PPH 2015; 21(04): 212-213
DOI: 10.1055/s-0035-1558639
Rezensionen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Sie gelesen: Sexualität bei Menschen mit Demenz

Rezensent(en):
Christoph Müller
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. Juli 2015 (online)

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(Foto:Verlag Hans Huber)

Zu Irritationen führt es schon, wenn Sexualität im Alter angesprochen wird. Sexualität im Zusammenhang mit demenziellen Veränderungen zu thematisieren, kommt schon fast einem Tabu gleich. Glücklicherweise vermittelt das Buch „Sexualität bei Menschen mit Demenz“ nicht dieses unwohle Gefühl. Sachlich und an den betroffenen Menschen orientiert spricht die australische Pflege- und Sexualberaterin Elaine White die Sexualität bei demenziell veränderten Menschen an.

White lässt die nötige Offenheit nicht vermissen, wenn sie offenlegt, dass Pflegenden es peinlich sei, Sexualität anzusprechen. „Trotzdem machen die Betreuer häufig versteckte Anspielungen und kichern bei der Vorstellung, dass Menschen mit Demenz eine intime sexuelle Beziehung haben“, schreibt White. Sie hütet sich davor, die Gründe dafür zu analysieren. Vielmehr geht es ihr in dem Buch um Lösungsansätze und Pragmatismus.

Um die Anerkennung der Fakten geht es White, wenn sie betont, „dass Menschen mit Demenz ihre sexuellen Bedürfnisse offen und auf vielerlei Art zum Ausdruck bringen“. Wer die Phänomene aus der pflegerischen Praxis kennt, weiß um diese konkreten Äußerungen. Dieses unangenehme Verhalten deute nicht selten auf unerfüllte sexuelle Bedürfnisse hin.

White nimmt dem Thema Sexualität bei Menschen mit Demenz die Dramatik, indem sie erst einmal einige Erklärungsversuche macht. Sie beschreibt den Zusammenhang von Hirnabbauprozessen und dem Wunsch nach Sexualität. Damit sei erwiesen, schlussfolgert sie, „dass das sexuell unangemessene Verhalten von Menschen mit Demenz keine Absicht ist“. Ist der Pflegende von einer konkreten Übergriffigkeit betroffen, helfen Rationalisierungen erst einmal nicht. Dieser Ebene stellt sich White in ihrem Buch jedoch nicht. Sie sieht das Phänomen mit der Brille der betroffenen Menschen an.

Dies macht sie auch, wenn sie sich mit Inkontinenz und Nykturie, vor allem aber auch mit Homosexualität in diesem Kontext beschäftigt. White mutmaßt, dass Betroffene und deren Partner(innen) die Reaktionen der heterosexuellen professionellen Betreuer(innen) fürchteten und ruft in Erinnerung: „Sie sollten bedenken, dass jede homophobe Äußerung […] die Betroffenen oder ihre Partner […] an frühere diskriminierende Erlebnisse erinnert und Unruhe, Angst und Niedergeschlagenheit in ihnen auslöst.“

Das Buch erscheint als Gewinn für diejenigen, die sich in der Begleitung und Pflege gerontopsychiatrisch veränderter Menschen bewegen. Statt in der Praxis zu kapitulieren, zeigt White den pflegerischen Praktikern auf, wie ein diffiziles Phänomen im pflegerischen Alltag gelöst werden könnte. Das Buch als Patentrezept zu verstehen, geht sicher an den Fakten vorbei. Es ist aber eine unverzichtbare Unterstützung, die es vermeidet, besserwisserisch daherzukommen. Immer wieder scheint in kleinen, scheinbar randständigen Beschreibungen auf, wie unproblematisch manche Sorge gelöst werden kann. „Ungestörtes Zusammensein mit dem Ehepartner oder Partner in einer Atmosphäre, in der beide sich willkommen und geborgen fühlen, ist wichtig, da die vertraute Nähe während der sexuellen Aktivität die durch die Trennung vom Ehepartner/Partner ausgelöste Angst dämpfen kann.“

Es stellt sich die Frage, weshalb manches immer noch nahezu unmöglich erscheint, beispielsweise im stationären Kontext. White schlägt vor: „Es gibt viele Möglichkeiten, den Betroffenen zu helfen, ihre Sexualität auf sinnvolle Art auszuleben oder in andere Bahnen zu lenken. Wenn eine der genannten Möglichkeiten (unter anderem sexuelle Hilfsmittel und ungestörtes intimes Zusammensein; Anm. d. Rezensenten) zum Einsatz kommt, werden weniger Medikamente gebraucht, um die Betroffenen ruhig zu stellen oder chemisch zu kastrieren.“

Christoph Müller