Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-0041-109303
Walter Friedrich (5. Oktober 1929 – 12. September 2015)
Publication History
Publication Date:
07 January 2016 (online)
![](https://www.thieme-connect.de/media/sexualforschung/201504/lookinside/thumbnails/zsexf-002_10-1055-s-0041-109303-1.jpg)
Aus kleinsten Verhältnissen im preußischen Schlesien stammend und dem Krieg gerade so entronnen, fand Walter Friedrich Zuflucht im Sächsischen, auf dem Lande, als Pferdeknecht beim Großbauern. Sein großer Traum war es, Lehrer zu werden – und er wurde es. Mit 18 bewarb er sich als so genannter Neulehrer beim Kreisschulamt in Grimma/Sachsen und wurde angenommen. Während der Lehrerweiterbildungskurse entdeckte er sein Interesse für Psychologie, und der Gedanke an ein Studium kam auf. Dafür war freilich das Abitur erforderlich, und dieses legte er nach einem dreijährigen Studium an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) in Leipzig ab. Von 1952 bis 1956 studierte er in der Wundtstraße in Leipzig Psychologie. Nach einem vorzeitigen Abschluss und dem beruflichen Einsatz in verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen absolvierte er ein Zusatzstudium in Moskau bei solchen namhaften Psychologen wie Leontjew, Ananjew, Lurija, dem Pawlow-Schüler Anochin, Galperin und dem Soziologen Mansurow, der bis zu dessen Lebensende sein Freund blieb. Hier reifte in ihm die Idee von einer multidisziplinären, anthropologischen Betrachtungsweise der menschlichen Existenz und Entwicklung. An einem interdisziplinären Institut zu arbeiten und soziale Forschungsgegenstände komplex zu analysieren, wurde zu seinem Lebensideal. Zurückgekehrt ans Psychologische Institut der Universität Leipzig, organisierte er 1963 mit Studenten eine umfangreiche Befragung von über 2500 älteren Schülern, die erste empirische Untersuchung unter Jugendlichen in der DDR. Ausgestattet mit den Erfahrungen dieser Forschung vereinbarte er in rein privaten Absprachen eine Vergleichsuntersuchung unter Schülern der 9. und 10. Klassen in Bulgarien, Ungarn, Polen, Jugoslawien, der Sowjetunion, der Tschechoslowakischen Republik und Finnland. 1966 fanden sich die Kooperationspartner im Leipziger Hotel „Astoria“ zu einer Konferenz zusammen, auf der sie die Ergebnisse der internationalen Vergleichsuntersuchung präsentierten. Walter Friedrich hatte inzwischen promoviert und eine Habilitation vorgelegt, die 1966 unter dem Titel „Jugend heute“ publiziert wurde und zur ersten wissenschaftlichen Grundlage des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig (ZIJ) wurde. Dieses staatliche Institut, das dem Amt für Jugendfragen beim Ministerrat unterstellt war, nahm am 1. September 1966 seine Arbeit auf. Walter Friedrich, der die Gründung mit großer Energie vorangetrieben hatte, wurde sein Direktor. Er blieb der einzige Direktor, bis zum bitteren Ende 1990, als das Institut, das zu DDR-Zeiten viele Stürme überlebt hatte, abrupt geschlossen wurde. Walter Friedrich hat die Liquidierung seines Instituts, seines Lebensinhalts, nie verwunden, zumal er nicht die geringste Chance erhielt, sich angemessen in die neue Zeit einzubringen. Das hat er gewollt, und das hätte er gekonnt. Seine Art zu forschen und sein Institut hätten dem vereinten Deutschland gut getan. So blieb es bei einzelnen Arbeiten, so ein Buch über das ZIJ, eins über Wilhelm Wundt und dessen Institut, eins über die Ursachen des Rechtsextremismus im Osten.
In „Jugend heute“ sind Abschnitte über die „Geschlechterposition“, Fragestellungen zur Familie und eine Frage zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf enthalten (80 % der befragten weiblichen Jugendlichen bekundeten 1964, weder nach der Eheschließung noch nach dem ersten Kind die berufliche Arbeit aufgeben zu wollen). Sexualität fehlte. Das junge Institutskollektiv (1968 war das Durchschnittsalter 33,4 Jahre), das Walter Friedrich in kurzer Zeit zusammenschweißte und in dem Vertreter der verschiedensten Fachdisziplinen – vom Philosophen über den Pädagogen, Mediziner, Biologen Soziologen, Journalisten, Juristen, Ökonomen, Kulturwissenschaftler bis zum Statistiker und natürlich den Psychologen – zu finden waren, erkannte bald, dass Jugend ohne das Thema Partnerschaft und Sexualität nicht zu erforschen war. Nach und nach sickerten einzelne Fragestellungen in verschiedene Untersuchungen ein, vor allem in die großen „Intervallstudien“ (Längsschnittstudien), der Zierde des Instituts. 1972 kam es dann zur ersten Partnerstudie unter 2741 16- bis 25-Jährigen (nebst einigen zusätzlichen Teilstudien, so eine über sexuelle Gewalt). 1980 folgte die zweite Partnerstudie unter 5469 16- bis 30-Jährigen nebst einigen angelagerten Studien, 1990 schließlich die dritte Partnerstudie unter 3103 16- bis 44-Jährigen nebst einer Paralleluntersuchung in der Sowjetunion und an der Universität Bielefeld sowie einer Befragung von Homosexuellen. Dem Friedrich-Schüler Konrad Weller war es vorbehalten, im Rahmen des Masterstudienganges Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg 2013 die vierte Partnerstudie hinzuzufügen.
Mit großer Energie arbeitete sich Walter Friedrich in die Sexualforschung ein, er entwickelte sogar einen Orgasmustest, den er unter Pseudonym in einer medizinischen Fachzeitschrift vorstellte. Nach der zweiten Partnerstudie entstand das Buch „Liebe und Sexualität bis 30“. Es erreichte in mehreren Auflagen fast 400 000 verkaufte Exemplare und wurde nach den Büchern von Siegfried Schnabl (der – wie auch die einschlägigen DDR-Experten Lykke Aresin, Kurt Bach und Heinz Grassel neben den ZIJ-Autoren – an unserem Buch mitgearbeitet hat) zu einem Bestseller der DDR. Das war verwunderlich, denn das Buch war in keinem genehmigten Plan enthalten, und wir unterlagen sowieso einem strengen und völlig sinnlosen Verbot der Publikation unserer Daten. Aber Walter Friedrich fand im Verein mit mutigen Verlagsleitern und Lektoren immer wieder Mittel und Wege, er nahm einfach alles auf seine Kappe und scheute schlimmste Sanktionen nicht. Schließlich waren es 71 ZIJ-Bücher, so auch „Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozess“, die Methodenbibel der DDR, unzählige Zeitschriftenbeiträge und viele „graue“ Publikationen, die dank Walter Friedrich die nationale und auch die internationale Öffentlichkeit erreichten. „Liebe und Sexualität bis 30“ wurde ins Russische übersetzt und von Igor Semjonowitsch Kon, dem Soziologiepionier und führenden Sexualwissenschaftler der Sowjetunion in Moskau, herausgebracht und mit einem Vorwort versehen. Die gleichaltrigen Kon und Friedrich kannten sich nicht nur aus der Literatur, sondern auch persönlich. Kon hatte eine „Einführung in die Sexuologie“ verfasst, die in Moskau jahrelang auf Eis lag. Walter Friedrich veranlasste – dies war ganz typisch für ihn – die Übersetzung dieses Standardwerks an unserem Institut und erreichte eine Veröffentlichung in Berlin (und mit Unterstützung von Gunter Schmidt auch in Köln). Kurz darauf erschien es auch in Moskau, das Eis war gebrochen.
Unser Buch „Liebe und Sexualität bis 30“ wurde gelegentlich als der Kinsey-Report der DDR bezeichnet. Walter Friedrich verzog das Gesicht, wenn er das hörte. Er schätzte zwar Alfred C. Kinsey über alle Maßen und widmet ihm im Buch ein ganzes Kapitel. „Aber Kinseys Forschungsergebnisse haben für uns selbstverständlich nur noch historischen Wert. Sie widerspiegeln das sexuelle Verhalten erwachsener USA-Bürger der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts (Farbige ausgenommen). Diese Ergebnisse können nicht auf Menschen in anderen Ländern oder anderen Zeiten übertragen und zu generell gültigen Gesetzen verallgemeinert werden. Kinsey hat nicht das typisch menschliche Sexualverhalten entdeckt, obwohl er es zu finden hoffte. Das Sexualverhalten der Gattung Mensch existiert nicht in einer typischen Form, sondern variiert enorm in Abhängigkeit von der konkreten gesellschaftlichen Existenz des Menschen“ (aus: „Liebe und Sexualität bis 30“, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1984; 40). Weitere Grenzen sah er in „(zeitbedingten) methodischen Mängeln“ und „im Fehlen einer gesellschaftswissenschaftlichen bzw. soziologischen Theorie“; „Größe und Grenzen der Leistung Kinseys können nicht voneinander getrennt werden“ (a. a. O.).
Ähnlich historisch-kritisch sah Walter Friedrich den von ihm hochverehrten Sigmund Freud. Mehrfach versuchte er, Freuds Theorien in die empirischen Untersuchungen des Instituts einzubringen, es ging alles schief. Vieles, was Freud herausgefunden hatte und was oft als allgemeingültig betrachtet wird, so seine Sublimierungstheorie, ließ sich mit unseren Befunden nicht bestätigen. Die DDR-Jugend war einfach massenhaft nicht so, wie sie nach Freud hätte sein sollen.
Walter Friedrich betrachtete die Partner- und Sexualforschung am Institut stets als einen Bestandteil der Gesamtforschung. Sie war kein isoliertes Segment, sondern lebte von und mit den anderen Forschungssträngen des Instituts, wie der Familienforschung, der Geschlechterforschung, der Freizeit-, Kultur- und Medienforschung, der Studentenforschung, der Forschung zu Jugend und Arbeit, der Intelligenzforschung, der Weltanschauungsforschung, der Kriminalitätsforschung, und ein bisschen auch der Zwillingsforschung, dem späten Hobby des Direktors. Sie zehrte von der effektiven Arbeitsteilung am Institut: von den Abteilungen für Forschungsorganisation, für Methodik, für Datenverarbeitung, für Information und Dokumentation. Kein Wissenschaftler musste oder konnte angesichts der riesigen Projekte alles laienhaft allein machen, sondern arbeitete mit den jeweiligen Profis des Institut zusammen, und er war zugleich – darauf legte der Direktor großen Wert – in nationale und internationale Kooperationen eingebunden. Es gelang Walter Friedrich sogar, eigentlich untersagte deutsch-deutsche Kontakte zu knüpfen und zu unterhalten. Er verlangte, die einschlägige Welt- und Westliteratur zur Kenntnis zu nehmen und wenn möglich persönlichen Kontakt herzustellen. Oft führte das dazu, dass uns aufgeschlossene Jugendforscher wie Klaus Hurrelmann und im Falle der Partner- und Sexualforschung führende Sexualwissenschaftler der alten BRD, wie Volkmar Sigusch und Gunter Schmidt, großzügig mit Literatur versorgten, und manche, wie Gunter Schmidt und Günter Amendt, auch das Institut besuchten und vor den Mitarbeitern sprachen. Es war kein Zufall, dass 1988 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift für Sexualforschung ein Vergleich Leipziger und Hamburger Befunde zum Sexualverhalten erschien, denn Walter Friedrich hatte dies gefördert und den in abenteuerlicher Weise erfolgten Originaldatenaustausch gedeckt. Mit Gunter Schmidt wurde in Leipzig auch eine gemeinsame Untersuchung zur Jugendsexualität in Ost und West ins Auge gefasst, und dank der Großzügigkeit, der Weitsicht und des Mutes der beiden Direktoren – Eberhard Schorsch von der Hamburger Abteilung für Sexualforschung und Walter Friedrich vom Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung – kam diese deutsch-deutsche Untersuchung auch zustande, noch vor der deutschen Einheit.
In diese Zeit, in die Endzeit der DDR, fielen rege politische und forscherische Aktivitäten von Walter Friedrich. Er ging zu den Montagsgebeten in die Leipziger Nikolaikirche, schrieb ernste und überaus kritische Papiere über die Einstellung der Jugend zur politischen Machtausübung und machte sich Gedanken über das Institutsleben danach. Er leistete am 9. Oktober 1989 durch seine Intervention an höchster Stelle in Berlin seinen eigenen, einen nicht unbedeutenden Beitrag dazu, dass die Leipziger Montagsdemo der Zehntausenden nicht in einem Blutbad endete. 1989/1990 wurden vom ZIJ neun DDR-repräsentative Meinungsumfragen durchgeführt. Ein eigenes Interviewernetz für solche DDR-weiten Untersuchungen wurde kurzfristig aufgebaut. Zusätzlich wurden bei drei Leipziger Montagsdemonstrationen Befragungen organisiert. 1990 wurden 20 spezielle Jugendstudien durchgeführt, davon sechs mit westdeutschen Partnern. Walter Friedrich und sein Institut arbeiteten bis zuletzt auf Hochtouren.
Die große Lebensleistung von Walter Friedrich besteht in der Institutionalisierung einer modernen, komplexen und interdisziplinären Jugendforschung als empirische Sozialforschung, die theoretisch fundiert und theoretisch fruchtbar war, die von einer effektiven Organisation getragen war und nationale und internationale Kooperation einschloss, die methodisch auf hohem Niveau stand und die in die Tiefen der Gesellschaft vordrang. Walter Friedrich wollte wissen, was ist und was warum und wie sich entwickelt und was getan werden könnte, dass die Gesellschaft und das Leben in ihr besser wird. Insofern war er, bei allen gelegentlich Anfällen von Skeptizismus und katastrophistischen Weissagungen, ein unverbesserlicher Optimist und Utopist. Dadurch konnte er seine Mitarbeiter in unnachahmlicher Weise motivieren und regelrecht begeistern, eine differenzierte Forschergemeinschaft zu Höchstleistungen bringen und den legendären „ZIJ-Geist“ des von Leistung und Sozialität getragenen Miteinander lebendig halten. Diese Kollektivität, Kollegialität und Freundschaftlichkeit des ZIJ reicht bis ins Heute.
Walter Friedrichs Lebenswerk ist gut dokumentiert. Von den über 450 größeren Untersuchungen seines Institut sind die Hälfte im Kölner Zentralarchiv für empirische Sozialforschung einzusehen, alle Forschungsberichte, vor allem auch die vertraulichen, sind in den Archiven zu finden, Dutzende von Dissertationen und Habilitationen, die am Institut oder extern durch das Institut entstanden und von Walter Friedrich betreut wurden, liegen vor. Die von ihm ausgebildeten und von der Arbeit am ZIJ geprägten Wissenschaftler haben in seinem Sinne auch nach dem Ende des Instituts erfolgreich weitergearbeitet. Das trifft auch auf die Partner- und Sexualforschung zu.
Walter Friedrich war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, ein leidenschaftlicher Forscher, ein Wissenschaftler, der das Buch und alles Schriftliche, das wissenschaftlich Dingfeste liebte, ein zupackender, unerhört fleißiger, schneller und selbstdisziplinierter Arbeiter, ein in finanziellen und materiellen Dingen bescheidener und manchmal anstrengend sparsamer Direktor mit niedrigem Gehalt, ein konsequenter, an jedem Mitarbeiter interessierter Leiter mit einem legendären Kaderoptimismus, ein Chef mit der Fähigkeit, die Stärken des anderen zu erkennen und neidlos zu entwickeln, einer, der lieber lobte als tadelte, ein hochrationaler und zugleich hochemotionaler Akteur, ein Familienvater zu Hause und im Institut, einer, der die Grenzen zwischen dem Beruflichen und dem Privaten verwischte, ein zuverlässiger Freund in allen Lebenslagen, ein sozialer Mensch von invariant solidarischer Mentalität, ein politisch bewusster Staatsbürger, der in großen historischen Bögen und weiträumig zu denken vermochte und zugleich die aktuelle Nähe suchte.
Sein Freundeskreis war riesig, die Schar derjenigen, die ihm, ihrem Lehrer, Förderer, „Chef“ und Freund viel zu verdanken haben und die nun um ihn trauern, ist groß, ich gehöre dazu.