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DOI: 10.1055/s-0035-1547215
Wiedebach, H. Pathische Urteilskraft
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
21. Oktober 2015 (online)

Die Gedankenwelt des Arztes Viktor von Weizsäcker philosophisch aufzuarbeiten und in Beziehung zum zeitgenössischen Denken zu setzen, ist eine nicht ganz leichte Aufgabe.
Der Verfasser, langjähriger Kenner der Weizsäckerschen Schriften, hat sich der naheliegenden Versuchung entzogen, diese Aufarbeitung auf einer professionellen inhaltlichen Ebene vorzunehmen. Er wählt eine ähnliche Ausgangssituation, wie sie Weizsäcker in seinen frühen Arbeiten vorgenommen hatte und analysiert die „Stimmung“ oder die „Situation“, die Anlass zur Reflektion gibt. Wenn es für Weizsäcker die Situation des Patienten war, so ist es für den Verfasser die wesentlich tiefer gehende Situation am Krankenbett eines Sterbenden.
Die pathische Verstrickung zwischen Berührung und Tod, zwischen Empathie und Lösung, führt zur Neuformulierung der emotionalen Ebenen der Reflektion. Die pathischen Kategorien des Weizsäckerschen Denkens können dabei als Leitlinien für die Orientierung auf den verschiedenen Ebenen der professionellen Begriffsbildungen dienen. So lässt sich z.B. die klassische Formulierung der „Einführung des Subjektes“ ersetzen durch „Befangenheit im Menschlichen“ oder die phänomenologische Reduktion der Epochè durch den sehr einfach klingenden, aber nachdenklich stimmenden Begriff einer „zweiten Naivität“. Auf diesem Hintergrund durchfährt der Autor die Gebiete seines philosophischen Interesses und Wissens. Aus der Sicht eines ärztlichen Lesers erfordern diese Streifzüge allerdings eine besondere Aufmerksamkeit und sind ohne fachphilosophische Vorkenntnisse nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Sie vermitteln aber den tiefen Ernst der gedanklichen Bemühungen und geben fast auf jeder Seite Anreize zum Innehalten und Neubedenken. Hier liegt also eine Schrift vor, die nicht nur der vertrauten Lesergemeinde ärztlicher und philosophischer Anthropologien empfohlen werden kann, sondern auch dem Kreise der Interessenten, die sich im weitesten Sinn dem Kant’schen „Sapere aude“ verpflichtet wissen.
Prof. emer. Peter Hahn, Schriesheim