Epidemiologie
Zur Verletzung der Strecksehnen kommt es hauptsächlich durch eine direkte Durchtrennung
der Strecksehnen, jedoch können auch Quetschungen, Abrasionsverletzungen, Verbrennungen
oder Ausrissverletzungen zur Läsion der Strecksehnen führen. Begleitend zu den Sehnenverletzungen
können auch Frakturen vorliegen [1]. Auch geschlossene Verletzungen über den proximalen oder distalen Interphalangealgelenken
können Strecksehnenverletzungen nach sich ziehen [2]. Generell sind Strecksehnenläsionen häufiger als Beugesehnenläsionen [3]. Häufig kommt es zum Abriss der Strecksehne bei Arbeitsunfällen, höchste Inzidenzrate
findet man unter den 20–29-jährigen Männern [4]. Neben den traumatischen Ursachen darf man aber auch die degenerativen Rupturen
bei rheumatoiden Vorerkrankungen [5] sowie Spontanrupturen nicht vergessen [6].
Anatomie
Wir unterscheiden beim Streckapparat zwischen einem äußeren und einem inneren System.
Die Muskeln des äußeren oder extrinsischen Systems befinden sich am Unterarm, die
des inneren oder intrinsischen an der Mittelhand. Die Muskeln des extrinsischen Systems
sind die Finger- und Daumenstrecker, die des intrinsischen die Interossei und Lumbricales
sowie Muskeln des Daumen- und des Kleinfingerballens. Die Sehnen beider Systeme bilden
über Längs- und Querverbindungen ein Geflecht. Die extrinsischen Sehnen verlaufen
auf Höhe des Handgelenks in 6 Fächern und stehen am Handrücken über Connexus intertendinei
miteinander in Verbindung (siehe [Abb. 1]). Verletzungen einer Sehne proximal eines solchen Connexus können deshalb in gewissem
Umfang von den Nachbarsehnen kompensiert werden.
Abb. 1 Anatomie der Strecksehnenfächer. 1 Abductor-pollicis-longus-Sehne (APL) und Extensor-pollicis-brevis-Sehne
(EPB); 2 Extensor-carpi-radialis-longus-Sehne (ECRL) und Extensor-carpi-radialis-brevis-Sehne
(ECRB); 3 Extensor-pollicis-longus-Sehne (EPL); 4 Extensor-digitorum-II–IV-Sehnen
(ED) und Extensor-indicis-Sehne (EI); 5 Extensor-digiti-minimi-Sehne (ED V); 6 Extensor-carpi-ulnaris-Sehne
(ECU); * Connexus intertendinei [7].
Am Finger bilden die extrinsischen Sehnen den Mittelzügel, der an der Basis der Grund-
und der Basis der Mittelphalanx sowie über feine Faserzüge an der Basis der Endphalanx
inseriert ([Abb. 2]) [7].
Abb. 2 * Schematische Darstellung der Ansatzpunkte des extrinsischen Systems am Skelett.
An der Grundphalanx strahlen von beiden Seiten die aponeurotisch auslaufenden Sehnen
der intrinsischen Muskeln als Seitenzügel in den Mittelzügel ein und bilden eine sog.
Streckhaube, welche die Grundphalanx von 3 Seiten umschließt, und aufgrund der engen
Lagebeziehungen bei Verletzungen, aber auch bei Frakturen, kann es leicht durch narbige
Verklebungen der Gleitschichten zu Funktionseinschränkungen kommen (siehe [Abb. 3]) [8].
Abb. 3 Schematische Darstellung des Streckapparats der Finger in Seitenansicht von radial.
(Nach Buck-Gramcko D. Funktionelle Anatomie. In: Handchirurgie. Band I. Nigst H, Buck-Gramcko
D, Millesi H. Hrsg. Stuttgart/New York: Thieme; 1981). 1 Sehne des M. extensor digitorum;
2 M. interossei; 3 M. lumbricalis; 4 Lig. metacarpale transversum profundum; 5 Lamina
transversa (sagittalis); 6 Lamina intertendinea (Streckhaube); 7 Pars medialis der
Interosseussehne (Seitenzügel); 8 Pars lateralis der Interosseussehne (Seitenzügel);
9 Pars medialis der Extensorsehne; 10 Tractus intermedius (Mittelzügel); 11 Pars lateralis
der Extensorsehne; 12 Lig. retinaculare obliquum; 13 Endsehne der Streckaponeurose
[8].
Die Ausläufer des intrinsischen Systems inserieren an der Basis der Mittel- und der
Endphalanx. Im Gegensatz zu den Beugesehnen, die jeweils nur an einer Stelle am Skelett
ansetzen, ist der Streckapparat eines Strahles, also über verschiedene Ansatzpunkte,
mit jeder der 3 Phalangen eines Fingers verbunden. Daraus resultieren Sehnenabschnitte,
die nicht unter direktem Muskelzug stehen. Im Zusammenhang mit der von distal nach
proximal zunehmenden Gleitamplitude ermöglicht dies ein konservatives Vorgehen bei
gewissen Verletzungen am Endgelenk (Zone 1) und am Mittelgelenk (Zone 3).
Während die Beugesehnen auf alle Gelenke gleichförmig beugend wirken, verhält es sich
bei den Strecksehnen komplizierter, indem dieselbe intrinsische Muskel-Sehnen-Einheit
auf die Grundgelenke beugend und die Mittel- und Endgelenke streckend wirkt. Aufgrund
der geschilderten anatomischen Gegebenheiten führen definierte Verletzungen des Streckapparats
zu definierten Deformitäten, d. h. eine Verletzung am Endgelenk und am distalen Mittelglied
zum sog. Hammerfinger, eine Verletzung des Mittelzügels über dem Mittelgelenk zur
Knopflochdeformation.
Einteilung in Zonen
Die Einteilung der Strecksehnenverletzungen erfolgt nach Lokalisation der Läsion und
wird in 9 Zonen (siehe [Abb. 4]) unterteilt. Hierbei befinden sich die ungeraden Ziffern über den Gelenken, die
geraden dazwischen.
Abb. 4 Zoneneinteilung der Strecksehnen nach Verdan. Man unterscheidet 9 Zonen: Zone 1:
Endgelenk; Zone 2: Mittelglied; Zone 3: Mittelgelenk; Zone 4: Grundglied; Zone 5:
Grundgelenk; Zone 6: Mittelhand; Zone 7: Handgelenk; Zone 8: muskulotendinöser Übergang
und 9: Muskulatur.
Zone 1 und 2 (distales Interphalangealgelenk und mittlere Phalanx)
Wir unterscheiden einen Abriss der Streckaponeurose bzw. eine reine Sehnendurchtrennung
von einem knöchernen Ausriss der Sehne an der Basis der Endphalanx im Sinne einer
dorsalen Endphalanxbasisfraktur. Ursächlich sind i. d. R. Distorsionen beim Sport
oder bei Stürzen, aber auch Bagatellverletzungen im Haushalt wie das häufig zitierte
Verdrehtrauma beim Bettenmachen. Der Finger hängt im Endgelenk meist in einer Beugestellung
von 30° und kann aktiv im Gelenk nicht gestreckt werden (siehe [Abb. 5]).
Abb. 5 Gedeckte Strecksehnenruptur Zone 1 mit Streckdefizit im Endgelenk.
Bei der klinischen Untersuchung ist es wichtig, neben der Funktion der Strecksehne
auch die Stabilität der Kollateralbänder und die der palmaren Platte zu überprüfen.
Radiologisch erfolgt der Frakturausschluss.
Aufgrund der vielfältigen Insertionen des Streckapparats am Skelett kann in der Zone
1 i. d. R. konservativ vorgegangen werden. Das gilt für alle frischen Sehnenrupturen
und für knöcherne Ausrisse der Aponeurose ohne wesentliche Dislokation. Die Ruhigstellung
erfolgt im Allgemeinen in einer Strecksehnenschiene und dauert meist 8 Wochen (siehe
[Abb. 6]). Anschließend wird die Schiene vorsichtig abtrainiert, aber i. d. R. noch 2–4 Wochen
nachts konsequent getragen.
Abb. 6 Stackʼsche-Schiene.
Für knöcherne Sehnenausrisse empfiehlt sich die operative Therapie, wenn das gelenktragende
Basisfragment der Endphalanx mehr als die Hälfte der Gelenkfläche beinhaltet und/oder
mehr als 2 mm disloziert ist, und darüber hinaus in allen Fällen, in denen eine Subluxation
bzw. Luxation vorliegt. Die Osteosynthese kann mit Schrauben oder Bohrdrähten (siehe
[Abb. 10]), aber auch mit transossären Nähten oder einer Hakenplatte erfolgen. Gegebenenfalls
ist auch eine Endgelenksfixation mit Einbringen eines K-Drahtes für zumeist 6 Wochen
erforderlich (siehe [Abb. 7], [8] und [9]). Offene Verletzungen werden ebenfalls operativ versorgt. Die Sehnennaht erfolgt
mit U- oder Z-Nähten der Stärke 4 × 0. Unter Umständen ist eine Endgelenkstransfixation
sinnvoll.
Abb. 7 Veraltete Strecksehnenruptur Zone 1. * Resektion der Sehnennaht.
Abb. 8 a und b Temporäre K-Draht-Transfixation.
Abb. 9 Z-Nähte zur Adaptation der Strecksehne.
Abb. 10 a und b Knöcherner Strecksehnenausriss mit Schraubenosteosynthesen refixiert.
Zone 3 (proximales Interphalangealgelenk)
Strecksehnenverletzungen in der Zone 3 betreffen entweder die ganze Streckhaube oder
nur Teile, wobei häufig nur der Mittelzügel betroffen ist. Anamnestisch handelt es
sich entweder um eine geschlossene Ruptur im Rahmen von Distorsionstraumata oder um
offene Verletzungen durch scharfe Gegenstände. Klinisch kann der Patient das Mittelgelenk
nicht aktiv strecken. Bei einer Teilverletzung kann der Patient das passiv in Streckung
gebrachte Mittelgelenk selbstständig gestreckt halten. In diesen Fällen wird konservativ
vorgegangen (siehe [Abb. 11]). Die Dauer der Schienenruhigstellung beträgt 5–6 Wochen.
Abb. 11 Stack-Mittelgelenksschiene.
Kann der Patient das passiv gestreckte Mittelgelenk jedoch nicht selbstständig in
Streckung halten, ist von einer weiter gehenden Verletzung der Streckhaube auszugehen,
und es besteht die Indikation zur operativen Revision mit Strecksehnennaht und evtl.
temporärer Bohrdrahttransfixation des Mittelgelenks ([Abb. 12]–[18]).
Abb. 12 Knöcherner Ausriss der Streckerhaube über dem Mittelgelenk.
Abb. 13 Blick auf die Streckerhaube des Mittelgelenks.
Abb. 14 Blick ins Mittelgelenk mit knöchernem Ausriss des Mittelzügels an der Basis des Mittelglieds.
Abb. 15 Einbringen eines Knochenankers am proximalen Mittelglied.
Abb. 16 Refixation des Mittelzügels.
Abb. 17 Fortlaufende Naht.
Abb. 18 Temporäre K-Draht-Transfixation.
Gleiches gilt für alle offenen Verletzungen ([Abb. 20]). Hierbei ist aufgrund der engen räumlichen Lagebeziehungen zwischen der Strecksehne
und dem Mittelgelenk immer auch eine Gelenkverletzung in Betracht zu ziehen. Radiologisch
wird nach Frakturen und Fremdkörpern gefahndet (siehe [Abb. 19]).
Abb. 19 a und b Intraartikuläre Fremdkörperinkorporation (Glassplitter) mit nachfolgendem Infekt
und Einsteifung des Mittelgelenks.
Abb. 20 a und b Riss-Quetsch-Wunden über den Mittelgelenken der Finger DII–IV durch eine Stahltür.
Intraoperativ wird das eröffnete Gelenk exploriert und gespült. Die Gelenkkapsel kann
mit einer monofilen 5 × 0-Naht (z. B. PDS) verschlossen werden. Anschließend wird
die Strecksehne mit Nähten der Stärke 4 × 0 genäht. Zur Anwendung kommen U- oder Z-Nähte
und ggf. fortlaufende feinadaptierende Nähte mit Fäden der Stärke 5 × 0 oder 6 × 0.
Ist die Sehne direkt am knöchernen Ansatz durchtrennt, kann sie mit einem Fadenanker
refixiert werden (siehe [Abb. 15], [Abb. 16]). Bei Gelenkbeteiligung ist die Gabe eines Antibiotikums empfehlenswert. Die Ruhigstellungszeit
beträgt wie bei geschlossenen Verletzungen 5–6 Wochen.
Bei Verletzungen der Zone 3 kann es im Verlauf durch ein Abrutschen der Seitenzügel
nach palmar zur sog. Knopflochdeformität kommen.
Zone 4 (Grundglied)
Bei der Verletzung der Streckhaube in der Zone 4 handelt es sich immer um offene Verletzungen.
Da die Streckhaube die Grundphalanx von 3 Seiten umschließt, sind i. d. R. nur Teile
von ihr verletzt. Die Durchtrennung eines Seitenzügels wird frühfunktionell behandelt.
Mittelzügelverletzungen sowie kombinierte Mittel- und Seitenzügeldurchtrennungen werden
mit U- oder Z-Nähten der Stärke 4 × 0 versorgt. Anschließend erfolgte eine Ruhigstellung
für 4–5 Wochen.
Zone 5 (Metacarpophalangealgelenksebene)
Durchtrennungen der Strecksehnen in der Zone 5 treten im Rahmen offener Verletzungen
auf, wobei hier wie in der Zone 3 immer auch Gelenkverletzungen ausgeschlossen werden
müssen ([Abb. 23]–[26]). Eine typische Konstellation besteht in der Inkorporation abgebrochener Schneidezähne
in das Grundgelenk bei Faustschlägen. Das häufige Verkennen dieser Verletzung hat
wohl zu der landläufigen Meinung beigetragen, dass Menschenbisse gefährlicher als
Hundebisse seien.
Abb. 21 Mittelzügelverletzung mit Eröffnung des Mittelgelenks.
Abb. 22 Adaptierende Z-Nähte.
Abb. 23 Schnittführung bei Verletzung über dem Metacarpalgelenk.
Abb. 24 Durchtrennung der Strecksehne.
Abb. 25 Läsion mit Eröffnung des Metacarpalgelenks.
Abb. 26 Anlage von U-Nähten zur Adaptation der Strecksehne.
Je nach Stärke der Strecksehne, werden U- oder Z-Nähte oder modifizierte Nähte nach
Kirchmayr und Kessler mit Kernnaht (4 × 0) und fortlaufender Feinadaptation (5 × 0
oder 6 × 0) angelegt. Die Dauer der Ruhigstellung beträgt 4 Wochen. Die Schiene wird
palmar in sog. Bajonettstellung angelegt, d. h. Unterarm und Finger sind in einer
Handgelenkstreckung von 30° und in einer Grundgelenkbeugung von 30° parallel ausgerichtet.
Darüber hinaus werden in der Zone 5 geschlossene Rupturen der Streckhaube beobachtet,
wobei es sich i. d. R. um Rupturen des radialen Seitenzügels mit Luxation des Mittelzügels
nach ulnar handelt. Die Behandlung ist operativ durch Naht des Seitenzügels (Nähte
der Stärke 5 × 0). Die Dauer der Ruhigstellung beträgt 3 Wochen.
Typische Lokalisation von Verletzungen durch Faustschläge gegen die Schneidezähne
des Gegners.
Zone 6 und 7 (Mittelhand- bis Handgelenk)
In dieser Zone haben wir es wiederum mit offenen und geschlossenen Verletzungen zu
tun. Die Behandlung ist operativ.
Frische traumatische Durchtrennungen der Strecksehnen werden aufgrund des ovalen Querschnitts
i. d. R. in der gleichen Technik wie Beugesehnen genäht. Bewährt hat sich die modifizierte
Naht nach Kirchmayr und Kessler mit einer Kernnaht (4 × 0) und fortlaufender Adaptationsnaht
(5 × 0 oder 6 × 0). Die Dauer der Ruhigstellung beträgt 3–4 Wochen. Eine dynamische
Behandlung ist möglich. In der Zone 7 ist bei der Rekonstruktion des Retinaculum externum
darauf zu achten, dass das Gleiten der genähten Sehnen nicht behindert wird. Evtl.
ist eine Erweiterungsplastik sinnvoll.
Geschlossene Rupturen der Strecksehnen in der Zone 6 und 7 werden häufig bei Rheumatikern
als Folge von Tendosynovitiden beobachtet. Direkte Sehnennähte sind i. d. R. nicht
möglich. Ob die Rekonstruktion durch Brückentransplantate, Umlagerungen oder die Koppelung
eines direkten Sehnenstumpfs an eine intakte Nachbarsehne zur Anwendung kommt, muss
im Einzelfall entschieden werden.
Eine typische Entität in der Zone 7 stellt die Ruptur der langen Daumensehne dar.
Sie tritt typischerweise bei nicht oder wenig dislozierten, konservativ behandelten
distalen Radiusfrakturen aufgrund der Umbauvorgänge nach Einblutung in das 3. Strecksehnenfach
auf. Darüber hinaus kann es auch implantatassoziiert iatrogen zu Rupturen der EPL-Sehnen
kommen. Eine direkte Sehnennaht ist nicht möglich. Die Rekonstruktion erfolgt nach
Umlagerung der Extensor-indicis-proprius-Sehne (Indicistransfer) in Durchflechtungsnaht-
und Pulvertaft-Technik, wobei intraoperativ auf eine geeignete Vorspannung zu achten
ist. Bei gebeugtem Handgelenk sollte das Daumenendgelenk gestreckt sein, bei gestrecktem
Handgelenk gebeugt. Die Dauer der Ruhigstellung beträgt 3 Wochen.
Zone 8 (muskolotendinöser Übergang am Unterarm) und Zone 9 (muskulärer Anteil am Unterarm)
Verletzungen der Strecksehnen am muskolotendinösen Übergang oder Verletzungen der
Muskulatur treten im Rahmen offener Verletzungen auf. Immer wieder sind erhebliche
Gewebszerstörungen anzutreffen, sodass die Versorgung mit Nähten tendenziell schwierig
ist. Im muskolotendinösen Übergang kommen U- oder Z-Nähte zur Anwendung, weiter proximal
sind i. d. R. nur Fasziennähte möglich. Die Dauer der Ruhigstellung beträgt 2–3 Wochen.
Narbige Verklebungen und Nahtinsuffizienzen führen häufig zu einem unbefriedigenden
Ergebnis, sodass im Einzelfall im Verlauf durchaus an motorische Ersatzoperationen
gedacht werden muss.