Der Klinikarzt 2015; 44(10): 427
DOI: 10.1055/s-0035-1567843
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diagnostischer Schadenzauber

Günther J Wiedemann
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Publication Date:
04 November 2015 (online)

„Diagnosen sind Namen für ein unbekanntes Drama.“

(Thure von Uexküll, 1908–2004)

Im DRG-System erfolgt die Kodierung und Abrechnung von Haupt- und Nebendiagnosen nach ICD-10-GM. Doch was bedeuten diese Begriffe und Abkürzungen, die jedem Arzt so geläufig über die Lippen gehen, denn tatsächlich inhaltlich?

Hier lohnt sich, wie so oft, das Nachlesen von Basisinformationen bei Wikipedia. Dort steht: „Diagnosis Related Groups (DRG; deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen) bezeichnen ein Klassifikationssystem für ein pauschaliertes Abrechnungsverfahren, mit dem Krankenhausfälle (Patienten) anhand von medizinischen Daten, sog. Leistungsbezeichnern (Haupt- und Nebendiagnosen, Prozedurenkodes, demografische Variablen) Fallgruppen aufgrund ihrer methodischen Ähnlichkeit zugeordnet werden… Die auf DRG reduzierten Pauschalen stellen ein konsensbasiertes Umlagemodell dar. Sie dienen nicht der Kostenerfassung und nicht der Preisbildung nach den tatsächlichen betriebswirtschaftlichen Kosten der Behandlung.“

Interessant. Patienten kommen in Klammern vor, ärztliche Diagnosen (ebenfalls in Klammern) sind „Leistungsbezeichner“.

Weiter geht es mit dem ICD-10-GM, genauer: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Deutsche Fassung (GM – German Modification). Sie entwickelte sich über Jahrzehnte von einer Auflistung ausschließlich tödlicher Krankheiten zu einem Verzeichnis der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme – hier sind also offenbar auch Grauzonen jenseits klassischer Diagnosen akzeptiert. Nachzulesen ist die ganze Entwicklung unter http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/historie/ilcd-icd10/index.htm.

Das alles klingt wunderbar geordnet und durchkategorisiert. Die Codes suggerieren Neutralität und Objektivität. Bleibt im klinischen Alltag also nur die Festlegung auf Haupt- und Nebendiagnosen, und schon kann die Abrechnung zum Wohle des Hauses erfolgen. Doch wer über der angemessenen Verschlüsselung nach ICD brütet, den beschleichen unweigerlich Zweifel an seinem Tun. Wer damit normalerweise keine Berührungspunkte hat, sollte sich interessehalber im Forum auf http://www.mydrg.de umsehen. Hier tauschen sich Kodierer über Tipps und Tricks aus. Dort wird deutlich, dass es tatsächlich nicht um Patienten, sondern um „Behandlungsfälle“, nicht um angemessene Diagnosen, sondern um „Leistungsbezeichner“ geht. Und dass beim Kodieren Kreativität gefragt ist, um mit geschickter Wahl der Haupt- und Nebendiagnosen unterm Strich den besten Ertrag zu erzielen.

Für den Umgang mit Abrechnungsstellen in Kliniken und Kassen mag solche Kreativität angemessen, vielleicht sogar eine Art Notwehr sein. Doch was bewirkt die auf größtmögliche Erlöse getrimmte umfangreiche Liste von Diagnosen eigentlich beim Patienten, sobald er seinen Entlassbrief in der Hand hält oder eine Kopie des Arztbriefes bekommt?