physioscience 2016; 12(01): 40-41
DOI: 10.1055/s-0035-1567071
Tagungsbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom Modell auf Probe zum Modell der Zukunft: Akademisierung der Gesundheitsberufe

Tagung der Robert-Bosch-Stiftung in Kooperation mit der Hochschule Fresenius am 02.11.2015 in Berlin
R. Richter
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Publication Date:
04 March 2016 (online)

Die Tagung versprach durch die personelle Besetzung der Programmpunkte spannend zu werden, und erfüllte diese Erwartungen auch ([Abb. 1]). Dazu trugen gerade die selbstkritische Diskursivität der Beiträge sowie eine kritische Betrachtung politischer Potenziale für eine erfolgreiche Akademisierung der Gesundheitsberufe bei.

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Abb. 1 Susanne Klotz, Norina Lauer, Andrea Rädlein, Axel Ekkernkamp, Heidi Höppner und Marion Schmidt (v.l.) auf dem Podium.

Marie-Louise Klotz (Vorstand COGNOS AG, Trägerin der HS Fresenius) betonte in ihrer Begrüßung die Relevanz der Veranstaltung für eine politische Entscheidungsfindung zur Akademisierung speziell der Therapieberufe im Jahr 2016 im Rahmen des Modellklauselgesetzes.

Kirsten Lieps (Robert-Bosch-Stiftung) und Andreas Pinkwart (Minister für Wissenschaft und Innovation des Landes NRW a. D., Rektor der HHL/Leipzig) fokussierten auf die bekannten Begründungszusammenhänge für eine Akademisierung. Die Sicherung zukünftiger Versorgungsbedarfe hängt demnach zentral von der Fähigkeit zukünftiger Therapeuten ab, sich angemessener, wissenschaftlich fundierter Denk-, Entscheidungs- und Handlungsstrategien in interdisziplinären Kontexten zu bedienen (Lieps). Dem entgegen stehen allerdings eine bislang unzureichende Akademisierungsquote in den Therapieberufen von 2,4 % und ein zu streng hierarchisches, arztzentriertes deutsches Gesundheitssystem (Pinkwart).

Als ein Beispiel für eine gelungene Vollakademisierung stellte Astrid Schämann (Leiterin des Instituts für Physiotherapie, ZHAW/Schweiz) den Prozess in der Schweiz vor. Sie betonte, dass ein solcher Prozess mindestens 20 Jahre in Anspruch nimmt, und sich die Schweiz nach 10 Jahren noch im Prozess befinde. Positive Potenziale für ein Gelingen sieht Schämann vor allem in berufspolitischer Geschlossenheit, klaren politischen Entscheidungen, Übergangsregelungen für die bestehenden Schulen sowie im niedrigschwelligen nachträglichen Titelerwerb für schulisch ausgebildete Therapeuten.

Roy Kühne (MdB) relativierte die hehren Ansprüche der Akademisierung für eine optimale Patientenversorgung. Er stellte heraus, dass es bei einer politischen Entscheidung zur Akademisierung der Heilmittelerbringer letztendlich um Verteilungskämpfe knapper Ressourcen – also um Geld – geht. Demzufolge müssen zunächst mithilfe der Wissenschaft Fragen geklärt werden, in welcher Weise die Akademisierung zu einer Kostendämpfung beitragen kann und wie die zukünftigen studierten Heilmittelerbringer bezahlt werden. Eine Rüge erteilte Kühne den Heilmittelverbänden, welche es bislang versäumten, Lobbyarbeit zu betreiben und die Berufe aus ihrem politischen Schattendasein herauszuführen. Die Politik sei zwar aufgefordert, eine Akademisierung dauerhaft gesetzlich zu verankern, verhalte sich aber aufgrund von Orientierungslosigkeit widerständig.

Axel Ekkernkamp (u. a. Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie des UKB Berlin) sprach in diesem Zusammenhang von einer Überforderung der Politik, da von Seiten der Heilmittelerbringer zu widersprüchlich und kleinteilig argumentiert würde und übergeordnete Themen im Bereich zentraler gesundheitsfeldbezogener Herausforderungen nicht bedient werden. Gerade die Erfordernis, dass studierte Therapeuten an Patienten arbeiten sollten, werde nicht erfüllt, da ein Studium bislang in der Regel vom Patienten wegführt.

Andrea Rädlein (Vorsitzende ZVK) hielt dem entgegen, dass studierte Therapeuten momentan in der Praxis nicht finanziert werden könnten und daher keine angemessenen Arbeitsplätze existieren. Gleichzeitig, so betonten Andrea Rädlein und Susanne Klotz (Sprecherin des BundesStudierendenRats) sei in der Praxis der Mehrwert der studierten Therapeuten durchaus bekannt und geschätzt. Mit dieser Äußerung bezogen sie sich nicht zuletzt auf die ebenfalls im Rahmen der Tagung präsentierte Evaluation der Modellstudiengänge (Dokumentation unter: www.mgepa.nrw.de).

Ingrid Darmann-Finck (Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen) und Bernd Reuschenbach (Katholische Stiftungsfachhochschule München) hoben hervor, dass der Wert einer hochschulischen Qualifikation in einem insgesamt höheren Kompetenzniveau liege, welches unter anderem zum Aufbau sowie zur wissenschaftlich fundierten Reflexion von Arbeitsbündnissen sowohl mit Patienten in komplexen Handlungssituationen als auch mit Kollegen befähige. Damit ließe sich die Versorgungsqualität erhöhen, und es sei gemäß der Evaluation ein Mehrwert des Studiums gegenüber der Ausbildung nachweisbar. Allerdings gebe es aktuell in der Umsetzung von Studiengängen erhebliche Schwierigkeiten durch das Modellklauselgesetz, welches eine Reihe von schulischen Regelungen mitgelten lässt, die eine studienkonforme Umsetzung und damit Innovation behindern. Somit empfehlen die Autoren, die Ausbildung in den Therapieberufen in eine hochschulische Erstausbildung im Regelbetrieb zu überführen.

Vor den Unwägbarkeiten einer Vollakademisierung der Heilmittelerbringer warnte indes Hans-Jochen Heinze (Vorsitzender des Ausschusses Medizin des Wissenschaftsrates, WR). Eine Akademisierung der Berufe habe systemische Auswirkungen und müsse daher mit Bedacht ausgeführt werden. Auch er betonte wie Ekkernkamp, dass eine wissenschaftliche Qualifizierung die Arbeit am Patienten verbessern solle. Heinze erläuterte zunächst das Zustandekommen der Empfehlung des WR von 10 – 20 % Akademisierung in den Gesundheitsberufen. Demnach gehe man im Falle komplexer Handlungssituationen im klinischen Bereich von einer akademisierten Person von 5 – 6 Pflegenden auf einer Station aus, die das Team entsprechend steuern soll. Dies lässt allerdings die Tatsache außer Acht, dass im Falle der Therapieberufe die Mehrzahl der Therapeuten im ambulanten und rehabilitativen Bereich arbeitet. Anders als im klinischen Bereich sind die Handlungsanforderungen hier viel heterogener und differenzierter. Grundsätzlich befürwortet Heinze eine Akademisierung unter dem Fokus der Interprofessionalität und mit dem Ziel wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Versorgungsprozesse. Das Medizinstudium müsse hierzu ebenso weiterentwickelt werden wie die Ausbildung der Gesundheitsfachberufe, z. B. innerhalb von Gesundheitscampi, die bereits in den Ausbildungen ein interprofessionelles Handeln am Patienten anbahnen. Trotz aller positiven Aspekte der Akademisierung stehe jedoch die Frage im Raum, wo akademisierte Therapeuten bislang gesucht und eingesetzt werden sowie wie deren Bezahlung erfolgen soll.

Anne Friedrichs (Präsidentin der Hochschule für Gesundheit Bochum) problematisierte die Umsetzung der Hochschulausbildung. Optimistisch formulierte sie, dass es keine Frage mehr sei, ob, sondern wie die Akademisierung erfolgen solle. Es fehle indes bislang an wissenschaftlichem Personal für die Hochschulen, so dass häufig die erforderliche Sorgfalt und Qualität in den vorhandenen Studiengängen zu kurz kommt. Die Schaffung eines akademischen Kompetenzprofils sei erforderlich, welches die Beziehung der Lernorte Theorie und Praxis, den wissenschaftlichen Anspruch und die Gestaltung des Praxisbezugs beschreibt. Dabei müsse auch die Interprofessionalität verstärkt in den Fokus gelangen. Vor allem sei aber die Politik gefordert, die Grundlagen für eine dauerhafte Akademisierung zu schaffen. Die Aufgabe der Hochschulen ist der Nachweis von Vorteilen in der Patientenversorgung.

Die Notwendigkeiten und Chancen einer Akademisierung und interprofessionellen Kooperation für die Patientenversorgung betonte auch Joachim Jockwig (Vizepräsident HS Fresenius). Allerdings beschäftige dieses Thema seit 30 Jahren das Gesundheitswesen, passiert sei jedoch wenig. Die Defizite seien erkannt, aber ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit, fehlende Konzepte und die Arztzentrierung bei der Patientenversorgung lassen notwenige Veränderungen schwierig und zäh werden. Der Versorgungsauftrag erfahre eine qualitative sowie quantitative Veränderung, ohne dass sich die Versorgungs- und Ausbildungsstrukturen ausreichend anpassen.

Heidi Höppner (Vorstandsmitglied Hochschulen für Gesundheit e. V.) griff dieses Postulat auf, indem sie betonte, Versorgungs- und Bildungsbedarfe könnten nur in Einheit diskutiert werden. Der Akademisierungsprozess sei ein „zartes Pflänzchen“, welches mit Bedacht und Vorsicht entwickelt werden müsse. Das Praxisfeld sei noch nicht ausreichend offen und bereit für die akademisierten Therapeuten. Diese wären häufig von den vielfältigen Anforderungen an sie, aber auch von den Widerständen gegen sie überfordert. Dies müsse sich ändern, um die Akademisierung nicht zu einem marginalen Bereich werden zu lassen, in dem sich einige Wenige für Forschung und Lehre qualifizieren und somit die Potenziale einer wissenschaftlichen Qualifikation nicht in der Versorgungspraxis entfaltet werden können.

Abschließend stellte Botho von Portatius (Präsident Hochschule Fresenius) fest, dass die politischen Bedingungen aufgrund schwerwiegender anderer Themensetzungen für die Akademisierung ungünstig seien. Allerdings reagiere die Politik auch schon geraume Zeit mit dem Herausreden auf ungeklärte Zuständigkeiten und spezifische deutsche Bedingungen, was sowohl für die Lernenden in den Berufen als auch für die Patienten nicht glaubwürdig scheint. Die Berufe sollten daher gegenüber der Politik geschlossen und unbequem auftreten.

Zusammenfassend entfaltete die Veranstaltung ein überaus kritisches Potenzial, welches nicht nur die Verantwortung der Politik für erforderliche und strukturierende Veränderungen nachhaltig betonte, sondern gesundheitssystembezogene Missstände ebenso thematisierte, wie sie die Berufspolitik sowie die Hochschulen und die berufliche Praxis selbstkritisch in die Pflicht nahm, klare, begründbare Positionen zu erarbeiten und gesellschaftliche Wirkung zu entfalten. Als Fazit stellte sie die Akademisierung der Therapieberufe in Deutschland als einen überaus notwendigen Prozess dar, dessen Ausgang und Ziel jedoch bislang nicht entschieden sind.