PPH 2013; 19(06): 338-339
DOI: 10.1055/s-0033-1360809
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Für Sie gelesen: aktuelle Pflegeliteratur zum Thema
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939-1945

Rezensent(en):
Michael Seidel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
19. November 2013 (online)

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(Foto: S. Fischer Verlag)

Das neueste Buch von Götz Aly muss man gelesen haben, wenn man die Hintergründe und Zusammenhänge der sogenannten Euthanasieaktion, also des hunderttausendfachen Mordes an psychisch kranken oder behinderten Menschen in der NS-Zeit, verstehen will. Erst recht muss man das Buch gelesen haben, wenn man beruflich mit Menschen mit Behinderungen oder mit Menschen mit psychischen Krankheiten zu tun hat beziehungsweise sich in Ausbildung oder Studium darauf vorbereitet.

Neben all den vielen wichtigen Details der Darstellung, die hier gar nicht angemessen ausgebreitet werden können, bleiben die Belege für drei erschreckende zentrale Erkenntnisse haften.

Erstens: Keinesfalls haben die Nazis die medizinische Wissenschaft, Ärzte und Krankenpflegekräfte zwingen müssen, ihren Patienten – also den ihnen anvertrauten Menschen – Leid und Schmerz und schließlich den Tod zuzufügen. Vielmehr haben die Nazis vielen Wissenschaftlern, Ärzten und Krankenpflegern einfach nur die Gelegenheit eröffnet, vor allem die ideologische Legitimation und organisatorische Unterstützung dazu gegeben, ohne jede menschliche Rücksicht – und unter Verkehrung aller berufsethischen Prämissen ins Gegenteil – psychisch kranke und behinderte Menschen dem wissenschaftlichen Interesse zu opfern oder sie als unnütze Esser, als Belastung der Gemeinschaft umzubringen. Nazi musste man, wie gezeigt wird, gar nicht sein, um sich an Verbrechen gegen kranke und behinderte Menschen zu beteiligen.

Zweitens: Angehörige von Menschen mit psychischen Krankheiten oder Behinderungen hatten zumeist die Möglichkeit, diese vor der Ermordung zu retten, wenn sie es nur wollten. Nur ein Teil der Angehörigen hat es getan, viele haben durch Schweigen oder Signale des stillschweigenden Einvernehmens den Mord geschehen lassen und sich selbst eine Last vom Hals geschafft.

Drittens: Die meisten Menschen in Deutschland haben unter ihren älteren näheren oder weiteren Verwandten jemanden, der den zentralen oder dezentralen Mordaktionen in der Nazizeit zum Opfer fiel. Die meisten Menschen könnten in ihrer Verwandtschaft aber auch Angehörige finden, die das Furchtbare haben geschehen lassen. Auch diese verschwiegene Mitschuld von Familien ist eine Last.

So endet das Buch folgerichtig mit den Sätzen: „Wer die Aktion T4 allein als Verbrechen ,der Nationalsozialisten‘ oder ,der Täter‘ begreift, verschließt die Ohren vor den Botschaften der Ermordeten. Die Opfer der Euthanasie galten vielen als Last. Sie starben gewaltsam und von aller Welt verlassen.“

Götz Aly, einer breiten Öffentlichkeit als Historiker und Publizist bekannt, legte in den letzten Jahrzehnten viele Veröffentlichungen zur Geschichte der T4-Aktion, zur sogenannten Euthanasie und zur Gesellschaftsgeschichte in der NS-Zeit vor. Darin ist er nicht der einzige. Aber er wendet sich von sehr unterschiedlichen Perspektiven – und hier sucht er wohl seinesgleichen – der im Rückblick so erstaunlich effektiven Kollaboration von Tätern und einer Mehrheit in der Gesellschaft, als Nutznießer der Verbrechen, zu.

Aus diesem Zusammenhang heraus wird besser verständlich, warum die Ermordung mehrerer hunderttausend psychisch kranker und behinderter Menschen auf erschreckend wenig Widerstand in der Bevölkerung traf (und lange verdrängt blieb in Öffentlichkeit und Fachwelt). Wenn es überhaupt maßgeblichen Widerstand gab, kam er aus dem kirchlichen Milieu.

Götz Aly schließt mit der Veröffentlichung dieses Buches nach eigenem Bekunden eine mehr als dreißigjährige Arbeit ab. Wiederholt bezieht er sich im Text darauf, dass er Vater einer heute erwachsenen behinderten Tochter ist. Man spürt vor diesem Hintergrund umso deutlicher, dass das Buch – und überhaupt das Forschungsthema des Autors – seine Entstehung nicht nur wissenschaftlichem Interesse oder dem Zeitgeist verdankt, sondern auch aus der persönlichen Auseinandersetzung mit Lebenswert und Lebensrecht behinderter und psychisch kranker Menschen seine Authentizität bezieht. Der Autor lässt keinen Zweifel, dass aus seiner Sicht behindertes menschliches Leben unverfügbar ist. Somit trägt das Buch eine fundierte Position für aktuelle ethische Diskussionen bei.

Wie schon angedeutet, die Komplexität des Themas und seine sehr umfassende Darstellung im vorliegenden Buch machen eine annähernd ausgewogene Darstellung der Inhalte im Rahmen einer Buchbesprechung unmöglich. Es mag genügen, die Mehrdeutigkeit des Titels „Die Belasteten“ in Anspruch zu nehmen. Im Begriff der Belasteten klingen natürlich die Täter an, aber auch moralisch und wirtschaftlich überforderte oder sich überfordert fühlende Angehörige, ferner die Menschen, gegen die als Belastendes vorgebracht wurde, dass sie dem idealen Bild des arbeitsamen, leistungsbereiten Volksgenossen nicht entsprechen, erst recht, dass sie nutzlose Kostgänger der Gemeinschaft seien. Im Begriff der Belasteten scheint auch auf, dass diese Menschen zum Nachteil der als heilbar Angesehenen, als eine Last für die Ärzte, für die Krankenpflegekräfte und für die Gesellschaft ohnehin gesehen wurden. Und als Belastete darf man auch die vielen Familien sehen, aus deren Reihen jemand ermordet wurde – und die oft bis heute den Mantel des Verschweigens darüber breiten.

Besonders zu würdigen ist das Bemühen des Autors, in langen Zitaten aus Briefen und Berichten immer wieder die Opfer selbst zu Wort kommen zu lassen. Auch nennt er die Opfer, um sie aus Vergessenheit und kollektivem Verschweigen herauszuholen, zumeist bei ihrem vollen Namen.

Das Buch arbeitet natürlich mit detaillierten Quellenbelegen – Literatur und Archivalien – seiner Aussagen, ohne dadurch an Lesbarkeit zu verlieren. Es stellt eine instruktive Literaturliste zur weiterführenden und vertiefenden Lektüre zur Verfügung. Bei aller erkennbaren persönlichen Beteiligung gelingt es Götz Aly, dem schwierigen Thema mit einer angenehmen Sachlichkeit – nicht Distanziertheit – zu begegnen. Ein klarer, flüssiger Stil hilft dem Leser, am Thema zu bleiben, was von der Sache her oft genug schwer fällt.

Prof. Dr. Michael Seidel