Z Sex Forsch 2015; 28(1): 80-100
DOI: 10.1055/s-0034-1399057
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Publication Date:
24 March 2015 (online)

Sébastien Chauvin, Arnaud Lerch. Sociologie de l'homosexualité. Paris: Éditions La Découverte 2013 (Collection Repères). 128 Seiten, EUR 10,00

Mit diesem kleinen Büchlein geben die beiden Autoren einen überaus nützlichen Überblick zur Soziologie der Homosexualität. Soziologie begreifen sie im weiteren Sinne als Sozialwissenschaft, sie berücksichtigen daher sozialhistorische, kulturwissenschaftliche, sozialanthropologische, sexualwissenschaftliche und im engeren Sinne soziologische Beiträge zum Themenbereich Homosexualität. Dabei konzentrieren sie sich fast ausschließlich auf Publikationen im englischen und französischen Sprachraum. Sie zeichnen kurz die soziale Konstruktion und Definition von Homosexualität und des Sozialtypus homosexueller Frauen und Männer im 19. und 20. Jahrhundert nach. „Sodomie“ als sündhafte Praxis erfuhr im Rahmen der Entwicklung von Psychiatrie und Psychologie eine Umschreibung zur Pathologie. Karl Heinrich Ulrichs und Magnus Hirschfeld mit ihrem Versuch, ein „drittes Geschlecht“ in den wissenschaftlichen Diskurs einzuführen und Sigmund Freud mit seiner Annahme, dass Homosexualität eine universelle Potentialität sei (S. 7), werden von den Autoren erwähnt als frühe Protagonisten einer Entpathologisierung homosexueller Frauen und Männer. Sie heben hervor, dass die vor allem in den USA in der Nachkriegszeit unternommenen Ansätze, Homosexualität als genetisch begründet zu erklären, in Europa auf wenig Resonanz gestoßen sind. Sozialwissenschaftlicher Reflexion geriet allerdings erst relativ spät in den Blick, dass Homosexualität und gleichgeschlechtlich sexuell aktive Personen nicht auf das bloße Merkmal homosexueller Kontakte zu reduzieren, sondern nur epochen- und kulturspezifisch in der Analyse ihrer unterschiedlichen Bedeutung in der jeweiligen Geschlechterordnung zu begreifen seien. Die Autoren vermuten, dass eine Selbstwahrnehmung als Homosexuelle_r vor und nach dem Auftreten einer transsexuellen Identität nicht auf die gleiche Weise erfolgen kann.

Das erste Kapitel ihrer Analyse, „Sozialwissenschaften und Homosexualität“, zeichnet historisch den Fortgang der empirischen Forschung und theoretischer Reflexion nach. Chauvin und Lerch heben die Verdienste von Alfred Kinsey und seiner Mitarbeiter_innen hervor, ihre Analyse gleichgeschlechtlicher sexueller Kontakte bei Frauen und Männern unabhängig von der zu ihrer Zeit vorherrschenden Sexualmoral durchzuführen. Als erste soziologische Denkschule, die Homosexualität und Homosexuelle jenseits konventioneller moralischer Kategorien begriff, kennzeichnen sie die Beiträge des symbolischen Interaktionismus. Diese behandelten Homosexualität jedoch als invariante soziale Tatsache, auch wenn sie Homosexualität nicht mehr als Pathologie, sondern als „abweichendes“ Verhalten, das einem sozialen „Stigma“ ausgesetzt sei, beschrieben. Die Autoren würdigen Foucaults bahnbrechende Analyse, die sowohl „sexuelle Repression“ als auch den in den 1960er-Jahren einsetzenden Liberalisierungsdiskurs gleichermaßen als Teil eines Macht-Dispositivs analysiert, innerhalb dessen die erhoffte „Befreiung“ nicht erreicht werden kann. Gleichzeitig beharren Chauvin und Lerch unter Verweis auf die wegweisenden sozialhistorischen Analysen von George Chauncey, Allan Bérubé und John D’Emilio darauf, dass die Herausbildung des Sozialtypus homosexueller Personen sich nicht auf „Diskurs-Effekte“ reduzieren lasse, sondern zu verorten ist im Prozess der Industrialisierung, der Verallgemeinerung der Lohnarbeit, der Urbanisierung kapitalistischer Länder und der damit gegebenen Chance individualisierter Lebensstile im Schutze großstädtischer Anonymität. Sie gehen schließlich ein auf die Herausbildung der „queer theory“, die auf die Phase der „gay and lesbian studies“ in den 1970er- und 1980er-Jahren folgte. Die „queer theory“ entwickelte sich zunächst in den USA, unter maßgeblichem Bezug auf eine in Frankreich bisweilen Verwunderung auslösende Rezeption der „French theory“ (vor allem Bataille, Foucault, Derrida, Deleuze, Guattari, Kristeva und Lacan). Die „Identitäts-Dekonstruktion“ als Zentrum des „queeren Diskurses“, dessen bedeutsamste Protagonistin Judith Butler bleibt, der jedoch auch nicht ohne die Beiträge von Eve Kosovsky Sedgwick zu denken ist, kommentieren die Autoren auf differenzierte Weise: „Der Anspruch einer Überschreitung des ‚identitären Momentums‘ im Namen eines Widerstands gegen die Normalisierung ist jedoch nicht ohne Risiko. Die Ausdeutung der queeren Gebärde […] enthält im Keim die Möglichkeit einer teleologischen Lesart, den Aufruf zur Ambivalenz, zu einem fragmentierten Ich oder zur Subversion […]. Eine soziale Zuschreibung zu vereiteln, verlangt allerdings nicht zwingend zu dekretieren, dass das Geltendmachen einer Identität historisch überholt oder politisch verhängnisvoll sei“ (S. 21).

Im zweiten Kapitel ihrer Studie begeben sich die Autoren auf eine sehr viel konkretere Ebene. Hier geht es ihnen um die gegenwärtige „Homophobie“ in den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften, um den sozialen Kontext des individuellen Coming-out und das „Zepter des Kommunitarismus“. Zu Recht merken sie an, dass der Begriff Homophobie wegen seiner klinischen Konnotation problematisch ist. Während Homosexualität in vielen sozialen Bereichen das Stigma des Krankhaften verloren habe, würden jetzt lesben- und schwulenfeindliche Personen wegen dieser Aversion auf individueller Ebene pathologisiert. Chauvin und Lerch heben hervor, dass die in Frankreich den Charakter eines Kulturkampfes annehmenden Auseinandersetzungen um die „Homo-Ehe“ und die Adoptionsrechte homosexueller Paare, konservativen Anthropologen, Psychoanalytikern und Theologen die Gelegenheit gab, unter Rückgriff auf angebliche historische Invarianten die traditionelle symbolische Ordnung zu verteidigen.

In ihrem dritten Kapitel „Lebensweisen und Sexualität“ geben die Autoren einen nützlichen Überblick zu den in englisch- und französischsprachigen Ländern erhobenen Daten. Sie erinnern daran, dass erst die großen Befragungen schwuler Männer vor dem Hintergrund der Bedrohung durch AIDS einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis ihrer Lebenssituation leisteten, diese Daten für lesbische Frauen jedoch noch in den letzten beiden Jahrzehnten fehlten. Das Thema des vierten Schwerpunkts der Studie lässt sich am besten durch den doppeldeutigen deutschen Begriff „Familienbande“ kennzeichnen. Chauvin und Lerch erinnern daran, dass am Anfang des 19. Jahrhunderts enge, stark affektiv geladene Freundschaften zwischen Männern häufig waren, deren emotionaler Überschwang in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend unschicklich wurde. Schließlich galt der Begriff „Liebe“ nur noch für Beziehungen zum anderen Geschlecht, zwischen Männern waren „Freundschaften“ erlaubt. Zur Tarnung benutzten Homosexuelle als Bezeichnung für ihresgleichen den Begriff „Freunde“, der erst in einer Phase größerer gesellschaftlicher Toleranz mit dieser Bedeutung außer Gebrauch kam. Die (relative) Akzeptanz der Beziehungen zwischen homosexuellen Frauen oder Männern habe schließlich den Weg freigegeben für eine staatliche Anerkennung dieser Partnerschaften, auch die Öffnung der Institution Ehe sei in immer mehr (europäischen und amerikanischen) Ländern zu verzeichnen. Zu Recht verweisen die Autoren darauf, dass diese Entwicklung nur möglich war im Rahmen eines Funktionswandels und eines Bedeutungsverlusts der heterosexuellen Ehe. Die Zunahme der „Patchwork“-Familien und alleinerziehender Mütter und Väter sei dafür ein Indikator. Chauvin und Lerch merken dazu kritisch an, dass die Integration einer heteronormativen Grammatik in die Lebensweisen von Lesben und Schwulen die Akzeptanz dieser sozial „normalisierten“ Lesben und Schwulen stärken könnte, jedoch um den Preis, dass jene erneut stigmatisiert würden, die auf heterodoxeren Lebensstilen beharren würden.

In ihrem Kapitel über die Lesben- und Schwulenbewegung unterstreichen die Autoren die Bedeutung der in den 1970er-Jahren von radikalen studentischen Aktivist_innen oft belächelten „homophilen“ Organisationen, wie die „Mattachine Society“ oder die „Daughters of Bilitis“ in den USA oder das COC in den Niederlanden. Die antikommunistische und antiliberale Repression der McCarthy-Ära sei einhergegangen mit einer fanatischen Homosexuellen-Verfolgung. Dem Furor McCarthys und seiner Verbündeten kam allerdings zugleich die paradoxe Rolle eines Katalysators für die Schwulen- und Lesben-Bewegung zu. Ebenso halten die Autoren fest, dass die von André Baudry 1953 in Frankreich gegründete Gruppe „Arcadie“, die sich aufgrund ihres Bemühens um gesellschaftliche Reputation deutlich von effeminierten Homosexuellen („les folles“ = die Tunten, M. B.) absetzte, noch in den 1970er-Jahren weit über 10.000 Mitglieder hatte, weit mehr als die militanten Lesben- und Schwulengruppen je gewinnen konnten. Sie zeichnen schließlich nach, wie die afro-amerikanische Civil-Rights-Bewegung, die Frauenbewegung und die Studentenbewegung in Nordamerika und Europa wirkungsmächtige Impulse für die Schwulen- und Lesbengruppen gaben, die radikal mit den Aktionsformen und Zielen der „homophilen“ Organisationen brachen. Die Gründung der AIDS-Hilfe-Gruppen hatte in ihren Augen eine „NGO-isierung“ (vor allem) der Schwulenbewegung zur Folge, für die unmittelbare Gegenwart verweisen sie auf Spannungen zwischen traditionelleren Schwulengruppen und neuen Queer-Gruppen.

Chauvin und Lerch beschließen ihre Studie mit einem Kapitel, in dem sie die soziale Situation und die Artikulationsformen der verschiedenen Personengruppen, die gegenwärtig unter dem englischen Label LGBT*IQ zusammengefasst werden, einordnen in die Perspektive der „großen soziologischen Fragen“ wie Globalisierung, Nationalismus, Rassismus und Geschlechterverhältnis.

Mit ihrer Publikation haben die Autoren eine sehr facettenreiche Studie vorgelegt, die trotz der gedrängten Form der Darstellung gut lesbar bleibt. Ein ähnlicher knapper und informativer Überblick wäre für den deutschen Sprachraum wünschenswert.

Michael Bochow (Berlin)