Der Klinikarzt 2015; 44(6): 269
DOI: 10.1055/s-0035-1558438
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Doppelter Windsor

Günther J Wiedemann
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Publication Date:
26 June 2015 (online)

It is only shallow people who do not judge by appearances.

(Oscar Wilde)

Ist das Tragen einer Krawatte bei der klinischen Arbeit ein Hygienerisiko? Auf den ersten Blick scheint es plausibel, dass Schlipse die reinsten Keimschleudern sein müssten. Sie werden, im Gegensatz zu anderen Kleidungsstücken, selten gereinigt. In einer Umfrage räumten sogar 70 % der Schlips tragenden Ärzte ein, diese noch nie in die Reinigung gebracht zu haben. Ein lose baumelnder Binder kann mit keimbelasteten Flächen oder Sekreten in Kontakt kommen. Und beim Binden oder Zurechtrücken der Krawatte gehen die Keime auf die Hände des Arztes über (und umgekehrt).

Tatsächlich gibt es jedoch nach wie vor keine belastbare Evidenz, dass Patienten sich via Krawatte tatsächlich mit Mikroorganismen infizieren. Und das, obwohl mehrere Studien zeigten, dass Krawattenstoffe erheblich mit Krankheitserregern belastet sein können. Rund 30–50 % der untersuchten Krawatten waren kontaminiert, nicht selten mit problematischen Erregern wie Pseudomonas aeruginosa oder Staphylococcus aureus. Aus nachvollziehbaren Gründen trifft das normalerweise nicht für die Binder von Krankenhausangestellten im nichtmedizinischen Bereich zu, hier betrug die Keimdichte laut einer amerikanischen Studie nur ein Achtel der Keimbelastung beim ärztlichen Personal. Vorstellbar ist die Übertragung von pathogenen Keimen durch Schlips tragende Mediziner also ohne Frage. Dennoch halten vor allem Ärzte in leitenden Positionen gerne an der Krawatte zu weißem Kittel oder Jackett fest. Wieso wird ab einer bestimmten Hierarchieebene so hartnäckig die Krawatte umgeknotet? Ein typischer Fall von Eminenz statt Evidenz?