Missbrauch der Psychiatrie scheint auf den ersten Blick ein historisches und nichtwestliches
Thema zu sein. Historisch war der Missbrauch der Psychiatrie immer der Missbrauch
einer medizinischen Disziplin für staatliche Ordnungsinteressen. Die in beträchtlichem
Maße von philanthropischen Motiven und staatlichen Investitionen getragene Gründung
der psychiatrischen Anstalten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde schon von Anbeginn
von der Überlegung begleitet, dort auch störende und dissoziale Personen einer Einrichtung
der öffentlichen Ordnung zuweisen zu können.
Ob das Heilungs- oder das Ordnungsmotiv führend war, ist unter Psychiatriehistorikern
umstritten [1]
[2]
[3]. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannten sich führende Psychiater wie
Kraepelin offen dazu, dass die Anstaltsasylierung bei weitgehend fehlenden therapeutischen
Möglichkeiten den Betroffenen sogar schädlich sein könne, in erster Linie aber dazu
diene, sie von der Fortpflanzung abzuhalten [4]. Eine therapeutische Blüte erlebte die Psychiatrie nach den folterähnlichen Methoden
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst wieder mit der Militärpsychiatrie des
Ersten Weltkriegs, die den deutschen Psychiatern allerdings wegen ihrer Methoden und
ihrer Ziele den berühmt gewordenen Vorwurf von Sigmund Freund eintrug, sie seien die
„Maschinengewehre hinder der Front“ – die darauf abzielten, die Soldaten um jeden
Preis wieder „kriegsverwendungsfähig“ zu machen. Der bekannteste und schwerwiegendste
Missbrauch der Psychiatrie ereignete sich unter der NS-Diktatur, als führende Psychiater
zu Komplizen des Regimes wurden in der Zielsetzung, die Personengruppe der psychisch
Kranken systematisch erst von der Fortpflanzung auszuschließen und dann zu ermorden
und dabei Methoden der industriellen Massentötung zu entwickeln. Nach dem Zweiten
Weltkrieg ist ein Missbrauch der Psychiatrie insbesondere aus der Sowjetunion bekannt
geworden. In der DDR gab es historischen Erkenntnissen zufolge keinen systematischen
Missbrauch durch den Staat, wohl aber punktuelle Übergriffe etwa mit Verletzungen
der Schweigepflicht durch ärztliche Mitarbeiter im Dienste der Staatssicherheit [5].
Gibt es auch einen Missbrauch der Psychiatrie heute, in Mitteleuropa? Aus meinen beruflichen
Erfahrungen würde ich dies unbedingt bejahen und halte es, nicht zuletzt aus den genannten
historischen Gründen, für eine elementare Aufgabe unseres Berufs, dies zu benennen
und uns dagegen zu wehren. Um mit dem Harmlosesten anzufangen – es gibt einen Missbrauch
der Psychiatrie durch Patienten. Dass Menschen sich unter dem Vorwand von Suizidgedanken
in eine Klinik einweisen lassen und dort ein Attest begehren, dass sie an einer Gerichtsverhandlung
zwei Tage später nicht teilnehmen könnten, kommt vor. Auch, dass die Zuweisung in
eine psychiatrische Klinik dazu missbraucht wird, externalisierende Verhaltensextreme
jeder Art einmal ungezügelt auszuleben. Quantitativ ist dies, wie wir wissen, unbedeutend.
Dasselbe gilt für die Fälle eines Missbrauchs durch Angehörige, die die demenzkranke
Mutter in der Klinik abliefern und telefonisch nicht mehr erreichbar sind, weil sie
in Urlaub gefahren sind. Ärgerlicher, weil häufiger, sind schon die Fälle für den
diensthabenden Arzt, in denen psychisch auffällige Personen von Notfallambulanzen
ungeachtet ihrer akuten somatischen Beschwerden in die psychiatrische Klinik verlegt
werden – weil sie eben schon einmal dort waren, einmal Psychiatrie, immer Psychiatrie.
Oder die Fälle, in denen die Verlegung in die psychiatrische Klinik damit begründet
wird, der Patient sei auf einer somatischen Station „nicht führbar“, ungeachtet einer
diagnostischen Klärung und Indikationsstellung. Noch problematischer ist die vielerorts
bekannte Praxis der psychiatrischen Klinik als „Strafkolonie“ – Menschen aus Heimeinrichtungen
jeder Art werden bei Verhaltensauffälligkeiten (meist aggressiver Natur) de facto
aus disziplinarischen Gründen, oft sogar explizit so benannt, vorübergehend in eine
psychiatrische Klinik verlegt. Da soll die psychiatrische Klinik als Kurzzeitvollzugseinrichtung
für Menschen mit einer Behinderung dienen, unter Missbrauch ihrer Funktion zur Krankenbehandlung,
unter Berufung auf lange Traditionen und, zugegebenermaßen, bei oft wenig verfügbaren
Alternativen. Auch dass Psychiater und in psychiatrischen Einrichtungen Beschäftigte
die Psychiatrie missbrauchen, um unter dem Vorwand therapeutischer Notwendigkeiten,
in Wirklichkeit aus Motiven eigener Sicherheitsbedürfnisse oder Bequemlichkeiten,
Macht auszuüben, wo mehr Freiheit möglich wäre, kommt selbstverständlich vor.
All dies sind nicht die Fälle, die einen Psychiater bewegen, ein Editorial zu schreiben.
Dies sind vielmehr gesellschaftliche Phänomene, die beinhalten, dass Teile von Politik
und Öffentlichkeit einen Konsens gefunden haben, die Psychiatrie zu bestimmten Zwecken
missbrauchen zu wollen. Da ist zunächst einmal der Missbrauch der Psychiatrie (die,
wie man immer wieder einmal betonen muss, ein medizinisches Fachgebiet und keine Institution
ist, was aber im Sprachgebrauch merkwürdig verschwimmt) als Projektionsfläche für
Vorurteile. Diesen Missbrauch betreiben Journalisten ebenso wie Politiker ausgesprochen
gerne. Er reicht vom bekannten Missbrauch des Begriffs Schizophrenie als Metapher
[6] für alles, was widersprüchlich erscheint bis zu diffamierenden Äußerungen von Politikern
übereinander, so etwa CSU-Generalsekretär Scheuer im März 2014 über den ehemaligen
SPD-Kollegen Edathy („… gehört in die Klapse“). Sprachlich und kulturell wesentlich
elaborierter, gleichwohl ein antipsychiatrisches Klischee bedienend, formulierte Heribert
Prantl, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung 2013, dass zur Einweisung in die forensische
Psychiatrie, welche „schlimmer als Gefängnis“ sei, „strafrechtlicher Pipifax“ genüge.
Wobei im Fall Mollath in keiner seriösen Nachrichtensendung bei der Erwähnung des
Worts „Psychiatrie“ die eingeblendeten Fixierbetten fehlten.
Damit nicht genug. Nach den wegweisenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
von 2011, die von der DGPPN ausdrücklich begrüßt wurden [7], stehen nun die fälligen Revisionen der Unterbringungsgesetze bzw. Psych-KGs in
den Bundesländern an. Im Gesetzentwurf des Bundeslandes Sachsen werden unter § 31
(Sicherungsmaßnahmen) bemerkenswerterweise nun die folgenden Sicherungsmaßnahmen ergänzt:
die zeitweise Fixierung und „die medikamentöse Ruhigstellung, die einer zeitweisen
mechanischen Fixierung in ihrem Zweck und ihren Auswirkungen gleichkommt“. Notabene,
Ärzte sollen Medikamente nicht zur Behandlung, sondern zur „Ruhigstellung“ als Sicherungsmaßnahme
verordnen. Die Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte,
die zweifellos auch für Psychiater gilt, formuliert dagegen: „… haben dabei ihr ärztliches
Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten auszurichten. Insbesondere dürfen sie
nicht das Interesse Dritter über das Wohl der Patientinnen und Patienten stellen“
[8]. Der Staat kann und darf Ärzte nicht zu Aufgaben legitimieren bzw. ihnen diese sogar
zuschreiben, die ihnen von der Berufsordnung her eindeutig verboten sind. Es gibt
bekanntlich keine Medikamente, die für die Indikation einer Ruhigstellung als Sicherungsmaßnahme
zugelassen wären, ebenso wenig eine Differenzierung von Medikamentenverordnungen zur
Behandlung und zur „Ruhigstellung“. Behandlung bei krankheitsbedingter Fremdgefährdung
gehört zu unseren Aufgaben, eine Ruhigstellung unabhängig von einer Behandlungsindikation
aber sicher nicht. Ein weiterer derartiger Prüfstein blieb uns in Deutschland seitens
der Politik vorenthalten, die britischen Psychiater haben ihn auf eigenes Drängen
erhalten und die niederländischen Kollegen werden bald nachziehen: die ambulante Zwangsbehandlung.
Ob sie überhaupt wirksam ist, ist sehr umstritten [9]. Aber die Fokussierung auf die evidenzbasierte Wirksamkeit ist eine gefährliche
Verengung: Was bedeutet es für die Bürgerrechte, wenn man damit beginnt, Personen,
die keine Straftat begangen haben, von Staats wegen einem präventiven Gesundheits-
und Gefährlichkeitsmanagement mit erheblichen Eingriffen in die Freiheitsrechte zu
unterziehen, und zwar ungeachtet ihrer Einwilligungsfähigkeit? Dass letztere bei Patienten
mit Psychosen, die in den genannten Ländern einer Behandlungsauflage unterworfen werden,
dauerhaft aufgehoben ist, dürfte kaum anzunehmen sein. Die deutsche Psychiatrie bekam
stattdessen die von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte „Lösung“ des vom Verfassungsgericht
angemahnten Problems der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit der Überstellung
von Menschen zur Dauerverwahrung, die zwar als gefährlich gelten, bislang aber nicht
als psychisch krank gegolten hatten. Die Versuche, diesen Missbrauch forensisch-psychiatrischer
Behandlungseinrichtungen zu verhindern, waren nur teilweise erfolgreich.
Auch unabhängig davon verbleibt der mir immer wieder verstörend erscheinende Umstand,
dass wir zuweilen in der forensischen Psychiatrie insbesondere unter den § 64-Patienten
solche haben, die ganz offensichtlich sehr viel mehr gefährlich als krank sind und
massive Sicherungsmaßnahmen in unseren Kliniken erfordern, während sie z. B. auf ihre
Rückkehr in Haft warten. Wenn Sicherungsmaßnahmen und Therapie über längere Zeit in
einem offensichtlichen Missverhältnis stehen, muss sich die Frage aufdrängen, ob es
sich dabei noch um typische Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten, Gesundheits- und Krankenpflegerinnen
und -pflegern und Krankenhäusern handelt. Der Justiz, der Politik und der Öffentlichkeit
genügt das Etikett, dass diese Menschen angeblich alle „Therapie“ benötigen und erhalten,
zur moralischen Beruhigung von eigenen Ängsten und potenziellen Schuldgefühlen. Nicht,
dass ich dafür wäre, Therapie vorzuenthalten. Aber die Therapie kann auch zu Menschen
kommen, die dies wünschen und deren Sicherung nicht Krankenhäusern übertragen wurde.
Wenn wir uns nicht gegen die vielfältigen Aufgabenzuschreibungen wehren, bei denen
die Psychiatrie in einem breiten, freilich stets zur Anklage bereiten Konsens von
Politik, Öffentlichkeit und somatischer Medizin als Kontrollinstrument missbraucht
wird, werden wir das Odium des Zwangs und der Ausübung von Gewalt als Disziplinierung
auch immer anhaften haben.