergefahr im Osten erstellte, wurde zu Ende des Krieges gefangengenommen. Er war doppelt verdächtig: Zeiss wurde eine Spionagetätigkeit während seines langen Russlandaufenthalts zwischen 1921 und 1931 vorgeworfen. Hinzu kam die Anschuldigung, er hätte einen bakteriologischen Krieg gegen die Sowjetunion geplant. Geschwächt von einer Parkinsonerkrankung, starb er im März 1949 im Gefängnishospital von Vladimir.

Für Hilda Sikora konnte er nichts mehr tun.

Als lediges Fräulein ohne akademischen Abschluss war sie auf die Protektion von Institutsleitern oder Professoren angewiesen. Auch Victor Schilling, 1941 zum Ordinarius und Leiter der Inneren Klinik der Universität Rostock berufen, konnte für sie, die im Westen geblieben war, nichts erreichen.

In ihrer Personalakte vom Hamburger Tropeninstitut finden sich Fragmente einer weitreichenden Korrespondenz, die sie ab Herbst 1956 geführt hatte, um ihre zu geringe Rente aufzubessern. Im 68. Lebensjahr stehend versuchte sie, von Ordinarien und Institutsdirektoren Gutachten und Zeugnisse über ihre wissenschaftlichen Leistungen zu erlangen. Sie schrieb an Ernst Georg Nauck und Ernst Rodenwaldt, schickte Briefe nach Brasilien an da Rocha Lima. Insbesondere der Bonner Ordinarius Rudolf Lehmensick setzte sich für eine Rentenerhöhung ein. Nachdem sie mehrere Jahre in einer Schrebergartenkolonie gelebt hatte, korrespondierte sie aus dem Altersheim der Heilsarmee in Berlin-Schöneberg [ 6 ]. Ihren 80. Geburtstag erlebte sie in Wien, wohin sie auf verschlungenen Wegen gelangt war.

Obwohl sie über 30 Jahre mit berühmten Fleckfieberforschern und Entomologen, die sowohl aus der Biologie, der Medizin und der Hygiene kamen, zusammengearbeitet hatte, war es ihr nicht gelungen, eine dauerhafte Stellung zu finden, in der sie sich für das Alter absichern konnte. Für diese ledige, nonkonformistische Frau, die mit Blick fürs Detail, wachen Augen und regem Geist ihre Umwelt betrachtete und kommentierte, gab es keinen Platz in der Akademia.

Dr. Marion A. Hulverscheidt, Kassel


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  • Literatur

  • 1 Weidner H. Geschichte der Entomologie in Hamburg. Abh. Verh. Naturwiss. Ver. Hamburg (NF) 9; 1967; Suppl. 1-387
  • 2 Werther T. Fleckfieberforschung im Deutschen Reich 1914–1945. Untersuchungen zur Beziehung zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik unter besonderer Berücksichtigung der IG Farben. Diss. Marburg: 2004
  • 3 Martini E. Bernhard Nocht: Ein Lebensbild. Hamburg: Bernhard Nocht-Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten; 1957: 158
  • 4 Hahn J, Gaida U, Hulverscheidt M. 125 Jahre Hygiene-Institute an Berliner Universitäten – Eine Festschrift. Berlin: 2010 Im Internet: www.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc05/hygiene/Brosch_Hygiene_VS.pdf
  • 5 Lindemann J. Women Scientist in Typhus Research During the First Half of the Twentieth Century. Gesnerus 2005; 257-272
  • 6 Bernhard-Nocht-Institut Archiv 2-136

  • Literatur

  • 1 Weidner H. Geschichte der Entomologie in Hamburg. Abh. Verh. Naturwiss. Ver. Hamburg (NF) 9; 1967; Suppl. 1-387
  • 2 Werther T. Fleckfieberforschung im Deutschen Reich 1914–1945. Untersuchungen zur Beziehung zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik unter besonderer Berücksichtigung der IG Farben. Diss. Marburg: 2004
  • 3 Martini E. Bernhard Nocht: Ein Lebensbild. Hamburg: Bernhard Nocht-Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten; 1957: 158
  • 4 Hahn J, Gaida U, Hulverscheidt M. 125 Jahre Hygiene-Institute an Berliner Universitäten – Eine Festschrift. Berlin: 2010 Im Internet: www.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc05/hygiene/Brosch_Hygiene_VS.pdf
  • 5 Lindemann J. Women Scientist in Typhus Research During the First Half of the Twentieth Century. Gesnerus 2005; 257-272
  • 6 Bernhard-Nocht-Institut Archiv 2-136

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Abb. 1 Anatomie der Kleiderlaus.
Quelle: Sikora H. Beiträge zur Anatomie, Physiologie und Biologie der Kleiderlaus (Pediculus vestimenti Nietzsche). Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene Bd. 20, 1916; Beiheft 1, beigefügte Tafel (Ausschnitte)
Mit freundlicher Genehmigung des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin, Hamburg
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Abb. 2 Läusekäfige nach Weigl.
Quelle: Sikora H. Meine Erfahrungen bei der Läusezucht. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 1944; 541–559; Abb. 1: 542
With kind permission of Springer Science+Business Media
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Abb. 3 Aus dem Fotoarchiv von Albin Nestler: Hilda Sikora (rechts) umgeben von Dr. Rolf Korkhaus, Lola Schmidt und Dr. Koncek vor dem Institut für Parasitenkunde und veterinärmedizinische Zoologie der Tierärztlichen Hochschule Berlin.
Quelle: Anonymus. Hilda Sikora 80 Jahre alt. Angewandte Parasitologie 11, 1970; 63
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Abb. 4 Zeitungslesende Läusefütterin.
Quelle: Behring-Archiv der Emil-von-Behring-Bibliothek für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Marburg.