Aktuelle Urol 2015; 46(03): 187-190
DOI: 10.1055/s-0035-1555687
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Maldeszensus testis – Histologische Befunde bei spät diagnostiziertem Kryptorchismus

Rezensent(en):
Elke Ruchalla

J Urol 2014;
192: 1183-1188
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Juni 2015 (online)

 

Bei kongenitalem Maldeszensus testis wird aufgrund des erhöhten Risikos für Fertilitätsstörungen und Malignome im Allgemeinen die chirurgische Korrektur empfohlen, wenn es nicht bis zum 6. Monat zu einem Deszensus des Hodens gekommen ist. Trotzdem finden sich immer wieder junge Männer, bei denen ein Kryptorchismus erst deutlich später entdeckt und behandelt wird. Eine Studie aus der Türkei untersuchte die Orchiektomiepräparate von Männern mit einem spät diagnostizierten Hodenhochstand.
J Urol 2014; 192: 1183–1188

mit Kommentar

Die histopathologischen Befunde nach später Orchiektomie eines nicht deszendierten Hodens sind variabel und zeigen häufig noch aktive Keimzellen in verschiedenen Reifungsstadien. Zu diesem Ergebnis kommen Artan Koni und Kollegen, die 51 Männer im Alter zwischen 20 und 24 Jahren in ihre retrospektive Auswertung aufgenommen haben.

Bei den Patienten war zwischen 2006 und 2010 im Rahmen einer Musterungsuntersuchung der einseitige Kryptorchismus als Zufallsbefund aufgefallen. Anschließend erfolgten bei normalem kontralateralem Hoden die Orchiektomie und die pathohistologische Aufarbeitung des Operationspräparats.

Beurteilt wurden dabei

  • die Dicke der Basalmembran,

  • der Durchmesser der Tubuli seminiferi,

  • Kalzifizierungen,

  • Vorliegen einer ITGCN (intratubular germ cell neoplasia),

  • Vorhandensein von Keimzellen und elongierten Spermatiden,

  • eine Leydigzellhyperplasie sowie

  • das Ausmaß einer interstitiellen Fibrose.

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Histologisches Bild einer weitgehend qualitativ intakten Spermatogenese. (Bild: Kliesch S. Diagnostik und Therapie in der Andrologie. In: Keck C, Hrsg. Kinderwunschbehandlung in der gynäkologischen Praxis. Stuttgart: Thieme; 2014)

Neben der Standard-Hämatoxylin-Eosin-Färbung erfolgte bei Nachweis von Keimzellen noch eine immunhistochemische Beurteilung mit Antikörpern gegen Oct3/4 und c-kit. Oct3/4 ist ein Transkriptionsfaktor mit hoher Sensitivität für ITGCN, Embryonalzellkarzinome und Seminome. Bei c-kit handelt es sich um einen Wachstumsfaktor-Rezeptor, der in Seminomen des Hodens und einer Reihe anderer Malignome überexprimiert ist.

Bei der Auswertung waren in 26 Hoden (51 %) noch Keimzellen in verschiedenen Entwicklungsstadien nachweisbar, in einem Fall auch elongierte Spermatiden. In 23 Fällen (45 %) fand sich keine Verdickung der Basalmembran, in 18 Fällen eine leichte, in 5 Fällen eine mäßige und in 4 Fällen ein ausgeprägte Verdickung; eine Hyalinisierung wurde in einem Fall nachgewiesen.

Bei 23 Patienten zeigten sich verminderte Durchmesser der Tubuli seminiferi, bei 6 Patienten dystrophe Kalzifizierungen und bei 12 eine Leydigzellhyperplasie. In allen Präparaten lag ein interstitielles Ödem vor, eine interstitielle Fibrose in 2 und eine Pigmentierung in 3 Präparaten. ITGCNs fanden sich in der Standardfärbung in keinem Fall, bei der immunhistochemischen Aufarbeitung der 26 daraufhin untersuchten Hoden zeigte 1 Fall eine ITGCN.

Fazit

Zumindest in dieser Patientengruppe war das Auftreten von Karzinomen bzw. Karzinom-Vorstufen in nicht deszendierten Hoden relativ gering, meinen die Autoren. Weiterhin wurden bei etwa der Hälfte dieser Hoden lebensfähige Keimzellen gefunden – vor allem bei fehlendem kontralateralem Hoden sollte die Indikation zur Orchiektomie zurückhaltend gestellt werden. Wird der Hoden nicht entfernt, muss der Patient über das ca. 2 %ige Malignomrisiko informiert und zur regelmäßigen Selbstuntersuchung angehalten werden. Bei Gewebeproben aus einem nicht deszendierten Hoden sollte zum Ausschluss eines Malignoms immer eine immunhistochemische Aufarbeitung erfolgen, da mit der Standardfärbung nicht alle Fälle nachweisbar sind.

Kommentar

Therapieentscheidung individuell treffen

Aktuell wird bei Maldeszensus testis eine Lagekorrektur vor dem Ende des 1. Lebensjahres empfohlen. Über das beste Vorgehen, wenn dies bis nach der Pubertät noch nicht erfolgt ist, herrscht Unklarheit. Bei einseitigem Hodenhochstand mit normalem Gegenhoden fällt häufig schnell die Entscheidung zur Ablatio in der Annahme, der maldeszendierte Hoden sei funktionslos und entartungsgefährdet.

Malignitätsrisiko beim Hodenhochstand

Die Angaben für die Inzidenz von Hodentumoren bei Patienten mit Hodenhochstand sind in dem Artikel unklar dargestellt, was allerdings der tatsächlichen Datenlage entspricht. Die diesbezüglich verfügbaren Daten entstammen meist retrospektiven Studien. Selten wird darin eine genaue Unterscheidung gemacht hinsichtlich initialer Hodenlage, Vortherapie und weiteren Faktoren, die ein erhöhtes Malignitätsrisiko mit sich bringen, wie z. B. das Vorhandensein weiterer urogentialer Fehlbildungen oder testikulärer Mikrolithiasis als Hinweise auf ein testikuläres Dysgenesie-Syndrom. Frühe retrospektive Studien aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stellten ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung um 20–48-fach erhöhtes Risiko der Karzinomentwicklung bei Patienten mit Hodenhochstand fest. Eine deutliche Überschätzung der Risiken in diesen Studien wurde jedoch bewiesen. Modernere Studien zeigen ein ca. 4,0–5,7-fach erhöhtes Risiko [ 1 ].

Vergebene Gelegenheit

Die Autorengruppe um Koni beschreibt hier Daten einer heute sehr seltenen und daher sehr wertvollen und zudem großen Patientengruppe von nicht therapierten spät-postpubertären Männern mit Hodenhochstand.

Leider sind keinerlei klinische Daten über Hormon- und Fertilitätsstatus und auch nicht der genaue Zustand des Gegenhodens erfasst worden, die es erlaubt hätten, die histologischen Befunde sinnvoll einzuordnen. Somit ist das an sich sehr große Potenzial dieser Studie nicht genutzt worden.

Einordnung der histologischen Befunde

Die Autoren beschreiben die Dicke der Basalmembran, Tubulusdurchmesser, Grad der interstitiellen Fibrose, Vorhandensein von Spermatogenese und von dystrophen Kalzifikationen, verschiedene Anzeichen der Hodendys- oder atrophie. Dabei bleiben sie in der Beschreibung rein deskriptiv, benutzen allenfalls nicht validierte eigene Einteilungen, eine Aussage bzgl. des Gesamtausmaßes pro Hoden wird nicht gemacht. Dies in Kombination mit fehlenden endokrinologischen Parametern erschwert es, die beschriebenen Ergebnisse in einen Gesamtkontext zu setzen.

Fixierung von Hodengewebe

Die Fixierung des Materials wird im Manuskript nicht explizit genannt. Anhand der Bilder und der erkennbaren Gewebeschrumpfungsartefakte ist von einer Fixierung mit Formalin auszugehen. Zur Beurteilung aller zellulärer Komponenten und insbesondere der Spermatogenese eignet sich Bouin- oder Stieve-Lösung besser, da diese – anders als Formalin – die Hodenarchitektur erhalten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Angabe von einem interstitiellen Ödem in 100 % der formalinfixierten Proben nicht zu verwerten.

Immunhistochemie unterstützt Nachweis von TIN-Zellen

Bereits seit den 1980er-Jahren werden zusätzlich zur routinemäßigen morphologischen Beurteilung von Hodenhistologien zur Diagnostik der TIN (testikulären intraepithelialen Neoplasie) immunhistochemische Marker eingesetzt. Am etabliertesten ist hierbei die plazentare alkalische Phosphatase (PLAP). Jedoch variiert die Wahl der Marker je nach Land und Labor. Weitere Marker sind die von den Autoren genannten OCT 3/4 und CD117 (auch c-KIT genannt), zudem M2A (D2–40) und AP-2γ, wobei auch die Fixierungsmethode relevant ist: In bouin- und stievefixierten Proben ist PLAP am robustesten, in formalinfixierten OCT 3/4 [ 2 ].

In diesem speziellen Patientenkollektiv muss bedacht werden, dass all diese Marker physiologischerweise auch auf gonadalen Stammzellen in unterschiedlichen Reifungsstadien exprimiert werden können und noch nicht geklärt ist, wie sich diese Expression bei Zellen eines maldeszendierten Hodens verhalten. Daher ist in der Diagnosestellung einer TIN die Kombination der morphologischen Auffälligkeit mit entsprechender Markerpositivität entscheidend [ 3 ].

Hodenfunktion beim Maldeszensus

Exokrin

Bei der Beurteilung der Spermatogenese gibt es verschiedene Scores, die helfen, neben der Qualität (Sind elongierte Spermien vorhanden?) auch die Quantität, d. h. die Ausbreitung über den Hoden zu beurteilen, so z. B. die Scores nach Johnsen oder Bergmann und Kliesch.

Auch wenn bei einem der Patienten elongierte Spermien gefunden werden konnten, die Spermatogenese also qualitativ intakt war, wird diese quantitativ sicher deutlich eingeschränkt gewesen sein.

Endokrin

Die in dieser Studie häufig vorhandenen Leydigzellhyperplasien in den kryptorchen Hoden weisen nicht wie von den Autoren interpretiert auf eine Resistenz der endokrinen Funktion der Leydigzellen, also der Testosteronproduktion, hin, sondern sind im Gegenteil Resultat eines aktivierten Feedbackmeachnismus und treten typischerweise bei einem Testosteronmangel auf. Eine Einschränkung der Enzymfunktion der Testosteronproduktion in den Leydigzellen bei erhöhter Temperatur, wie sie beim Hodenhochstand herrscht, ist bekannt [ 4 ].

Orchiektomie oder Orchidopexie des spät-postpubertären maldeszendierten Hodens?

Maldeszendierte Hoden können durchaus eine endo- und exokrine Funktion besitzen oder zumindest das Potenzial dazu.

Fälle von Spermien im Ejakulat von initial azoospermen Erwachsenen mit Maldeszensus testis einige Monate oder sogar Jahre nach Orchidopexie sind bekannt (z. B. [ 5 ]).

Endokrin können maldeszendierte Hoden durchaus aktiv sein, eine Lage- und somit Temperaturkorrektur vermag jedoch zu einer Optimierung der Testosteronproduktion führen. Die Malignitätsrate ist zudem wie auch in dieser Studie gezeigt gering.

Es stellt sich somit die Frage, ob eine wie in der vorliegenden Studie durchgeführte unkritische Orchidektomie eines maldeszendierten Hodens im Erwachsenenalter notwendig oder gerechtfertigt ist oder ob nicht eher die Orchidopexie mit gleichzeitiger Hodenbiopsie zum histologischen Nachweis oder Ausschluss eines Malignitätspotenzials dem Patienten angeboten werden sollte. Bei Azoospermie ist eine mikrochirurgische testikuläre Spermienextraktion in gleicher Sitzung sinnvoll, die ggf. nach einiger Zeit nach erfolgter Lagekorrektur wiederholt werden kann, insbesondere wenn die histologische Aufarbeitung eine fokal oder partiell erhaltene Spermatogenese anzeigt.

Fazit

Bezüglich des Hodenhochstands bestehen noch viele Unklarheiten. Insbesondere bei postpubertären Patienten mit unkorrigiertem Maldeszensus sollte eine umfassende Diagnostik inklusive Endokrinologie und Spermiogramm erfolgen und dann die Therapieentscheidung individuell getroffen werden.

Dr. Karen Czeloth, Münster


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Dr. Karen Czeloth


ist Fachärztin für Urologie und Andrologie am Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster

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  • Literatur

  • 1 Wood HM, Elder JS. Cryptorchidism and Testicular Cancer: seperating fact from fiction. J Urol 2009; 181: 452-461
  • 2 Oosterhuis JW, Stoop H, Dohle G et al. A pathologist‘s view on the testis biopsy. Int J Androl 2011; 34: e14-19
  • 3 McLachlan RI, Rajpert-De Meyts E, Hoei-Hansen CE et al. Histological evaluation of the human testis—approaches to optimizing the clinical value of the assessment: Mini Review. Hum Rep 2007; 22: 2-16
  • 4 Agarwal A, Hamada A, Esteves SC et al. Insight into oxidative stress in varicocele-associated male infertility: part 1. Nat Rev Urol 2012; 9: 678-690
  • 5 Matsushita K, Yamaguchi K, Li F et al. Achieved pregnancy with the delivery of a healthy child by TESE-ICSI 7 years after bilateral adult orchidopexy: a case report. Andrologia 2014; 46: 948-950

  • Literatur

  • 1 Wood HM, Elder JS. Cryptorchidism and Testicular Cancer: seperating fact from fiction. J Urol 2009; 181: 452-461
  • 2 Oosterhuis JW, Stoop H, Dohle G et al. A pathologist‘s view on the testis biopsy. Int J Androl 2011; 34: e14-19
  • 3 McLachlan RI, Rajpert-De Meyts E, Hoei-Hansen CE et al. Histological evaluation of the human testis—approaches to optimizing the clinical value of the assessment: Mini Review. Hum Rep 2007; 22: 2-16
  • 4 Agarwal A, Hamada A, Esteves SC et al. Insight into oxidative stress in varicocele-associated male infertility: part 1. Nat Rev Urol 2012; 9: 678-690
  • 5 Matsushita K, Yamaguchi K, Li F et al. Achieved pregnancy with the delivery of a healthy child by TESE-ICSI 7 years after bilateral adult orchidopexy: a case report. Andrologia 2014; 46: 948-950

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Histologisches Bild einer weitgehend qualitativ intakten Spermatogenese. (Bild: Kliesch S. Diagnostik und Therapie in der Andrologie. In: Keck C, Hrsg. Kinderwunschbehandlung in der gynäkologischen Praxis. Stuttgart: Thieme; 2014)