Z Sex Forsch 2015; 28(04): 363-373
DOI: 10.1055/s-0041-109281
Dokumentation
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diagnoseleitlinien sexueller Störungen in der International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD)-11 – Dokumentation des Revisionsprozesses

Verena Klein
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Franziska Brunner
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Timo O. Nieder
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Geoffrey Reed
b   Abt. für psychische Gesundheit, Weltgesundheitsorganisation (WHO)
,
Peer Briken
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
› Author Affiliations
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Publication History

Publication Date:
07 January 2016 (online)

Die International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD), herausgegeben von der World Health Organisation (WHO; Weltgesundheitsorganisation), ist in ihrer 10. Version in der klinischen Praxis in Deutschland das gängige Diagnosemanual für die Klassifizierung von Erkrankungen und psychischen Störungen. Derzeit revidiert die WHO Teile des von ihr herausgegebenen Diagnosemanuals. Dieser Beitrag gibt eine kurze Übersicht über die Vorgehensweise und die Ziele des Revisionsprozesses.[1] Ein eigener Abschnitt erörtert im Detail die Veränderungen und vorgeschlagenen Diagnoseleitlinien der sexuellen Störungen.

Alle 194 Mitgliedstaaten der WHO nutzen die ICD als Instrument für die Erhebung und Übermittlung gesundheitlicher Informationen.

Die ICD soll u. a. den folgenden Anliegen dienen:

  • der Überwachung von Epidemien bzw. Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit und der Krankheitslast,

  • der Identifizierung vulnerabler Risikopopulationen,

  • der Erleichterung für den Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung,

  • der Erforschung wirksamer Behandlungsmaßnahmen,

  • der Grundlage für die Entwicklung von Leitlinien für die Pflege sowie Standards für die klinische Praxis,

  • der Formulierung von Verpflichtungen für Mitgliedstaaten der WHO, um kostenlose oder subventionierte Gesundheitsversorgung für ihre Bevölkerung anzubieten.

Der ICD-Revisionsprozess folgt formulierten Leitlinien der WHO (WHO 2012). Dabei ist das höchste Ziel, die WHO Mitgliedstaaten darin zu unterstützen, die Krankheitslast zu reduzieren. Der Fokus soll auf dem klinischen Nutzen liegen, um Identifizierungs- und Behandlungsoptionen zu vereinfachen. Der Revisionsprozess ist gekennzeichnet durch eine multidisziplinäre, globale und mehrsprachige Entwicklung in kontinuierlichem Austausch zwischen beteiligten InteressenvertreterInnen. Um eine Integrität des Systems zu erreichen, muss die Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie oder anderen kommerziellen Einflussnahmen gewährleistet sein. Hierzu werden von der WHO ExpertInnen einberufen, die in Arbeitsgruppen[2] Vorschläge und Änderungen der Diagnosedefinitionen für die entsprechenden Störungsbilder erarbeiten.

Die Arbeitsgruppe für Sexual Disorders and Sexuality-Related Conditions beteiligte sich schon früh am Revisionsprozess. Für die Arbeitsgruppe wurde im Hinblick auf die Verknüpfung der Themenbereiche sexuelle Gesundheit, sexuelle Funktion und Geschlechtsidentität eine interdisziplinäre Kooperation mit den WHO-Abteilungen Department of Mental Health and Substance Abuse und Department of Reproductive Health and Research etabliert. Die zuständige Projektgruppe arbeitet mit den Sekretariaten beider Einrichtungen zusammen. Das Department of Reproductive Health and Research vertritt eine breite Auffassung von sexueller Gesundheit und Menschenrechten. In der Konsequenz betrifft der Revisionsprozess der diagnostischen Leitlinien nicht nur den psychiatrischen Arbeitsbereich, sondern die Ergebnisse des laufenden Prozesses werden auch an die ICD-11 Beratungsgruppe für Psychische Gesundheit, Andrologie, Urologie/ Gynäkologie sowie reproduktive Medizin weiter gegeben. Als vorläufig verantwortete Bereiche der Arbeitsgruppe wurden festgelegt: sexuelle Dysfunktionen der Frau und des Mannes, die nicht auf organische Erkrankungen zurückgeführt werden können, die bisher so genannte Transsexualität, paraphile Störungen sowie psychische und Verhaltensstörungen, die im Zusammenhang mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung stehen (WHO 2012).