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DOI: 10.1055/s-0035-1557158
Falscher Fokus – Schmerz und Nozizeption
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
15. Juli 2015 (online)

Einleitung
Schmerz und Nozizeption sind nicht das Gleiche. Alter Hut, denken Sie? Warum versuchen dann viele Therapeuten in der Praxis noch immer, Schmerzen vor allem über die Hemmung der Nozizeption zu lindern?
Die Kernaussage der Autorin: Physiotherapeuten zielen mit ihren Techniken auf nozizeptive Prozesse und bilden sich ein, wenn sie die Nozizeption behandeln, geht automatisch der Schmerz weg –, weil sie glauben, dass die Ursache von Schmerz nozizeptive Prozesse sind. So wurden sie erzogen und im Auffinden von neuromuskuloskeletalen Dysfunktionen geschult. Sie wissen aber nicht, wie nozizeptive Prozesse und Schmerz zusammenhängen!
Ein Beispiel aus dem täglichen Leben gefällig? Die Autorin begegnet täglich gut aussehenden, sportlichen, witzigen und charmanten Männern. Das sind Inputs an ihr System. Ab und zu führen diese Inputs zu Emotionen: Sie verliebt sich. Wann? Warum? Wie? Warum manchmal nicht? Um diese Fragen geht es auch beim Schmerz! Etwas ist klar: es ist nicht linear, A führt zu B, und es ist nicht A = B.
Das erfolgreiche Behandeln von akuten und chronischen Schmerzpatienten bleibt eine große Herausforderung für die Kliniker, denn immerhin leidet ungefähr ein Fünftel der Menschen westlicher Länder an einem anhaltenden Schmerzproblem [3]. Um das Phänomen Schmerz besser verstehen zu können, wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine immense Anzahl von Grundlagenstudien an Tieren und Menschen durchgeführt, die detaillierte Erkenntnisse über Abläufe im Nervensystem auf Gewebe-, Zell- und molekularer Ebene lieferten.
Zudem wurden die Untersuchungsmethoden immer besser: Mit bildgebenden Verfahren lassen sich inzwischen Gewebe bis ins kleinste Detail nach potenziellen Triggern nozizeptiver Prozesse untersuchen. Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) ist es sogar möglich, die durch nozizeptive Reize im ZNS in Gang gesetzten physischen Prozesse zu messen.
Parallel dazu haben sich auch die manualtherapeutischen Fähigkeiten verfeinert. In der Aus- und Weiterbildung lernen Physiotherapeuten exzellent, neuromuskuloskeletale Dysfunktionen zu spüren.
Das Problem ist jedoch: Die genaueste Erfassung des Schmerzes von Patienten ergibt sich, indem sie selbst ihren Schmerz beschreiben: aus der sogenannten „First-Person-Perspektive“ ([ Abb. 1 ]). Diese bis dato beste Methode, den Schmerz von Patienten zu messen, bleibt auch dann noch ungenau, wenn der Zuhörer selbst einmal ein ähnliches Schmerzereignis erlebt hat. Das Empfinden eines Schmerzes ist nämlich so individuell, wie dasjenige von Liebe oder Trauer. Wie schwierig es ist, das Erlebte in treffende Worte zu fassen, sodass das Gegenüber nur annähernd eine Ahnung davon hat, was der Befragte spürt und fühlt, wird erst deutlich, wenn man selber in dessen Situation steckt.


Im Widerspruch dazu steht jedoch, dass die indirekten Kosten – verursacht z. B. durch chronische Rückenschmerzpatienten – in dieser Zeit tendenziell gestiegen sind [5], oder anders ausgedrückt: die Grundlagenforschung im Bereich der Schmerzwissenschaften hat offensichtlich nicht wesentlich dazu beigetragen, dass akute Schmerzpatienten effektiver behandelt werden können oder weniger Patienten chronifizieren.
Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass die Bezeichnung „Schmerzforschung“ eher als Nozizeptionsforschung zu betrachten ist, und ehrlicherweise wissen Forscher/Wissenschaftler nicht genau, wie Nozizeption und Schmerz genau zusammenhängen. Aus der Sicht der Autorin ist sehr fraglich, ob die Tatsache, dass alle diese Strukturen durch C- und A-delta-Fasern innerviert sind, automatisch bedeutet, dass diese Gewebe wesentlich zu akuten oder chronischen Rückenschmerzen beitragen. Die Schlussfolgerung, anhand der Nervenfaserdichte ließe sich Schmerz objektiv messen, ist jedoch schlichtweg falsch.
Das grundsätzliche Problem dabei besteht darin, dass sowohl in wissenschaftlichen Artikeln als auch in Kongressbeiträgen im Bereich Schmerzphysiologie die Begriffe „Schmerz“ und „Nozizeption“ oft als Synonyme verwendet werden. Diese Gleichsetzung ist nicht nur nicht korrekt, sondern trägt möglicherweise sogar dazu bei, dass das Management von chronischen Schmerzpatienten trotz der Flut an neuen Erkenntnissen nicht effektiver geworden ist.
Um die fachspezifischen Dysfunktionen im Kontext des Gesamtbilds eines jeden Patienten zu betrachten, erfordert es ein starkes und selbstkritisches klinisches Denken. Dies ist allerspätestens dann angebracht, wenn die Behandlung der Gewebedysfunktionen nicht den gewünschten anhaltenden Therapieerfolg im Sinne einer Schmerzreduktion bringt.
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Literatur
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- 3 Bogduk N, Tynan W, Wilson AS. The nerve supply to the human lumbar intervertebral discs. J Anat 1981; 132: 39-56
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- 18 Yoneda T, Hata K, Nakanishi N et al. Involvement of acidic microenvironment in the pathophysiology of cancer-associated bone pain. Bone 2011; 48: 100-105