Dtsch Med Wochenschr 2014; 139(48): 2440
DOI: 10.1055/s-0034-1387412
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Therapie der Hypertonie zwischen Erfolgen und Misserfolgen, Leitlinien und ärztlicher Therapiefreiheit

Treatment of hypertension between successes and failures, guidelines and physician’s freedom of choice
J. Scholze
1   Medizinische Poliklinik/Campus Mitte, Hypertension Excellence Center of the European Society of Hypertension (ESH), Charité – Universitätsmedizin Berlin
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Publication Date:
19 November 2014 (online)

Die Hypertonie ist weltweit die gefährlichste Erkrankung mit der höchsten Folgemortalität und dem höchsten Ausmaß an Verlust der „lebenswerten“ Jahre durch Behinderung. Sie lässt sich leicht diagnostizieren und relativ problemlos behandeln. Und dennoch ist international ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung in epidemiologischen Studien bisher unerkannt hyperton, und nur ein Drittel der bekannten Hypertoniker normoton eingestellt. Ist dies Ausdruck mangelnden Wissens von Ärzten und Patienten, oder spielen hier ökonomische Zwänge und falsche Anreize eine dominierende Rolle? Im Zuge kurzlebiger politischer Zyklen stehen offensichtlich aktuelle Einsparungen eindeutig vor substanziellen, langzeitigen, auch ökonomisch fassbaren Verbesserungen im Hinblick auf die Folgemorbiditäten – oder wie ist es sonst zu erklären, dass selbst von Ärztekammern und KV’en eine antihypertensive Kombinationstherapie mit generischen Einzelpräparaten empfohlen wird, obwohl die Pharmakotherapie mit Fixkombinationen die einzunehmende Tablettenanzahl reduziert und damit Compliance und Adhärenz signifikant verbessern würde?

In den letzten Jahrzehnten haben Übergewicht und abdominelle Adipositas als die Wurzel von metabolischem Syndrom, Diabetes und Hypertonie kontinuierlich zugenommen. In Praxis-Studien konnte gezeigt werden, dass 80 % aller Hypertoniker übergewichtig bzw. adipös waren. Aber es gibt auch Hoffnung auf substanzielle Verbesserungen, gerade in Deutschland, dem einstigen Schlusslicht im europäischen und Überseevergleich. Dabei sind die größten Fortschritte in der einstmals schlechtesten Region Mecklenburg-Vorpommern zu verzeichnen, wo 2000 in der SHIP-Studie (J Hypertens 2006; 24: 293299) 43 % der Männer eine bisher nicht bekannte Hypertonie aufwiesen und lediglich 26 % der diagnostizierten Hypertoniker behandelt und 8 % normoton eingestellt waren. Mittlerweile liegen die korrespondierenden Zahlen bei 92 % , 78 % und 56 %, wobei in dieser Erhebung des Robert Koch-Instituts die Region Nord/Ost am besten in ganz Deutschland abschneidet (Hypertension 2013; 289: 23632369)!

Alle relevanten internationalen Hypertonie-Leitlinien wurden erst kürzlich vereinheitlicht und vereinfacht. Abgesehen von marginalen Abweichungen betragen die Blutdruckzielwerte nun generell < 140 /90 mmHg und bei den „alten Alten“ von über 80 Jahren < 150 mmHg systolisch. Eine der größten Herausforderungen im Bestreben, diese Zielwerte zu erreichen und die Organprotektion zu optimieren, ist die personalisierte Pharmakotherapie. Dabei lassen uns die europäischen Leitlinien wesentlich größere individualtherapeutische Freiheiten als die angloamerikanischen. Letztere schreiben das therapeutische Vorgehen einschließlich der Therapieeskalation weitgehend stringent vor – vom initialen RAS-Blocker (alternativ Kalziumantagonist) über deren Zweier-Kombination bis hin zur Dreifach-Kombination unter Zugabe eines Diuretikums. Der Betablocker bleibt bis auf wenige Ausnahmen (kardiologische Sekundärprävention) außen vor. Das ist durchaus nachvollziehbar, wenn man die metabolische Verschlechterung, den ungünstigen Einfluss auf das Gewichtsverhalten und das weitgehende Fehlen einer Rückbildung von Gefäßwand- und Herzhypertrophie sowie den im Vergleich zu RAS-Blockern und Kalzium-Antagonisten schlechteren Einfluss auf die Gefäßsteifigkeit und auf Surrogat-Parameter bzw. die Atherosklerose berücksichtigt. Und dennoch: Fühlt sich nicht gerade der hyperkinetische Hypertoniker mit Ruhe-Herzfrequenzen über 80 /min unter einer „Prise“ Betablocker wesentlich wohler als unter einer reinen vasodilatorischen Therapie? Oder sollte nicht bei dieser Patientenklientel eher mal auf den Sympathikus-inhibierenden Verapamil-Kalziumantagonisten in retardierter Form zurückgegriffen werden, als immer nur langwirkende Dihydropyridine wie Amlodipin oder Lercanidipin einzusetzen? Zugegebenermaßen fehlt uns dafür die Evidenz. Aber muss denn alles evidenzbasiert sein? Gibt uns Ärzten nicht auch gelegentlich der Erfolg recht? Zu dieser Problematik wird auf dem Deutschen Hypertonie-Kongress vom 11.–13.  Dezember 2014 in Berlin ein eigenständiger Workshop mit Vertretern aus der forschenden Pharmaindustrie, der Wissenschaft und dem niedergelassen Bereich stattfinden.

Sicher benötigen wir evidenzbasiertes Wissen als Grundlage für Diagnostik- und Therapieentscheidungen, darüber hinaus sollten wir uns der individuellen Vielfalt unserer Patienten stets bewusst bleiben. Diese berücksichtigt die unterschiedlichen genetische Hintergründe, die individuelle Verträglichkeit genauso wie unterschiedliche Risikofaktoren und Begleit- bzw. Folgeerkrankungen, aber auch die Erfahrungen des Therapeuten. Nutzen Sie den Freiraum, den uns die europäischen und deutschen Leitlinien lassen, möglichst immer unter der Prämisse, den Zielblutdruck zu erreichen mit Mitteln, die evidenzbasiert belegt sind, die der Patient akzeptiert und die seine Lebensqualität möglichst nicht beeinträchtigen.