physioscience 2016; 12(04): 158-160
DOI: 10.1055/s-0035-1567144
Wissenschaftlicher Diskurs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Blankoverordnung oder Direktzugang – Die Patienten müssen die Gewinner sein

Blank Prescription or Direct Access – Patients Must Be the Winners
M. Wich
1   BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin gGmbH / Klinikum Dahme-Spreewald
,
J. Räbiger
2   Alice Salomon Hochschule Berlin
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Publication Date:
07 December 2016 (online)

Einleitung

Das neue Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG), das voraussichtlich im Jahre 2017 in Kraft treten wird [2], hat die Frage „Blankoverordnung“ oder „Direktzugang“ auf den Plan gerufen. Dieser Beitrag berichtet über den Stand der Diskussion und arbeitet die Unterschiede zwischen den beiden Versorgungsformen heraus, um die Chancen und Risiken für die Beteiligten zu verdeutlichen.

Der am 31.08.2016 vom Kabinett beschlossene HHVG-Entwurf sieht die bundesweite Einführung von Modellvorhaben zur Erprobung der sogenannten Blankoverordnung in der Physio- und Ergotherapie sowie der Logopädie vor. Die Überprüfung dieser Modelle wird Ausgangspunkt einer Entscheidung sein, ob sich diese als reguläre Versorgungsformen eignen. Die gesetzliche Grundlage dazu findet sich im § 63 SGB V und dem noch zu schaffenden § 64 d SGB V.

Das enge Korsett der bisherigen gesetzlichen Regelung (Heilmittelrichtlinien) und der damit verbundenen Abhängigkeit von der detaillierten ärztlichen Verordnung führte auf Seiten der Therapeuten – insbesondere der Physiotherapeuten – zum Ruf nach mehr Therapiefreiheit. Sie argumentieren dabei auch mit dem Wohl der Patienten, denen im derzeitigen Verordnungssystem kaum eine Mitsprache bei der physiotherapeutischen Behandlung möglich ist. Einen Schritt zu mehr Therapiefreiheit und Patientenmitbeteiligung stellt die Blankoverordnung dar, bei der die Heilmittelerbringer auf Grundlage der ärztlich festgestellten Diagnose und Indikation selbst über Art, Dauer und Frequenz der therapeutischen Behandlung entscheiden und die Patienten miteinbeziehen können.

Im Gegensatz dazu ist der Direktzugang ein Versorgungsmodell, das über die Blankoverordnung hinausgeht und sowohl bei Ärzten als auch in der Politik umstrittener ist. In diesem Fall suchen die Patienten bei Beschwerden zuerst Physiotherapeuten auf, d. h. die Verordnung mit der ärztlichen Diagnose entfällt. Stattdessen führen die direkt kontaktierten Therapeuten jeweils ein sogenanntes Screening durch, bei dem sie feststellen, ob sie die Symptomatik selbst behandeln können oder eine Vorstellung beim Arzt vorzuschalten ist.

Die Frage Blankoverordnung oder Direktzugang hat neben der fachlichen insbesondere auch eine politische Dimension. Das bereits 2015 veröffentlichte Positionspapier der Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag mit dem Titel „Heilmittelerbringer direkter in die Versorgung einbinden“ hat den lang bestehenden Disput zwischen Physio-/Ergotherapeuten und Logopäden auf der einen und der Ärzteschaft auf der anderen Seite neu entfacht [4] [7] [8].

Die Ärzteschaft traut den Physiotherapeuten aufgrund ihrer spezialisierten Ausbildung zwar eine größere Entscheidungsfreiheit bei der Therapiewahl zu, sieht aber die Grenze beim Arztvorbehalt (§§ 15, 28 SGB V) mit der ärztlichen Kernkompetenz in der Diagnosestellung, die immer vor einer Therapie stehen müsse. Der Gesetzgeber und die juristische Praxis sehen allerdings keinen Ausschließlichkeitsanspruch für den Arzt. Durch das „Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung“ erhielten nicht nur Heilpraktiker, sondern mit einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 3 B 64.12; [3]) erstmals auch Physiotherapeuten direkten Zugang zur Patientenbehandlung [7] [8]. Die Ärzteschaft entgegnete auf dem 118. Deutschen Ärztetag, dass keine kurative Behandlung ohne eine fundierte Diagnostik und einen Ausschluss von Kontraindikationen – was nur vom Arzt geleistet werden könne – durchgeführt werden darf [6]. Der Deutsche Ärztetag verwies in einer Entschließung aber auch auf die aktuell laufenden Modellvorhaben zur Substitution ärztlicher Leistungen, die es zunächst zu bewerten gilt, und forderte eine Anhebung der Ausbildungsstandards in den Heilberufen [6].

In Berlin und Brandenburg führen die Innungskrankenkasse (IKK) und der Verband Physikalische Therapie (VPT) bereits seit einigen Jahren ein Modellprojekt zur Blankoverordnung durch [14]. Einbezogen sind Patienten mit einer Muskel- oder Skeletterkrankung (WS1, WS2, EX 1 – 3) oder chronischen Schmerzen (CS). Die gesetzliche Grundlage ist der § 63 Abs. 3b SGB V (Modellvorhaben), der die Erprobung einer anderen als der oben genannten Aufgabenverteilung zwischen Ärzten und Physiotherapeuten zum Zweck der Weiterentwicklung der Versorgung erlaubt. Zwar wird der Heilmittelkatalog im Fall dieser sogenannten Blankoverordnung nicht außer Kraft gesetzt, aber Physiotherapeuten können Heilmittelkombinationen verwenden, die der aktuelle Katalog nicht vorsieht, aus Sicht der Therapeuten aber wirksam und sinnvoll erscheinen. Soweit der aktuelle Gesetzesstand. Zur Begründung des Modellvorhabens Blankoverordnung heißt es dazu im HHV-Gesetzentwurf, dass künftig in jedem Bundesland und für alle Heilmittelerbringer (Physio-/Ergotherapeuten, Logopäden) Projekte durchgeführt werden sollen, die den Heilmittelerbringern größere Handlungsspielräume gewähren [2].

Der größeren Behandlungsfreiheit der Therapeuten steht eine geringere Fehleranfälligkeit bei der formellen Verordnung gegenüber, weil der Arzt nur noch die Diagnose und den Indikationsschlüssel eintragen muss. Das kommt den Therapeuten, Ärzten und letztlich auch den Patienten zugute, da die Behandlung ohne Zeitverzug durch die allfälligen Rezeptkorrekturen begonnen werden kann [15]. Die Patienten profitieren von der Behandlungsfreiheit vor allem auch deshalb, weil ihnen eine direkte Beteiligung an der Therapieentscheidung ermöglicht wird.

Das Modellprojekt von IKK/VPT und ein zweites der BIG-Direktkrankenkasse mit dem Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten (IFK; [1]), das in Berlin und in Westfalen-Lippe die Blankoverordnung erprobt, werden wissenschaftlich begleitet. Die Evaluationen der beiden Modellprojekte ergaben erste positive Ergebnisse in Bezug auf Schmerzreduktion und Patientenzufriedenheit [18]. Mit der Endauswertung wird im ersten Halbjahr 2017 zu rechnen sein.

Da im Fall des Direktzugangs das prätherapeutische Screening anstelle der ärztlichen Untersuchung und Diagnosestellung tritt, wird eine spezielle Ausbildung der Therapeuten als erforderlich angesehen. In den Niederlanden, wo es den Direktzugang seit 2006 gibt, wurde ein Screening-Modul im Umfang von ca. 60 Stunden als Pflichtprogramm in das Curriculum der Physiotherapie-Studiengänge eingebaut. Nach abgeschlossenem Studium sind in den Niederlanden alle Physio-/Ergotherapeuten und Logopäden berechtigt (nicht verpflichtet), den Direktzugang anzubieten. Diese zusätzliche Qualifikation, die auch den Forderungen des Deutschen Ärztetages und einem Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz nahekommt, fehlt hierzulande bisher sowohl in der berufsfach- als auch hochschulischen Ausbildung der Heilmittelberufe. Die Berufsverbände und der Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe (HVG) arbeiten jetzt daran, diese Lücke zu schließen. Die neuen berufsqualifizierenden Studiengänge [13] bieten gute Voraussetzungen, dass die für den Direktzugang benötigten Kompetenzen systematisch vermittelt werden können.

Der gesetzlichen landesweiten Einführung des Direktzugangs ging in den Niederlanden eine mehrjährige Erprobungsphase voraus [17]. Ein ähnlicher Modellversuch in Schottland konnte sogar Einsparungen nachweisen, im Wesentlichen im Bereich der Kosten für Röntgenaufnahmen, Medikamente und Arbeitsunfähigkeitstage [14]. Das niederländische System des Direktzugangs besteht seit nahezu 10 Jahren und ist in allen Aspekten (Qualifikationsanforderungen, freiwillige Teilnahme für Physiotherapeuten und Patienten, Vergütung und Qualitätssicherung) für Deutschland interessant, aber nicht direkt übertragbar.

Die Einführung von Modellversuchen zur Erprobung des Direktzugangs wird auch hierzulande gefordert – sowohl seitens des Spitzenverbands der Heilmittelverbände (SHV; [19]) als auch der Gesundheitsministerkonferenz (GKM). Im Beschluss der GMK wird das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gebeten zu prüfen, ob im Rahmen eines Direktzugangs für noch festzulegende Indikationen Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden können, „soweit sie [die Heilmittelerbringer] hierzu aufgrund ihrer Ausbildung qualifiziert sind“ [10]. Der Gesundheitsausschuss des Bundesrates hat sich der Bitte der GMK angeschlossen und in seinem Entschließungsantrag gefordert, über die Blankoverordnung hinaus gesetzliche Rahmenbedingungen für die modellhafte Erprobung des Direktzugangs zu schaffen [9].

Angesichts der eindeutig ablehnenden Haltung der Bundesregierung zum Direktzugang [5] ist zu bezweifeln, dass es in absehbarer Zeit auch Modellversuche zum Direktzugang geben wird. Diese Haltung steht aber im Widerspruch zum Votum der Bundesländer (GMK) und der Berufsverbände. Der Spitzenverband der GKV, der einem Modellversuch zum Direktzugang eher skeptisch gegenübersteht und auf die rechtlich und finanziell noch nicht erfüllten Voraussetzungen verweist [11], wird sicher nicht nur die Risiken, sondern auch die Vorteile dieser neuen Versorgungsform sehen: die Versicherten hätten mehr Wahlfreiheit und – wie die schottische Studie zeigt [14] – sind Einsparungen bei den Gesamtkosten möglich.

Den Ärzteverbänden, die dem Direktzugang bisher am schärfsten widersprechen [18], sollte dennoch bewusst sein, dass die Ärzte auch bei dieser Versorgungsvariante eine wesentliche Rolle spielen: bei den Patienten, die sie gemeinsam mit dem Heilmittelerbringer betreuen, bei den vom Heilmittelerbringer an sie „überwiesenen“ Patienten sowie bei den Patienten, die den Direktzugang nicht in Anspruch nehmen können oder wollen. In den Niederlanden macht die zuletzt genannte Gruppe rund zwei Drittel aller Patienten mit muskuloskeletalen Erkrankungen aus und ist im Laufe der vergangenen 10 Jahre kaum geringer geworden [17].