Z Orthop Unfall 2015; 153(02): 127-130
DOI: 10.1055/s-0035-1550324
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mindestmengen – Verdächtige Schönheitsreparaturen an der Statistik

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Publication Date:
21 April 2015 (online)

 
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    Dr. Werner de Cruppé, geboren 1965, arbeitet am Institut für Gesundheitssystemforschung der Universität Witten / Herdecke. Der Facharzt für Innere Medizin / Allgemeinmedizin und Psychosomatik befasst sich seit langem mit Fragen der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen. (Bild: Universität Witten / Herdecke)

    „Krankenhäuser missachten Vorgaben“ war der vollmundige Titel einer Erklärung der Uni Witten / Herdecke vom September 2014. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hatte gezeigt, dass manche Kliniken sich womöglich nicht an die Vorgaben der Mindestmengenregelungen halten. Im ZFOU-Interview erklärt einer der Forscher, Dr. Werner de Cruppé, warum er trotzdem wenig von strengeren behördlichen Kontrollen hält.

    ? Für Anfang 2015 hat der Gemeinsame Bundesausschuss, G-BA, die Mindestmengenregelung für die Implantation einer Knie-Totalendoprothese (Knie-TEP) wieder eingesetzt. Danach sollen es mindestens 50 Eingriffe im Jahr sein, damit ein Haus die Leistung erbringen darf (Anm. Red. Beschluss G-BA vom 18.12.2014). Folgt man allerdings einer Publikation vom letzten Jahr, bei der Sie Mitautor sind, dann wird die Regelung ohnehin gerne unterlaufen …

    Langsam, das ist mir zu plakativ. Sagen wir mal so, in einer begrenzten Anzahl einiger Dutzend Krankenhäuser haben wir solche Hinweise. Ich muss bei den Formulierungen hier auch darauf achten, dass ich nicht hinterher gepanzert durch die Gegend fahren muss (Lachen).

    ? Woher haben Sie die Zahlen?

    2004 hat der G-BA für zunächst 5 Operationen Mindestmengen festgesetzt. Das sind komplexe Eingriffe an Ösophagus und Pankreas, die Transplantation von Niere und Leber, sowie die Stammzelltransplantationen. 2006 kam die Knie-TEP dazu. Gleichzeitig müssen die Krankenhäuser seitdem alle 2 Jahre in den von ihnen zu veröffentlichenden Qualitätsberichten angeben, wie oft sie diese Eingriffe durchführen. Wir haben jetzt alle Qualitätsberichte aus den Jahren 2004, 2006, 2008 und 2010 ausgewertet. Das sind je nach Jahr Angaben von 1871 bis 1983 Krankenhäusern im Bundesgebiet. Seit 2013 müssen die Berichte übrigens jährlich erscheinen.

    ? Lesen Sie alle Dokumente einzeln durch?

    Nein, wer sich damit zu wissenschaftlichen Zwecken beschäftigen möchte, kann die Daten beim G-BA in elektronisch verarbeitbarer Form erhalten.

    ? Was haben Sie gefunden? Nehmen wir das Jahr 2010 …

    2010 fielen 170.800 Operationen in Deutschland unter die Mindestmengenregelungen, das waren gerade mal 0,9 % aller Operationen. Die Vorgaben lauten derzeit: Es sollen mindestens 10 Fälle komplexer Eingriffe an Pankreas oder Ösophagus sein, je 25 Fälle einer Transplantation von Niere und Stammzellen, 20 bei der Leber, und mindestens 50 Implantationen bei der Knie-TEP.
    Das Gros aller Zahlen betrifft die Knie-TEP. 2006 wurden 120.548 Knieendoprothesen in Deutschland implantiert, 2010 waren es über 147.000.

    ? Und wie viele Häuser schaffen die Vorgaben zu den Mindestmengen nicht?

    Das muss man wieder für jeden Eingriff einzeln anschauen. Vor allem bei Ösophagus und Pankreas-Eingriffen haben wir vergleichsweise hohe Zahlen an Häusern, die unter den Vorgaben liegen. Hier sind es zwischen 30 und 47 %. 2010 fanden komplexe Eingriffe am Ösophagus in 289 Kliniken statt, 128 davon, das sind 44 %, lagen aber unter der Mindestmenge von 10 Eingriffen im Jahr.

    ? Und bei der Knie-TEP?

    Sind die Prozentzahlen der Häuser, die die Messlatte reißen, geringer. 2008 führten 936 Häuser im Bundesgebiet den Eingriff durch, 76, alias 8 %, lagen unter 50 Eingriffen im Jahr. 2010 schafften 81 Häuser, wieder 8 %, von insgesamt 969 Häusern die Messlatte nicht.

    ? 8 % der Häuser mit weniger als 50 Eingriffen, die trotzdem operieren?

    Genau.

    ? Die Spielregeln stehen ja in eigenen Regelungen des G-BA, den so genannten Mindestmengenregelungen. Paragraph 5 legt fest, dass ein Krankenhaus die Leistung nicht erbringen darf, wenn es die vorgeschriebene Mindestmenge nicht erreicht, das soll verbindlich sein.

    Oh – und genau jetzt haben Sie ein wichtiges Detail unterschlagen.

    ? Was denn?

    Der fragliche Passus lautet – wenn die … erforderliche Mindestmenge bei planbaren Leistungen voraussichtlich nicht erreicht wird, dürfen entsprechende Leistungen nicht erbracht werden.

    ? Welchen Unterschied macht das „voraussichtlich“?

    Dazu möchte ich einen Fund berichten, den wir erst jetzt neu gemacht haben. Unsere ursprüngliche Veröffentlichung im Deutschen Ärzteblatt vom letzten Jahr enthielt noch keine Auswertung auf der Ebene des einzelnen Krankenhauses. Jetzt haben wir die Daten eines jeden Krankenhauses für die Jahre 2006, 2008 und 2010 (de Cruppé W & Geraedts M. 2015), verknüpft. Bei dieser Detailauswertung zeigt sich nun, dass die Wirklichkeit im Zeitverlauf eine weitere Kategorie kennt – den Wechsel.

    ? Wie bitte?

    Manche Krankenhäuser oszillieren bei den Eingriffszahlen über die Jahre um die Mindestmenge herum, liegen im einen Jahr darunter und im nächsten darüber. Und das ist etwas, was die Ergebnisse der 1. Publikation ergänzt und womöglich relativiert.

    ? Der Titel der vermutlich auch mit Ihnen abgesprochenen Pressemeldung ihrer Uni zur Studie damals lautete: „Krankenhäuser missachten Vorgaben, Krankenkassen interessiert es nicht“

    Das ist die Interpretation, wenn Sie die Daten für ein einziges Jahr betrachten – Hopp oder Topp, wer ist drüber oder wer ist drunter. Aber im Verlauf der Jahre sieht das oft anders aus. Und hier kommt das Wort „voraussichtlich“ ins Spiel. Angenommen, ein Haus schafft in einem Jahr 45 Knie-TEP und im nächsten Jahr 51, dann wieder 44, dann kann es nach meinem Verständnis auch diesmal am Jahresende sagen – voraussichtlich schaffe ich die Mindestmenge nächstes Jahr wieder und ich biete den Eingriff weiter an.

    ? Sie sehen dieses Oszillieren bei vielen Krankenhäusern oder nur ab und an?

    Ein gutes Viertel der Häuser, die Mindestmengen nicht erreichen, ist in dieser Wechslergruppe.

    ? Und bei denen sagen Sie heute – alles in Ordnung, weiter machen?

    Bei denen können wir zumindest nicht gleich sagen, die sind weg von dem Eingriff – aus und vorbei, die dürfen das nicht mehr anbieten. Es lohnt sich mehr, bei den Krankenhäusern genauer hinzuschauen, die über Jahre, dauerhaft unter den Vorgaben liegen.

    ? Können wir denn bei der von Ihnen angesprochenen Wechslergruppe sicher sein, dass da nicht Statistiken ab und an etwas, sagen wir, nachgeholfen wird? Dass man bei Bedarf, gerade bei einer planbaren OP wie der Knie-TEP einfach im letzten Quartal einige Patienten in das nächste Jahr verschiebt – dann passen die Werte im nächsten Jahr wieder?

    Ich sehe das nicht. Unsere Daten geben in keiner Weise her, dass hier ein markttaktisches Fallzahlenwerben überwiegt. Gerade unsere neue Auswertung, die bei vielen Häusern oszillierende Zahlen zeigt, spricht für mich eher gegen solche Manipulationen.

    ? Was tun mit den Häusern, die auf Dauer unter der Messlatte bleiben? Da werden ja sicher Behörden streng kontrollieren?

    Halt. Es gibt zunächst mal Ausnahmeregelungen. So legt der §137 SGB V klar fest: Die für die Krankenhausplanung zuständige Landesbehörde kann Krankenhäusern, die Mindestmengen nicht erreichen, trotzdem einen Ausnahmetatbestand geben, wenn sonst die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung gefährdet sein könnte.

    ? Motto: Wir müssen dieses Haus erhalten, sonst gibt es im Umkreis von 150 Kilometern keine Knie-TEP mehr?

    Ja. In der Praxis muss ich allerdings sagen, haben wir diesen Ausnahmetatbestand nirgends gefunden. Das ist irrelevant, kommt so gut wie nicht vor.

    ? Welche Ausnahmeregelungen gibt es noch?

    Es gibt insgesamt 4. Ein weiterer Ausnahmetatbestand sind Notfälle. Das kann ich nun bei einer Knie-TEP ziemlich sicher ausschließen, außer vielleicht bei bestimmten Traumata. Dann gibt es den Grund, unser Krankenhaus richtet sich personell neu aus. Sprich, da kommt zum Beispiel ein neuer Oberarzt für die Abteilung. Und ein weiterer Grund ist, wir bauen unseren OP-Trakt oder die Abteilung um.
    Alle Angaben dazu haben wir untersucht. Bei der Knie-TEP lagen im Jahr 2010 von 969 Häusern 81 unter der Mindestmenge. Das Gros davon weist einen Ausnahmetatbestand auf, das waren immer Dinge wie Aufbau einer neuen Abteilung oder Personalwechsel.
    Nur 19, alias 23 %, dieser 81 Häuser erklärt keinen Ausnahmetatbestand.

    ? Und spätestens jetzt kontrollieren ja sicher auch mal die zuständigen Behörden?

    Nein, die Krankenhäuser geben die Ausnahmetatbestände Notfall, Aufbau einer neuen Abteilung, selber in ihren Qualitätsberichten an.

    ? Und das kontrolliert keiner?

    Nein, das ist eine ganz falsche Vorstellung. Nach meiner Kenntnis gibt es keine Behörde, die das kontrolliert. Auch nicht der G-BA.

    ? Das Gesetz adressiert aber zuständige Landesbehörden, wie Sie eben selber erwähnten. Wer ist das, die dort erwähnte zuständige Landesbehörde?

    Das wären die für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörden – entweder Gesundheitsministerien oder die Abteilungen in womöglich komplexen Landesministerien.

    ? Dann müsste sich ein betroffenes Krankenhaus also eigentlich an diese Behörde wenden und um Ausnahmeregelung bitten?

    Wenn es um die Sicherstellung der Versorgung geht, dann ja. Mit allen anderen Ausnahmetatbeständen läuft das anders. Da gibt es den Mechanismus, dass die Krankenhäuser als öffentliche Einrichtungen Vorgaben und Pflichten haben – sie müssen selber schauen, dass sie das einhalten. Die Einhaltung dokumentieren sie ja öffentlich in den Berichten.

    ? Wenn das niemand überprüft, dann laufen die heiß diskutierten Regeln zu Mindestmengen aber am Ende glatt ins Leere?

    Wenn Sie nach Sanktionsmöglichkeiten rufen, dann gibt es, wenn überhaupt, andere Akteure.

    ? Und zwar?

    Die Krankenkassen. Sie haben einen monetären Hebel, laut Gesetz müssen sie Behandlungen in einem Haus nicht bezahlen, das unter den Mindestmengen bleibt. Die Kassen können in den Budgetverhandlungen sagen, dass die Eingriffe, die nicht gemäß einer Beachtung der Mindestmengenregelungen erbracht wurden, schlicht nicht vergütet werden.

    ? Will sagen – ein Haus müsste dann einer Kasse am Ende des Jahres alle Vergütungen zurückzahlen, die es bereits dafür erhalten hat?

    Das ist denkbar und kommt in manchen Regionen nach unseren Informationen auch vor. Meistens führen die Kassen mit den einzelnen Krankenhäusern am Ende eines Jahres Budgetverhandlungen. Daraus entsteht auch eine Rahmenplanung für die Vergütung des nächsten Jahres, ein Referenztopf für die Krankenhäuser. Und dabei können die Kassen sagen – liebe Leute, ihr habt in diesem Jahr gerade mal 4 Eingriffe am Ösophagus abgerechnet, aber das sind ja nur 4 von den komplexen Eingriffen. Da müssen Sie aber 10 haben. Das Geld für die 4 Eingriffe zahlt ihr uns zurück und nächstes Jahr finanzieren wir euch den Eingriff nicht mehr.
    Andererseits, angenommen, ein Haus hat bei Eingriffen an Ösophagus und Pankreas vielleicht 2 Fälle im Jahr – da lässt sich sicher auch mit dem Ausnahmetatbestand von Notfällen argumentieren. Was wollen Sie da machen?

    ? Vielleicht nachbohren und als Kasse mal die Patientenakten anfordern?

    Sehr richtig, der Medizinische Dienst kann in der Akte prüfen, ob es wirklich ein Notfall war. Aber ich bin ziemlich sicher, dass die Kassen das nicht machen.

    ? Nehmen wir die Knie-TEP, das sind ja wohl so gut wie nie Notfälle?

    In der Tat, und wenn ein Haus nur 35 Knieprothesen im Jahr einbaut, dann könnte man als Krankenkasse da durchaus mal nachbohren.

    ? Halten wir fest, es gibt überraschenderweise keine offizielle Kontrolle der Mindestmengen?

    Korrekt.

    ? Und Ihnen reicht eine hie und da vielleicht indirekte Kontrolle durch die Kassen? Immerhin haben Sie Hinweise, dass die Mindestmengenregelung mitunter unterlaufen wird?

    Zunächst mal sollten wir die Unschuldsvermutung gelten lassen, gehen wir mal davon aus, dass die allermeisten Krankenhäuser schon selber auf das Thema achten.
    Und dann: Sobald Sie da in einen aktiven Überprüfmodus treten, und quasi den Behördenhund von der Leine lassen, kommen Sie in eine ganz andere Begründungsdynamik. Dann müssen Sie jeden Fall einzeln akribisch nachprüfen, wenn ein Haus etwa bei Pankreas und Ösophagus mit dem Ausnahmetatbestand Notfall argumentiert – dann sehe ich schon ganze Gremien diskutieren, ob die Kriterien stimmten, dass jemand nicht in ein größeres Zentrum hätte verlegt werden können und, und, und. Ich bin skeptisch, ob das sinnvoll ist.
    Bei dem Ausnahmetatbestand organisatorischer oder haustechnischer Umbau gibt es einmal eine 2-Jahres- und einmal eine 3-Jahres-Übergangsregelung. Wenn ich da jetzt hingehe und das im Einzelnen von jedem Krankenhaus berichten lasse, ja gut, man könnte es machen, aber ich wäre da zurückhaltend.

    ? Sie berichten in Ihrer Publikation letztes Jahr noch von einigen Merkwürdigkeiten mehr. Sie schreiben von Punktlandungen in etlichen Statistiken, was meinen Sie?

    Der G-BA hat die konkreten Zahlenwerte bei einigen Eingriffen von 2004 auf 2006 erhöht. Bei Ösophagus und Pankreas wurde die Mindestmenge von 5 auf 10 Eingriffe angehoben. Wir sehen dann, dass überraschend viele Häuser im Jahr 2006 bei diesen beiden Operationen exakt 10 Eingriffe angeben, und vorher waren auffallend viele bei 5 Eingriffen im Jahr gewesen.

    ? Ein bisschen komisch …

    Ja. Da stellen sich jetzt Fragen, wie das geht, wird hier vielleicht tatsächlich mal eine OP ins nächste Jahr geschoben? Oder gar eine Indikation dann doch eher mal großzügiger gestellt. Wobei ich mir nicht sicher bin, wie Letzteres bei Ösophagus und Pankreas gehen soll, das sind ja wirklich schwere Erkrankungen.

    ? Bei der Knie-TEP sehen Sie solche Häufungen auch?

    Auch da haben wir mit dem Jahr 2006, in dem die Mindestmenge von 50 eingeführt wurde, eine auffällige Zunahme der Eingriffszahlen in manchen Krankenhäusern genau auf den Grenzwert von 50 Eingriffen.

    ? Ein Hinweis auf, ehem, ein bisschen Pflege der Statistik?

    Ja. Aber es sind am Ende einige Dutzend Krankenhäuser, wo man mal genauer hinschauen könnte. Diese Auffälligkeiten betreffen wenige Prozent der Häuser, die den Eingriff machen.

    ? Und selbst da halten Sie behördliche Daumenschrauben für unnötig?

    Natürlich möchte niemand falsche Angaben haben, aber wenn ich ein Prozent Falschangaben habe, naja …

    ? Es scheint, als wäre manche Fachgesellschaft strenger. Die Orthopäden haben bekanntlich längst ihr eigenes Zertifizierungsprojekt aufgesattelt, das Endocert. Ein Haus, das dieses Siegel haben will, muss im Jahr mindestens 100 Knie- und Hüft-Endoprothesen implantieren. Selbst einzelne Operateure müssen bestimmte Mindestmengen schaffen und die Fachexperten checken die Angaben in den Kliniken wohl auch bis auf Ebene mancher Patientenakten. Will sagen, die Fachszene kontrolliert das womöglich auch viel strikter?

    Wenn Fachgesellschaften eine dynamische Auseinandersetzung über Qualität führen, sich streiten und debattieren, von mir aus auch über Mindestmengen – dann ist das gut für die Qualität, da bin ich sehr dafür. Denn das ist eine ganz andere Dynamik als wenn irgendeine externe Behörde Zahlen und Formulare überprüft und Sanktionen setzt. Ich halte diesen Unterschied für entscheidend. Es ist ein großer Unterschied, wenn eine Debatte und eine Kontrolle von Qualität professionsintern läuft. Da machen die Leute, die Häuser dann auch mit.

    ? Und dennoch, nach Ihrer Studie bekamen im Jahr 2010 2048 Patienten von 147 111 eine Knie-TEP in einem Haus, das unter den Mindestmengen lag. Das ist etwa 1 % aller Behandelten – und das finden Sie offenkundig heute gar nicht so schlimm?

    Naja, das ist jetzt so moralisch.

    ? Darf man annehmen, dass Sie das Instrument Mindestmengen am Ende nicht so hoch schätzen?

    Wir wissen nach wie vor nicht, wie sehr es für die Qualitätsverbesserung taugt. Denn die Qualitätsindikatoren für die Eingriffe mit Mindestmengen gibt es erst seit ganz wenigen Jahren, auswerten können wir das erst in 3, 4 Jahren.
    Auf der anderen Seite ist das Instrument Mindestmenge bei einigen der Eingriffe sicher überholt. Bei allen Organtransplantationen haben wir Transplantationszentren, und -gesetze. Da ist das Thema Mindestmengen für Qualitätsverbesserungen nicht wirklich relevant. Bei Stammzelltransplantationen ist das Instrument womöglich sinnvoller, weil da viele neue Therapieverfahren zu gehören. Vielleicht auch bei der Knie-TEP.
    Und es gibt ja schließlich auch Studien, die sagen, dieser Surrogatindikator Mindestmenge steht nur für andere und noch zu verstehende Dinge, die sich vielleicht auf die Erfahrung eines oder mehrerer Operateure beziehen. Oder die sich auf die Erfahrung eines Behandlungsteams beziehen oder auch eine gute Nachsorge. Und dass dies nun alles so zusammen mit dieser Mindestmenge abgegriffen wird, das halte ich für problematisch. Vielleicht brauchen wir, wenn, dann eher Mindestzahlen für einzelne Operationsteams, wie es unlängst auch die Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik (AE) vorschlagen hat. 2004 mussten Kliniken angeben, wie viele Eingriffe jeweils die Operateure in dem Krankenhaus machen. Das wurde dann vom G-BA wieder aufgegeben.

    ? Das SGB V überträgt mit dem §137 dem G-BA die Aufgabe, sich um das Thema Mindestmengen weiterhin zu kümmern. Er soll Beschlüsse fassen über … einen Katalog planbarer Leistungen nach den §§ 17 und 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist sowie Mindestmengen für die jeweiligen Leistungen je Arzt oder Krankenhaus und Ausnahmetatbestände. Wenn Sie, wie gerade besprochen, die wissenschaftliche Basis dafür so wackelig finden, geht das überhaupt?

    Im Sinne eines Kompromisses aller Beteiligten in der Selbstverwaltung – Ja, das geht.

    ? Abschaffen wollen auch Sie die bestehenden Regelungen nicht?

    Nein. Gerade bei Eingriffen wie der Knie-TEP finde ich es richtig, wenn es eine Art Bodensatz gibt, dass ein Haus wirklich eine Mindestfallzahl schaffen sollte. Damit die bei kleineren Fallzahlen eher vorkommenden Komplikationen durch so eine untere Grenze vermieden werden.

    ? Und die Ziffer? Würden Sie es bei den 50 Eingriffen bei der Knie-TEP belassen?

    Ja.

    Das Interview führte BE

    Weitere Informationen
    • de Cruppé W, Malik M, Geraedts M. Umsetzung der Mindestmengenvorgaben - Analyse der Krankenhausqualitaetsberichte: Eine retrospektive Studie der Jahre 2004–2010. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 549-555

    • de Cruppé W, Geraedts M. Wie konstant halten Krankenhäuser die Mindestmengenvorgaben ein? Eine retrospektive, längsschnittliche Datenanalyse der Jahre 2006, 2008 und 2010. Zentralbl Chir 2015, DOI: 10.1055/s-0034–1383371

    • AE-Forderung nach personenbezogenen Mindestmengen: www.ae-germany.com/index.php?option=com_phocadownload&view=category&id=14&Itemid=119; Stand: 20.03.2015

    • Links zu dem Beschluss und den Meldungen des G-BA sowie zu den rechtlichen Grundlage im SGB V finden Sie unter www.thieme-connect.de/ejournals/zfou.


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    Dr. Werner de Cruppé, geboren 1965, arbeitet am Institut für Gesundheitssystemforschung der Universität Witten / Herdecke. Der Facharzt für Innere Medizin / Allgemeinmedizin und Psychosomatik befasst sich seit langem mit Fragen der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen. (Bild: Universität Witten / Herdecke)