Dtsch Med Wochenschr 2014; 139(33): 1645-1646
DOI: 10.1055/s-0034-1370257
Editorial
Kardiologie, Pneumologie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vulnerando sanamus

Vulnerando sanamus
S. Rosenkranz
1   Klinik III für Innere Medizin, Herzzentrum der Universität zu Köln, Zentrum für Molekulare Medizin Köln (ZMMK) und Cologne Cardiovascular Research Center (CCRC), Köln
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Publication Date:
05 August 2014 (online)

Vulnerando sanamus – „Indem wir verletzen, heilen wir“. So steht es über dem Hauptportal des altehrwürdigen im Jahre 1907 erbauten Chirurgie-Gebäudes des Universitätsklinikums Gießen. Was zu dieser Zeit für die chirurgische Versorgung von Verletzten und Kranken mit umschriebenen organischen Erkrankungen gedacht war, könnte heute auch für Patienten gelten, die eine Lungenembolie (LE) durchlitten haben. Persistierende Perfusionsdefekte mit hämodynamischen Veränderungen im Sinne einer chronisch thromboembolischen pulmonalen Hypertonie (CTEPH) gehen häufig mit einer ausgeprägten Symptomatik und einer erheblichen Einschränkung der Lebenserwartung einher [1] [2]. Therapie der Wahl ist in diesen Fällen die chirurgische Entfernung des thrombotischen Materials im Sinne einer pulmonalen Endarterektomie (PEA) [3–5]. Neuerdings steht für technisch inoperable Fälle auch eine medikamentöse Therapie zur Verfügung [6]. Doch die Versorgung von Patienten mit CTEPH wird oft dadurch erschwert, dass die Diagnose wenn überhaupt erst mit erheblicher Verzögerung gestellt wird.

Die Arbeit von Held et al. in diesem Heft [7] zeigt daher ein wichtiges Dilemma in der Detektion und klinischen Versorgung von Langzeitfolgen nach LE auf. In einer retrospektiven Analyse untersuchten die Autoren bei 70 Patienten mit gesicherter CTEPH die Latenz zwischen Symptombeginn und Diagnosesicherung sowie den klinischen Schweregrad (WHO-Funktionsklasse) bei Diagnosestellung. Hierbei zeigten sich vier zentrale Punkte, die im Kontext aktueller Registerdaten und Studienergebnisse zu interpretieren sind:

1. 81 % der Patienten mit gesicherter CTEPH wiesen anamnestisch eine LE auf, während bei 19 % in der Vorgeschichte keine LE bekannt war. Dies deckt sich mit aktuellen Registerdaten, die zeigen, dass bei 20–50 % der CTEPH-Patienten anamnestisch kein Embolie-Ereignis bekannt war [8] [9] [10]. Dies bedeutet, dass bei Patienten mit Dyspnoe und pulmonaler Hypertonie bzw. Rechtsherzbelastung auch ohne vorbekannte LE aktiv nach einer CTEPH gefahndet werden muss. Die entscheidende diagnostische Maßnahme ist hierbei die Ventilations-/Perfusions-Szintigraphie [3] [4] [5]. Dies bestätigen auch die Daten von Held et al. [7], in denen die Sensitivität der Szintigraphie bei 100 %, die der CT-Angiographie jedoch bei lediglich 46 % lag.

2. Die mittlere Dauer zwischen durchgemachter LE und dem postembolischen Auftreten von Symptomen betrug 21,4 ± 45,8 Monate. Persistierende Beschwerden nach dem Ereignis traten dabei bei 68 % der Patienten auf, 32 % wiesen demgegenüber ein symptomfreies Intervall von 66,7 ± 59,9 Monaten auf. Tatsächlich kommt es nicht selten nach einem symptomfreien Intervall (sog. „Honeymoon“-Phase) zur Entwicklung einer CTEPH [4] [5] [8], so dass Patienten nach einem thromboembolischen Ereignis über die Möglichkeit persistierender oder wiederkehrender Symptome mit therapeutischen Konsequenzen aufgeklärt werden sollten.

3. Die Latenzzeit vom Symptombeginn bis zur Diagnosesicherung einer CTEPH betrug im Mittel 18 ± 22 Monate. Diese Zeit war bei Patienten ohne vorbekannte LE signifikant länger als bei Patienten mit vorbekannter LE. Zudem befanden sich bei Diagnosestellung > 70 % der Patienten im fortgeschrittenen Stadium WHO-FC III. Dies zeigt, dass die CTEPH im klinischen Alltag zu spät erkannt wird, insbesondere dann, wenn anamnestisch keine LE bekannt ist.

4. Patienten, die aufgrund der fälschlichen Annahme einer PAH mit entsprechenden Medikamenten vorbehandelt worden waren, wiesen im Vergleich zu medikamentös nicht vorbehandelten Patienten eine signifikant längere Latenz bis zur Etablierung der Diagnose CTEPH auf. Dies zeigt, dass eine Leitlinien-gerechte Diagnostik inklusive Ausschluss einer CTEPH vor Einleitung einer PAH-Therapie in der klinischen Praxis nicht konsequent erfolgt.

Angesichts der therapeutischen Konsequenzen und der prognostischen Bedeutung ist die korrekte und zeitgerechte Diagnosestellung einer CTEPH für die betroffenen Patienten von enormer Bedeutung. Die Daten von Held et al. [7] zeigen diesbezüglich, dass die Latenz zwischen Symptombeginn und Diagnosestellung von Patienten-bedingten Faktoren, insbesondere aber auch von Verzögerungen in der Sequenz Hausarzt-Facharzt-Expertenzentrum verursacht wird.

Einmal diagnostiziert, kann mit Hilfe der PEA durch die Entfernung der zugrunde liegenden chronischen LE in den meisten Fällen sehr effizient eine erhebliche Verbesserung oder gar Normalisierung der pulmonalen Hämodynamik erzielt werden [9] [10] [11]. De facto zeigten Registerdaten, dass sich der pulmonal vaskuläre Widerstand (PVR) bei > 80 % der operierten Patienten normalisieren lässt, was mit einer erheblichen Zunahme des Herzzeitvolumens und in den meisten Fällen mit einer Normalisierung der rechtsventrikulären Funktion einhergeht [9]. Dieser komplexe Eingriff, der zumeist in „Deep Hypothermia Cardiac Arrest“ (DHCA) durchgeführt wird, stellt somit eine potenziell kurative Therapie dar („vulnerando sanamus“). Eine verzögerte Diagnosestellung ist auch für das chirurgische Vorgehen bedeutsam, da das Operationsrisiko unter anderem von der Dauer der Erkrankung und der Höhe des PVR determiniert wird [9]. Die perioperative Letalität ist zudem abhängig von der Erfahrung des PEA-Chirurgen und beträgt nach aktuellen Daten aus Fallserien und einem internationalen CTEPH-Register zwischen 2,2 und 4,7 % [9] [11].

Jedoch kann eine chirurgische Intervention bei zu weit in der Peripherie lokalisierten Gefäßläsionen technisch nicht möglich bzw. ineffizient sein, so dass nur etwa zwei Drittel der Patienten mit CTEPH Kandidaten für eine erfolgreiche Operation sind [9] [10] [11]. Zudem kann auch nach erfolgreicher Operation eine PH fortbestehen oder wiederkehren. Für solche Patienten steht nun mit dem maßgeblich in Gießen entwickelten sGC-Stimulator Riociguat eine spezifische medikamentöse Therapie zur Verfügung. Ghofrani et al. [6] zeigten in einer doppelblinden, randomisierten, kontrollierten Phase-III-Studie, dass Riociguat gegenüber Placebo zu einer signifikanten Verbesserung der Belastungstoleranz, der pulmonalen Hämodynamik und des klinischen Schweregrades führte. Riociguat wurde kürzlich von der EMA und der FDA zur Therapie der inoperablen oder persistierenden/rekurrenten CTEPH nach PEA zugelassen.

Trotz dieser positiven Studienergebnisse darf die medikamentöse Therapie der CTEPH nicht als Ersatz für die PEA angesehen werden. Eine potenzielle Gefahr dieser medikamentösen Therapieoption besteht darin, dass die Patienten zukünftig nicht mehr konsequent zur Operation vorgestellt werden könnten. In Übereinstimmung mit Registerdaten betrug die 3-Jahres-Überlebensrate in der Arbeit von Held et al. nach PEA 95 %, verglichen mit 75 % nach medikamentöser off-label Therapie [7], was die Bedeutung der PEA unterstreicht. Im klinischen Alltag wird es daher wichtig sein, bei diesen Patienten ein Leitlinien- und Zentrums-orientiertes Vorgehen mit differenzierten Therapie-Entscheidungen sicherzustellen. Dies kann beispielsweise durch Berücksichtigung des in Abb.  [ 1 ] vorgeschlagenen Algorithmus zur Diagnostik und Therapie der CTEPH gewährleistet werden.

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Abb. 1 Vorgeschlagener Algorithmus zur Diagnostik und Therapie der chronisch-thromboembolischen pulmonalen Hypertonie (CTEPH). Szenario 1 : Persistierende oder wiederkehrende Symptomatik nach stattgehabter Lungenembolie; Szenario 2 : Dyspnoe-Symptomatik bei pulmonaler Hypertonie und/oder Rechtsherzbelastung ohne bekannte Lungenembolie. *zugelassen zur Therapie der inoperablen oder persistierenden bzw. wiederkehrenden PH nach PEA [6]; #nicht zur Behandlung der CTEPH zugelassen; §derzeit laufende klinische Studien: AMBER-1 (Ambrisentan); MERIT-1 (Macitentan).Abkürzungen: CLD, chronische Lungenerkrankung; LE, Lungenembolie; LHD, Linksherzerkrankung; NYHA, New York Heart Association; PAH, pulmonal arterielle Hypertonie; PEA, pulmonale Endartherektomie; PH, pulmonale Hypertonie; RHK, Rechtsherzkatheter; V/P-Szintigraphie, Ventilations-/Perfusions-Szintigraphie

Hierbei sind zwei Szenarien zu berücksichtigen: 1. diagnostische Abklärung bei einer persistierenden oder wiederkehrenden Symptomatik nach bekannter LE; 2. konsequente Suche nach bzw. Ausschluss einer CTEPH bei diagnostizierter pulmonaler Hypertonie und/oder Rechtsherzbelastung ohne bekannte LE. Nach den gültigen Leitlinien und den Empfehlungen der PH-Weltkonferenz müssen die Diagnostik und die Klärung der Operabilität durch ein CTEPH-Team erfolgen, an dem ein in dieser Indikation erfahrener PEA-Chirurg beteiligt ist [3] [4] [5]. Technisch operable Patienten sollten einer PEA zugeführt werden. Bei nicht operablen Patienten sollte im Zentrum eine Therapie mit Riociguat eingeleitet werden. Gleiches gilt für Patienten, die nach einer PEA weiterhin eine relevante PH aufweisen. Bei unzureichendem Ansprechen, Kontraindikationen oder Unverträglichkeit gegenüber Riociguat kann gemäß der Leitlinien-Empfehlungen ggf. auch eine andere PAH-Therapie erwogen werden (dann jedoch off-label-Therapie, Riociguat darf nicht mit PDE5-Inhibitoren kombiniert werden), oder die Patienten sollten in laufende klinische Studien (AMBER-1, MERIT-1) eingeschlossen werden: Exquirendo emendamus – „Indem wir untersuchen, verbessern wir“.