Suchttherapie 2014; 15(01): 45
DOI: 10.1055/s-0033-1363242
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Publication Date:
10 February 2014 (online)

Bitte kümmert Euch um den ICD-11-SuchtbegriffEin Appell an die Suchttherapeuten.

Bekanntlich hat die DGPPN am 27.2.2013 ex cathedra festgestellt: „Exzessives Verhalten, aber keine Verhaltenssüchte – Pathologisches Kaufen, Exzessives Sexualverhalten und Exzessives Essverhalten (…)“. Dies bedeutet praktisch, dass zumindest bis zur ICD-12 in vielleicht 20 Jahren diese Patientengruppen von der suchttherapeutischen Versorgung ausgeschlossen sind. Eigentlich entspricht dies nicht ärztlichem bzw. psycho- und soziotherapeutischem Berufs-Ethos.

Die Kaufsucht wurde bereits vor 100 Jahren in den Lehrbüchern der Psychiatrie von Bleuler und Kraepelin beschrieben, war bisher jedoch selten. Erst durch unsere derzeitige Konsum- und Eventkultur nahm sie in letzter Zeit erheblich an Häufigkeit zu (Scherhorn, Raab und Reisch 1988). Wer in therapeutischer Verantwortung und auf der Basis von umfangreichen suchttherapeutischen Erfahrungen kaufsüchtig gewordene Patienten erlebt hat, weiß, dass die DGPPN sich hier irrt.

Zum Thema Esssucht gibt es zahlreiche Veröffentlichungen. Bei PubMed erscheinen beim Stichwort „food addiction“ über 1 400 Hinweise. Beispiele: 2005 wies die prominente US-Suchtforscherin Nora Volkow in ihrem Artikel „How can drug addiction help us understand obesity?“ auf zahlreiche Parallelen von Drogenabhängigkeit und Adipositas hin. 2009 schrieben Kiefer & Grosshans: „Nahrungsaufnahme ist (…) auch vermittelt durch neuronale Prozesse, die durch die belohnenden, respektive positiv verstärkenden Eigenschaften von Nahrungsmitteln beeinflusst werden. (…)“. Bereits in dem dünnen Bändchen der ICD-8 (1971) findet sich unter Nr. 306.5 die Fresssucht. Oft liest man jetzt von der Adipositas-Epidemie; die Zahl der einschneidenden bariatrischen Operationen hat erheblich zugenommen…

1962 nannte der Eppendorfer Psychiatrie-Professor Giese, Spezialist für die Psychopathologie der Sexualität, als typische (Sex-)Sucht-Symptome: „Die zunehmende Zentrierung der Denk- und Vorstellungsräume in Richtung auf den angestrebten Erlebniszustand. – Die zunehmende Frequenz der zugehörigen Handlungsvollzüge bei abnehmender Triebbefriedigung. – Die dranghafte Unruhe und Unerwehrbarkeit in Richtung der Durchführung. – Das Auftreten körperlich-vegetativer Symptome bei Ausbleiben oder Verhinderung der abnormen Betätigung“. Mutatis mutandis bestehen diese Suchtsymptome bei allen Suchtformen, gleichgültig, ob „substanzgebunden“ oder nicht, bspw. bei der Nikotinabhängigkeit und bei der Glücksspielsucht.

Vor der ICD-10 waren wir in der Suchtpsychiatrie schon weiter: Damals galt für die Suchtexperten die Psychische Abhängigkeit als die eigentliche Sucht (vgl. Psychiatrie-Enquête von 1975); sie besteht sowohl bei den substanzgebundenen als auch bei den nicht substanzgebundenen Suchtformen; sie ist das eigentliche suchttherapeutische Problem und besteht jahrzehntelang, während die körperliche Abhängigkeit nach relativ kurzer Zeit abgeklungen ist. Bspw. schrieb der Psychiatrie-Professor Rasch (1986): „Sucht ist (…) eine psychopathologische Entwicklung. (…) Sucht ist unabhängig von ihrem Inhalt, insbesondere also auch unabhängig von einer physischen Bindung an eine bestimmte Substanz (…). Entscheidende Elemente sind die Einengung auf die Sucht und Verlust anderer Erlebnisfelder, soziale Ausgliederung, verändertes Realitätserleben und schließlich Zerstörung der sozialen Person. (…) Der Betreffende gleitet immer mehr in die Unverbindlichkeit ab, ursprünglich vorhandene ethische Maßstäbe gehen verloren. Nur noch die Befriedigung der Sucht zählt“.

Durch das ICD-10-Abhängigkeitssyndrom ist der Irrtum entstanden, es gäbe ausschließlich substanzgebundene Suchtformen. Suchtdiagnostische Erkenntnisse sind durch die ICD-10 verloren gegangen; vorher war der Suchtbegriff in der therapeutischen Praxis klarer, vor allem war er nicht auf Substanzkonsum festgelegt. Bspw. schrieb bereits 1975 der Psychiatrie-Professor Feuerlein, damals der in Deutschland anerkannteste Suchtspezialist: „Es gibt auch süchtiges Verhalten ohne Drogenkonsum, z. B. Spielsucht…“. Der Psychiatrie-Professor Bochnik schrieb 1980, dass „die Analyse der Suchtprobleme lange Zeit darunter gelitten hat, dass sie zu einseitig aus den Erfahrungen mit toxischen Süchten abgeleitet wurden“ und „dass das Wesen süchtiger Entwicklungen deutlicher an nichttoxischen Süchten zu studieren ist…“.

Wer in der ambulanten oder stationären Praxis Alkoholiker, Drogenabhängige, Spieler, Kaufsüchtige, Medikamentensüchtige usw. in der therapeutischen Begegnung (insbesondere in der gemeinsamen Gruppentherapie) kennen gelernt hat, weiß: die Hauptsymptome der Suchtformen sind diagnostisch im Wesentlichen identisch, die „Wahl“ des individuellen Suchtmittels ist weitgehend von äußeren Umständen abhängig (wenn Romeo und Julia in verschiedenen Städten gelebt hätten, hätten sie sich in andere Partner verliebt).

Sucht entsteht nicht direkt durch Konsum bestimmter Substanzen, sondern durch Emotionen („high“, „Kick“ u. a.), die durch Substanzen oder Erlebnisse (wie Glücksspielen) ausgelöst werden. Sucht i. S. von Psychischer Abhängigkeit ist ein intensiv erlerntes Denken und Verhalten, das immer schwerer wieder zu verlernen ist. Durch – möglichst krankenkassenfinanzierte – Sucht-Frühintervention lassen sich Sucht-Folgeschäden reduzieren oder vermeiden. Erforderlich dafür ist endlich ein klarer und praxistauglicher ICD-11-Suchtbegriff. Denn die derzeitige Sucht-Epidemie dauert jetzt seit fast 50 Jahren.